Das Tal der Angst. Sir Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
haben noch ein bisschen Zeit«, antwortete der Inspektor mit einem Blick auf die Uhr. »Draußen wartet eine Droschke, und bis Victoria Station brauchen wir keine zwanzig Minuten. Aber noch mal zu diesem Bild – ich glaube, Sie sagten mal, Sie seien Professor Moriarty nie persönlich begegnet?«
»Nein, nie.«
»Woher wissen Sie dann, wie es in seiner Wohnung aussieht?«
»Ah, das ist etwas anderes. Ich war schon dreimal in seiner Wohnung. Zweimal habe ich unter verschiedenen Vorwänden dort auf ihn gewartet und bin gegangen, bevor er zurückkam. Das dritte Mal – nun, das dürfte ich einem Kriminalbeamten im Dienst eigentlich nicht erzählen. Bei diesem Besuch habe ich mir nämlich die Freiheit genommen, seine Papiere zu überfliegen, mit einem unerwarteten Ergebnis.«
»Haben Sie etwas Kompromittierendes gefunden?«
»Nicht das Geringste. Das war ja gerade das Unerwartete. Aber Sie sehen jetzt die Bedeutung dieses Gemäldes. Es zeigt, dass er ein sehr, sehr reicher Mann ist. Wie ist er zu diesem Reichtum gekommen? Er ist nicht verheiratet. Sein jüngerer Bruder arbeitet als Bahnhofsvorsteher in Westengland. Seine Professur bringt ihm siebenhundert Pfund im Jahr. Aber er besitzt einen Greuze.«
»Und?«
»Die Schlussfolgerung dürfte klar sein.«
»Sie denken also, dass er über eine sprudelnde Geldquelle verfügt und dass diese Quelle illegal ist?«
»Genau das. Natürlich habe ich noch mehr Gründe für diesen Verdacht – Dutzende feinster Fäden, die kaum sichtbar zum Mittelpunkt eines Netzes führen, wo reglos eine giftige Kreatur lauert. Ich habe den Greuze nur erwähnt, weil Sie das Bild mit eigenen Augen gesehen haben. Damit ist die Sache in den Bereich Ihrer Beobachtung gelangt.«
»Also, Mr Holmes, ich muss zugeben, das ist alles sehr interessant. Mehr als interessant – geradezu spannend. Aber können Sie nicht ein bisschen konkreter werden? Denken Sie an Fälscherei, Falschmünzerei oder Einbruchsdiebstähle? Woher kommt das Geld?«
»Haben Sie jemals etwas über Jonathan Wild gelesen?«
»Hm … der Name kommt mir bekannt vor. Eine Figur in einem Roman, nicht wahr? Aber ich halte nicht viel von Romandetektiven. Diese Burschen haben immer Erfolg, ohne dass gesagt wird, wie und warum. Alles nur Erfindung, das hat mit unserer Arbeit nix zu tun.«
»Jonathan Wild war kein Detektiv, und auch keine Romanfigur. Er war ein Meisterverbrecher, der im achtzehnten Jahrhundert gelebt hat, um 1750 herum.«
»Das bringt mir keinen Nutzen. Ich bin ein Mann der Praxis.«
»Aber Mr Mac! Das Beste, was Sie für Ihre Praxis tun können, ist, sich drei Monate in Ihren vier Wänden einzuschließen und jeden Tag zwölf Stunden Kriminalhistorie zu studieren. Alles wiederholt sich in der Geschichte, selbst ein Professor Moriarty. Jonathan Wild war der geheime Kopf der Londoner Verbrecherwelt; er hat ihr seine Intelligenz und sein Organisationstalent zu Verfügung gestellt, gegen eine Beteiligung von fünfzehn Prozent. Das Rad dreht sich weiter, und dieselbe Speiche kommt nun wieder zum Vorschein. Alles ist schon einmal da gewesen, und es wird wieder geschehen. Ich werde Ihnen ein paar Dinge über Moriarty erzählen, die Sie vielleicht interessieren.«
»Und ob mich das interessiert!«
»Ich weiß zufällig, wer das erste Glied in der Kette ist – einer Kette mit diesem fehlgeleiteten Napoleon am einen Ende und hundert asozialen Schlägern, Taschendieben, Erpressern, Falschspielern am anderen, mit jeder erdenklichen Sorte von Verbrechern dazwischen. Sein Stabschef ist Colonel Sebastian Moran, der ebenso reserviert und unauffällig und durch das Gesetz genauso wenig angreifbar ist wie Moriarty selbst. Was glauben Sie, was er ihm bezahlt?«
»Lassen Sie hören.«
»Sechstausend im Jahr. Gute Köpfe werden gut bezahlt – das amerikanische Geschäftsprinzip. Ich habe dieses Detail eher zufällig erfahren. Das ist mehr als der Premierminister bekommt. Es mag Ihnen einen Begriff davon geben, welche Einkünfte Moriarty bezieht und in welchem Maßstab er arbeitet. Und noch etwas. Kürzlich habe ich mir die Mühe gemacht, ein paar von Moriartys Schecks zu verfolgen – ganz gewöhnliche, harmlose Schecks, mit denen er seine Haushaltsrechnungen begleicht. Sie waren auf sechs verschiedene Banken ausgestellt. Wie finden Sie das?«
»Das ist allerdings auffällig. Aber was schließen Sie daraus?«
»Er will nicht, dass sein Reichtum bekannt wird. Niemand soll wissen, wie viel er besitzt. Ich gehe davon aus, dass er vielleicht zwanzig Bankkonten hat und dass der größte Teil seines Vermögens bei ausländischen Banken deponiert ist – vermutlich bei der Deutschen Bank oder beim Crédit Lyonnais. Sollten Sie einmal viel Zeit haben, ein Jahr oder zwei, dann empfehle ich Ihnen, sich mit Professor Moriarty zu beschäftigen.«
Inspektor MacDonald zeigte sich im Laufe dieses Gesprächs zunehmend fasziniert und sichtlich beeindruckt. Doch sein praktischer schottischer Verstand führte ihn rasch wieder zurück zu seinem aktuellen Fall.
»Das muss warten«, sagte er. »Sie haben uns mit diesen hochinteressanten Anekdoten auf ein Nebengleis gebracht, Mr Holmes. Das Wichtigste für mich ist Ihre Vermutung, es gäbe eine Verbindung zwischen dem Professor und dem aktuellen Fall. Sie schließen das aus der Warnung, die Sie von diesem Porlock bekommen haben. Aber gibt das etwas her für unsere augenblicklichen ganz praktischen Erfordernisse?«
»Es könnte uns einen Hinweis geben auf die Beweggründe des Verbrechens. Aus Ihren ersten Bemerkungen schließe ich, dass der Mord unerklärlich ist oder zumindest ungeklärt. Wenn wir davon ausgehen, dass der Hintergrund des Verbrechens eben jener ist, von dem wir gerade gesprochen haben, kommen zwei potentielle Motive in Frage. Dazu muss ich Ihnen sagen, dass Moriarty seine Leute mit eiserner Faust regiert. Die Disziplin, die er unter seinem Regime erwartet, ist beispiellos, und bei Verstößen gibt es nur eine Art von Strafe: den Tod. Eine mögliche Annahme ist also, dass der ermordete Mann – dieser Douglas, von dessen bevorstehendem Schicksal einer der Unterlinge des Erzverbrechers gewusst hat – in irgendeiner Weise am Boss Verrat geübt hat. Die Strafe folgte auf dem Fuße, und alle werden davon erfahren, mit dem Nebenzweck, dass sie in tödlicher Furcht vor dem Herrn gehalten werden.«
»Ja, das wäre eine Möglichkeit, Mr Holmes.«
»Die andere ist, dass die Sache von Moriarty im Zuge eines seiner gewöhnlichen Verbrechen arrangiert worden ist. Ist denn etwas geraubt worden?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Falls doch, würde das natürlich gegen die erste Hypothese und für die zweite sprechen. Moriarty könnte gegen einen Anteil an der Beute mit der Planung des Verbrechens beauftragt worden sein, oder man hat ihm schon vorher eine Summe gezahlt, damit er es arrangiert. Beides ist möglich. Aber wie auch immer, selbst wenn es noch eine dritte Möglichkeit gibt, die Lösung müssen wir in Birlstone suchen. Ich kenne unseren Mann gut genug, um zu wissen, dass er in London keine Spur hinterlassen hat, die zu ihm führt.«
»Dann auf nach Birlstone!« rief MacDonald und sprang auf. »Du liebe Güte! Es ist später als ich dachte. Gentlemen, ich kann Ihnen leider nur fünf Minuten geben für Ihre Reisevorbereitungen, mehr nicht.«
»Das genügt«, sagte Holmes, während er aufstand und rasch den Morgenmantel mit dem Gehrock vertauschte. »Vielleicht sind Sie unterwegs so freundlich und erzählen mir alles über den Fall, Mr Mac.«
»Alles« erwies sich als enttäuschend wenig, aber es war genug, um uns zu überzeugen, dass dieses Verbrechen die Aufmerksamkeit des Meisterdetektivs wert war. Holmes’ Miene heiterte sich auf, und er rieb sich die schmalen Hände, während er sich die spärlichen, aber ungewöhnlichen Details anhörte. Hinter uns lag eine allzu lange Folge allzu ruhiger Wochen, und hier bot sich endlich wieder ein angemessenes Objekt für jene erstaunlichen Gaben, die, wie alle Spezialbegabungen, ihrem Besitzer zur Last werden, wenn sie ungenutzt bleiben. Untätigkeit lässt einen rasiermesserscharfen Verstand leiden und abstumpfen. Sherlock Holmes’ Augen funkelten, seine blassen Wangen nahmen eine wärmere Farbe an, und sein Gesicht leuchtete auf, wenn ihn der Ruf der Arbeit erreichte. Leicht nach vorn gelehnt saß er in der Droschke und