Das Tal der Angst. Sir Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
Brief als Informationsquelle, der ihm, wie er sagte, in den frühen Morgenstunden mit dem Milchzug zugesandt worden war. White Mason, der vor Ort zuständige Kriminalpolizist, war ein persönlicher Bekannter von ihm, deshalb war MacDonald wesentlich rascher benachrichtigt worden, als es normalerweise der Fall ist, wenn eine lokale Polizeibehörde Scotland Yard zu Rate ziehen muss. In der Regel findet der Experte aus London, wenn er endlich hinzugezogen wird, nur noch eine kalte Spur vor. Der Brief, den MacDonald uns vorlas, lautete folgendermaßen:
›Lieber Inspektor MacDonald,
die offizielle Anforderung polizeilicher Unterstützung finden Sie in einem separaten Umschlag. Dies hier ist für Sie privat. Telegraphieren Sie mir, mit welchem Zug Sie am Vormittag nach Birlstone kommen, dann hole ich Sie entweder selbst am Bahnhof ab, oder ich lasse Sie abholen, falls hier zu viel zu tun ist. Der Fall ist ein Riesending! Verlieren Sie keine Zeit, kommen Sie schnell. Und bringen Sie bitte, falls möglich, Mr Holmes mit, das ist eine Sache ganz nach seinem Geschmack. Man könnte meinen, es sei eine effektvoll für die Bühne arrangierte Szene, wenn nicht mittendrin eine Leiche läge. Auf mein Wort, es ist ein Riesending!‹
»Ihr Freund scheint kein Dummkopf zu sein«, bemerkte Holmes.
»Nein, Sir, White Mason hat es in sich, ganz bestimmt.«
»Schön, haben Sie sonst noch etwas?«
»Nur, dass er uns über alle Details informieren wird, sobald wir uns treffen.«
»Wie haben Sie dann den Namen Douglas erfahren, und dass er auf schreckliche Weise ermordet worden ist?«
»Aus dem beigefügten offiziellen Schreiben. Aber ›schrecklich‹ steht da nicht drin, das ist kein korrekter amtlicher Ausdruck. Der Name ist mit John Douglas angegeben. Ferner ist angegeben, dass die tödlichen Kopfverletzungen von einem Schuss aus einer Schrotflinte herrühren. Und der Zeitpunkt, zu dem die Polizei alarmiert wurde: kurz vor Mitternacht. Dann steht noch drin, dass es sich unzweifelhaft um Mord handelt, dass bisher keine Festnahme erfolgt ist und dass der Fall einige mysteriöse und ungewöhnliche Merkmale aufweist. Das ist alles, was wir bisher haben, Mr Holmes.«
»Dann wollen wir es vorerst dabei belassen, Mr Mac, wenn Sie gestatten. Die Versuchung, aufgrund ungenügender Fakten voreilige Hypothesen zu bilden, ist der Fluch unseres Berufes. Für mich stehen gegenwärtig nur zwei Dinge fest: Es gibt ein geniales Hirn in London und einen toten Mann in Sussex. Die Verbindung zwischen beiden ist es, der wir nachspüren müssen.«
3. KAPITEL
Die Tragödie von Birlstone
Ich möchte nun für einen Augenblick um Erlaubnis bitten, meine eigene unbedeutende Person in den Hintergrund treten zu lassen und die Ereignisse, die sich vor unserer Ankunft am Schauplatz des Verbrechens abgespielt hatten, im Licht unserer späteren Erkenntnisse zu schildern. Das ist wohl die beste Art, den Leser mit den beteiligten Personen und dem eigenartigen Hintergrund bekannt zu machen, vor dem sich ihr Schicksal erfüllt hatte.
Das Dörfchen Birlstone liegt im Norden der Grafschaft Sussex und besteht lediglich aus ein paar altertümlichen Fachwerkhäusern. Jahrhundertelang hatte sich hier kaum etwas verändert, aber in den letzten Jahren hatten das malerische Erscheinungsbild und die günstige Lage mehrere wohlhabende Familien angelockt, deren Landhäuser nun aus den umgebenden Wäldchen lugten. Diese Wäldchen sind die äußersten Ausläufer des Weald, jenes ausgedehnten Waldgebietes, das sich nach Norden hin immer mehr lichtet, bis es den Höhenzug der North Downs erreicht. Mehrere kleine Kaufmannsläden waren eröffnet worden, um den Bedürf-nissen der wachsenden Bevölkerung Rechnung zu tragen, und es besteht wohl einige Aussicht, dass Birlstone sich in naher Zukunft von einem alten englischen Dorf in eine moderne Kleinstadt verwandeln wird. Der Ort ist das Zentrum einer recht ausgedehnten ländlichen Region, denn die nächste größere Stadt Tunbridge Wells, die zehn oder zwölf Meilen weiter östlich liegt, gehört schon zur Grafschaft Kent.
Etwa eine halbe Meile vom Dorf entfernt, umgeben von einem alten und für seine riesigen Buchen berühmten Park, liegt das historische Herrenhaus, Birlstone Manor House. Teile des altehrwürdigen Gebäudes reichen bis in die Zeit des ersten Kreuzzugs zurück, als Hugo de Capus inmitten seines Landbesitzes, mit dem er von William II., dem ›Roten König‹, belehnt worden war, eine kleine Festungsanlage errichten ließ. Diese fiel 1543 einem Brand zum Opfer, aber ein Teil der rußgeschwärzten Eckpfeiler wurde später, in der jakobitischen Zeit, wieder verwendet, als auf den Ruinen der mittelalterlichen Burg ein neues Herrenhaus in Backsteinbauweise entstand. Mit seinen vielen Giebeln und Bleiglasfenstern sieht das Gebäude immer noch fast genauso aus, wie es im frühen siebzehnten Jahrhundert erbaut worden war. Der äußere der beiden ringförmigen Wassergräben, die der Burg zur Verteidigung gedient hatten, war aufgelassen worden und tat jetzt seinen bescheidenen Dienst als Küchengarten. Der innere Graben hingegen war immer noch vorhanden. Er war etwa zwölf Meter breit, aber kaum einen Meter tief, und umschloss das ganze Haus. Er wurde von einem kleinen Bach durchflossen, der für Wasseraustausch sorgte, deshalb war das Wasser zwar trüb, aber keineswegs faulig oder ungesund. Die Fenster des Erdgeschosses reichten tief hinunter bis auf einen Fußbreit über dem Wasserspiegel. Der einzige Zugang zum Haus führte über eine Zugbrücke, deren Ketten und Windevorrichtungen längst verrostet und brüchig geworden waren. Die neuen Besitzer hatten die Brücke jedoch mit bezeichnender Energie instand setzen lassen, und so war die Zugbrücke nicht nur wieder funktionsfähig, sondern sie wurde tatsächlich jeden Abend hochgezogen und jeden Morgen wieder hinabgelassen. Die Wiederbelebung dieses alten Brauchs aus feudalen Zeiten verwandelte das Herrenhaus während der Nacht in eine Insel – eine Tatsache, die eine wichtige Rolle in dem Rätsel spielte, das alsbald in ganz England für Aufsehen sorgen sollte.
Das Haus hatte mehrere Jahre leer gestanden und drohte zu einer pittoresken Ruine zu verfallen, als die Familie Douglas es in Besitz nahm. Diese Familie bestand lediglich aus zwei Personen: John Douglas und seiner Ehefrau. Douglas war sowohl vom Charakter als auch vom Erscheinungsbild her ein beeindruckender Mann. Er mochte etwa fünfzig Jahre zählen und hatte ein zerfurchtes Gesicht mit markantem Kinn, einen grau gesprenkelten Schnurrbart und auffällig lebhafte graue Augen. Seine drahtige, kraftvolle Figur hatte kaum etwas von der Energie und Elastizität der Jugend eingebüßt. Er war offen und freundlich gegenüber jedermann, allerdings in seinen Manieren ein wenig derb, sodass er den Eindruck erweckte, er habe sich in seinem früheren Leben in Kreisen bewegt, die in gesellschaftlicher Hinsicht weit unter dem Niveau der ländlichen Gesellschaft von Sussex standen. Seine kultivierteren Nachbarn betrachteten ihn mit Neugier und einer gewissen Reserviertheit, aber unter der Dorfbevölkerung war er sehr beliebt, da er freigebig zu allen örtlichen Unternehmungen beisteuerte, an musikalischen Abenden in verräucherten Gasthäusern teilnahm und jederzeit bereit war, mit seiner schönen Tenorstimme ein munteres Lied zum Besten zu geben. Er schien über reichliche Geldmittel zu verfügen, die er dem Vernehmen nach auf den kalifornischen Goldfeldern erworben hatte, und aus allem, was man von ihm und seiner Gattin erfuhr, ging hervor, dass er einen großen Teil seines Lebens in den Vereinigten Staaten verbracht hatte. Der gute Eindruck, den er durch seine Freigebigkeit und Freundlichkeit einfachen Leuten gegenüber machte, wurde noch dadurch verstärkt, dass er im Ruf absoluter Furchtlosigkeit stand. Obwohl er ein miserabler Reiter war, ließ er es sich nicht nehmen, an jedem Jagdtreffen teilzunehmen, und in seinem Bemühen, es den Besten gleichzutun, hatte er schon spektakuläre Stürze überstanden. Als einmal im Pfarrhaus ein Feuer ausgebrochen war, bewies er unerhörten Mut, als er in das brennende Gebäude eindrang, nachdem die Ortsfeuerwehr es bereits aufgegeben hatte, um zu retten, was zu retten war. So kam es, dass John Douglas von Birlstone Manor House sich in seiner neuen Umgebung innerhalb von fünf Jahren einen ausgezeichneten Ruf erworben hatte.
Auch seine Gattin war beliebt bei allen, die ihre Bekanntschaft gemacht hatten, aber nach englischer Sitte sprachen Besucher nur selten bei Ortsfremden vor, die sich auf dem Lande niedergelassen hatten, ohne bei den Nachbarn offiziell vorgestellt worden zu sein. Das schien ihr indes nichts auszumachen, denn sie war von Natur aus zurückgezogen und ging in ihren ehelichen und häuslichen Pflichten auf. Man wusste von ihr nur, dass sie Engländerin war und Mr Douglas, damals ein Witwer, in London kennengelernt hatte. Sie war eine schöne Frau, groß und schlank, dunkelhaarig und gut zwanzig