Physikalische Chemie. Peter W. AtkinsЧитать онлайн книгу.
4.6 (a) Die flüssige Phase befindet sich im Gleichgewicht mit der Gasphase. (b) Die Flüssigkeit wird in einem geschlossenen Behälter erhitzt. Dabei nimmt die Dichte des Dampfes zu, die der Flüssigkeit nimmt etwas ab. (c) Schließlich ist ein Zustand erreicht, an dem beide Dichten gleich sind und die Phasengrenzfläche verschwindet; diesen Effekt beobachtet man bei der kritischen Temperatur.
Wird die Flüssigkeit in einem geschlossenen Gefäß erhitzt, siedet die Flüssigkeit nicht. Stattdessen nehmen der Dampfdruck und die Dichte des Dampfs mit steigender Temperatur kontinuierlich zu (Abb. 4.6). Gleichzeitig dehnt sich die Flüssigkeit aus, wodurch ihre Dichte geringfügig abnimmt. Bei einer bestimmten Temperatur ist die Dichte des Dampfs gleich der Dichte der flüssigen Phase und die Phasengrenzfläche verschwindet. Diese Temperatur nennt man kritische Temperatur Tkrit (wir sind ihr in Abschn. 1.3.1 bereits begegnet). Der entsprechende Dampfdruck ist der kritische Druck pkrit. Bei und oberhalb dieser Temperatur wird das Gefäß von einer einzigen, homogenen Phase ausgefüllt, dem überkritischen Fluid; es existieren keine Grenzflächen mehr. Oberhalb seiner kritischen Temperatur besitzt folglich kein Stoff eine flüssige Phase.
Schmelztemperatur nennt man die Temperatur, bei der sich die flüssige und eine feste Phase eines Stoffs im Gleichgewicht befinden. Dies ist gleichzeitig die Erstarrungstemperatur des Stoffs, da Schmelz‐ und Erstarrungsvorgang bei derselben Temperatur ablaufen. Analog zur Siedetemperatur führt man auch hier einen Standardschmelzpunkt TSm für einen Druck von 0,1 MPa (1 bar) ein (entsprechend ist der Normalschmelzpunkt bei 1 atm definiert; die Unterschiede beider Werte sind für praktische Zwecke meist vernachlässigbar). Die Begriffe Schmelz‐ und Erstarrungs‐ oder Gefrierpunkt werden synonym verwendet.
Bei bestimmten Werten der Zustandsvariablen können drei Phasen (meist fester, flüssiger und gasförmiger Aggregatzustand) eines Stoffs koexistieren. In diesem Tripelpunkt schneiden sich drei Phasengrenzlinien; die zugehörige Temperatur bezeichnen wir mit T3. Die Lage des Tripelpunkts ist nicht beeinflussbar; für jeden Stoff existiert ein einziges charakteristisches Wertepaar (Druck, Temperatur).
Wie man in Abb. 4.4 erkennt, liegt der Tripelpunkt beim kleinsten Druck, bei dem noch eine flüssige Phase existiert. Wenn die Steigung der Phasengrenzlinie fest/flüssig ähnlich wie in diesem Diagramm verläuft (dies ist der Normalfall), besitzt am Tripelpunkt auch die Temperatur den kleinsten Wert, bei dem noch eine flüssige Phase beobachtet werden kann; die obere Grenze hierfür ist die kritische Temperatur.
Illustration 4.4
Der Tripelpunkt von Wasser liegt bei 273,16 K und 611 Pa (6,11 mbar, 4,58 Torr); an keinem anderen Punkt können die drei Phasen Eis, flüssiges Wasser und Wasserdampf im Gleichgewicht koexistieren. Diese Invarianz des Tripelpunkts nutzte man bis 2019 zur Definition der thermodynamischen Temperaturskala (Kelvin‐Skala; siehe Abschn. 3.1).
(b) Die Phasenregel
Die Herleitung der Phasenregel durch J.W. Gibbs ist eine der elegantesten Beweisführungen der chemischen Thermodynamik (siehe Herleitung 4.1). Sie gibt an, wie viele Parameter des Systems variiert werden können, ohne dass sich die Zahl und die Art der im Gleichgewicht koexistierenden Phasen ändert. Die Regel beschreibt einen allgemeinen Zusammenhang zwischen der Varianz F, der Anzahl der Komponenten C und der Anzahl der Phasen P für Systeme beliebiger Zusammensetzung. Jede dieser Größen hat eine exakt definierte Bedeutung:
Die Varianz F gibt die Anzahl der Freiheitsgrade eines Systems an; diese ergibt sich aus der Anzahl intensiver Größen, die unabhängig voneinander variiert werden können, ohne dass sich die Anzahl der Phasen im Gleichgewicht P dadurch ändert.
Jede chemische Spezies, die im System enthalten ist, nennt man Konstituent.
Als Komponente des Systems bezeichnet man die chemisch unabhängigen Konstituenten eines Systems (siehe Illustration 4.5).
Die Anzahl der Komponenten C eines Systems ist die minimale Anzahl unabhängiger Spezies (Ionen oder Moleküle), die zur Definition der Zusammensetzung aller Phasen des Systems notwendig ist.
Illustration 4.5
Eine Mischung aus Ethanol und Wasser besteht aus zwei Konstituenten. Eine wässrige Lösung von Natriumchlorid besteht aus drei Konstituenten: Wasser, Na+‐Ionen und Cl–‐Ionen; allerdings besteht die Lösung nur aus zwei Komponenten, denn die Anzahl der Na+‐Ionen und der Cl–‐Ionen ist aufgrund der Notwendigkeit für Ladungsneutralität stets identisch. Die Ionen sind daher nicht chemisch unabhängig.
Die Beziehung zwischen diesen Größen nennt man die Phasenregel; sie berücksichtigt die notwendigen Bedingungen, damit sich zwischen den Phasen ein Gleichgewicht einstellen kann, und zwar in Abhängigkeit von den chemischen Potenzialen aller in einem System enthaltenen Konstituenten.
Herleitung 4.1: Die Phasenregel
Die Herleitung der Phasenregel kann am einfachsten verstanden werden, wenn wir uns zunächst auf die Betrachtung eines Systems beschränken, das nur eine einzelne Komponente enthält. Anschließend verallgemeinern wir die Betrachtung, indem wir das Ergebnis auf Systeme anwenden, die aus einer beliebigen Anzahl von Komponenten bestehen.
Schritt 1 Aufstellen der Phasenregel für ein Einkomponentensystem.
Wenn nur eine einzige Phase vorliegt, ist F = 2, und p und T können unabhängig voneinander variiert werden (zumindest über einen kleinen Bereich), ohne dass sich die Zahl der Phasen ändert. Für zwei Phasen α und β im Gleichgewicht ist P = 2. Wenn diese beiden Phasen bei gegebenen Werten von Druck und Temperatur im Gleichgewicht vorliegen, dann müssen ihre chemischen Potenziale identisch sein:
Diese Beziehung gibt einen Zusammenhang zwischen p und T wieder: wenn sich beispielsweise der Druck ändert, sind die Änderungen der chemischen Potenziale unterschiedlich; damit sie wieder identisch sind, muss sich auch die Temperatur ändern. Das bedeutet: Um das Gleichgewicht zwischen beiden Phasen aufrecht zu erhalten, kann nur eine der beiden Variablen unabhängig variiert werden, also ist F = 1.
Wenn drei Phasen eines Einkomponentensystems im Gleichgewicht vorliegen, müssen die chemischen Potenziale aller drei Phasen (α, β und γ) identisch sein:
In dieser Zeile stecken tatsächlich zwei Gleichungen, μ(α; p, T) = μ(β; p, T) und μ(β; p, T) = μ(γ; p, T), mit zwei Unbekannten: dem Druck und der Temperatur. Nur ein einziges Wertepaar (p, T) erfüllt daher dieses Gleichungssystem (ebenso wie das Gleichungssystem x + y = xy und 3x − y = xy als einzige Lösung das Wertepaar (x = 2, y = 2) besitzt.) Da dieses Wertepaar festgelegt ist, können wir schließen, dass keine Möglichkeit zur freien Variation der Variablen besteht; dies steht im Einklang mit F = 0.
Vier