Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit. Gisela MayrЧитать онлайн книгу.
114). Laut Pavlenko bilden sich aufgrund der unterschiedlichen affektiven sprachlichen Repertoires sog. Affective Personae in den verschiedenen Sprachen heraus. Das heißt, die SprecherInnen übernehmen sprachspezifische emotionale Rollen, die sehr unterschiedlich ausfallen können (ibid.: 118), da Emotionen unterschiedlich wahrgenommen und vermittelt werden. Diese Affective Personae können je nach individueller Sozialisationsgeschichte und Sprachlernerfahrung miteinander vernetzt sein oder auch nicht.
Ein gleicher oder ähnlicher kultureller Hintergrund bedeutet demzufolge eine ähnliche Kodierung von Emotionen und eine daraus resultierende Überlappung der Gesprächserfahrungen, dies wiederum wirkt sich synchronisierend auf die Kommunikation aus. So sind etwa Intonation oder die Dauer von Sprechpausen aufeinander abgestimmt: Das Gespräch ist synchronisiert, denn es werden dieselben Annahmen über die Gesprächsstrategien geteilt. Findet die Kommunikation hingegen unter Voraussetzung verschiedener kultureller und kommunikationsstrategischer Hintergründe statt, können die Wahrnehmungen über ein korrektes und angemessenes Verhalten sehr unterschiedlich sein und es kommt folglich zu Missstimmungen im Gespräch. Nur ein sprachlicher Transfer auch auf pragmatischer und kommunikationsstrategischer Ebene kann, vor allem bei der Mitteilung emotionaler Inhalte, Missverständnisse aus den Weg räumen, indem die sprachliche und kulturelle Vorgeschichte des anderen wahrgenommen und anerkannt wird (Gumperz 1982: 123). Ausdruck von Emotionen ist demzufolge kulturspezifisch und folgt einem genau kodierten Angemessenheitsprinzip. Diese affektiven Repertoires beeinflussen sich jedoch, so Pavlenko (Pavlenko 2012: 410f.) durch CLIN gegenseitig, wodurch neue Konzepte und mentale Skripts entstehen. Die sprachliche Rahmung kann sich bei längerem Gebrauch auch zugunsten der neuen dominanten Sprache ändern (vgl. auch Òzańska-Ponikwia 2013; Panayioutou 2004a/b).
Dieses kooperative Prinzip in der Kommunikation (vgl. Grice 1975) kann aber auch bewusst außer Kraft gesetzt werden. In diesem Fall wird CS nicht eingesetzt, um ein Argument verständlich für alle zu entwickeln, sondern um Emotionen freien Lauf zu lassen. Das Prinzip der Verständigung wird in diesem Falle zugunsten des unmittelbaren Ausdrucks emotionaler Befindlichkeiten hintan gestellt. CS erfolgt hier fast ausschließlich nach L1, da sich für die meisten zwei- bzw. mehrsprachigen Menschen das Mitteilen der eigenen Emotionen und Gefühle in einer L2 bzw. Lx nicht authentisch anfühlt. Dahinter liegt die Annahme, dass das Übertragen von Emotionen von einer Sprache auf die andere mit einem Sozialisationsprozess in der L2/Lx verbunden ist und nicht unmittelbar erfolgen kann. Erst durch das Sich-Herausbilden einer neuen Sprachrolle kann sich das emotionale Repertoire erweitern und als solches agieren, ohne dass im Sprecher das Gefühl der Künstlichkeit entsteht (Pavlenko 2005: 134). Es muss also auch zu einem affektiven Sprachtransfer kommen, damit Emotionen in L2/Lx ausgedrückt werden können.
4.6.2 Die gefühlsbedingte Sprachentlehnung
Das Phänomen des Affective Borrowing gefühlsbedingter Entlehnungen (Pavlenko 2005: 36) beschreibt hingegen die Entlehnung einzelner Wörter aus einer Fremdsprache mit dem Ziel, emotionalen Zuständen Ausdruck zu verleihen. Im Gegensatz zum CS handelt es sich hier um einzelne L2-Lx Wörter, die oft wiederholt in einen L1-Diskurs eingebaut werden. Dabei wird ein besonderer kommunikativer Effekt der Entfremdung erzielt. Diese Entfremdung ermöglicht es, vom Gesagten Abstand zu gewinnen und es kritisch zu hinterfragen, da der automatisierte Sprachgebrauch von L1 unterbrochen wird und es zu einer Störung im reibungslosen Gesprächsablauf kommt. Diese Störung zwingt zum Innehalten und Reflektieren über die Gesprächssituation und die Bedeutung der verwendeten Wörter bzw. Fremdwörter. Durch diesen Moment der Reflexion und des Vergleichs werden Bedeutungsebenen und Färbungen freigelegt, die anderenfalls ohne Berücksichtigung blieben. Andererseits werden durch die gezielte Verwendung von Fremdwörtern Bedeutungsnuancen einzelner Wörter genutzt und dadurch ein Effekt der Bedeutungserweiterung des Diskurses erzielt (vgl. Schülerauswertung). Pavlenko beschreibt dieses sprachliche Phänomen mit „disembodied cognition“1 (Pavlenko 2012: 424). Das heißt, dass die Kognition sich durch das Phänomen des Affective Borrowing vom Körperlichen trennt und somit auch vom unmittelbar Emotionalen und Gefühlsbedingten, das später gelernte Sprachen nicht so stark emotional codiert wie L1. Es kommt durch den Sprachwechsel zu einer vorübergehenden Trennung zwischen Kognition und Emotion, wodurch Raum geschaffen wird für den bewussteren Umgang mit beidem und, im Idealfall für ein kritisches Hinterfragen derselben. Aus den Schülerauswertungen geht hervor, dass in diesem durch sprachliche Entfremdung entstandenen Freiraum nicht nur die kritische Reflexion über die eigenen Emotionen und Denkprozesse angeregt wird, sondern auch Platz für den kreativen Umgang mit Sprache gegeben ist und dass ein Prozess der Bedeutungserweiterung stattfinden kann.
Emotionale Ausdrücke können also mehrfach kommunikativ genutzt werden. Einerseits wird das Repertoire an emotionalen Ausdrücken und der Wahrnehmung von Gefühlen in einer Sprache durch das Hinzukommen von Emotionsausdrücken in anderen Sprachen ergänzt, wie z.B. das englische Wort excited in der deutschen Sprache nicht kodiert ist (Pavlenko 2005: 139f.). Umgekehrt kann es zu einem Entfremdungseffekt kommen, durch den die Sprechenden die Intensität der Emotionen abschwächen können, z.B. bei der Verwendung von Schimpfwörtern. Mehrsprachige SprecherInnen kombinieren Sprachen und Gefühlsausdrücke kreativ und es kann ein emotionaler Sprachtransfer erfolgen. Es werden Sprachgrenzen aufgebrochen und kreative neue Vernetzungen hergestellt. Zwei- und mehrsprachige SprecherInnen bedienen sich eines mehrsprachigen affektiven Repertoires, das strategisch eingesetzt wird. Dabei spielt nicht immer die Kommunikationsabsicht eine zentrale Rolle. Es wird von ProbandInnen immer wieder darauf hingewiesen, dass die persönliche Genugtuung und Bedürfnisse hier eine große Rolle spielen. Mehrsprachige Sprecher greifen aus verschiedensten Gründen auf unterschiedliche Sprachen zurück, dazu gehören: Ausübung von Autorität, Prestige der Sprache, sich absichtlich unverständlich machen, Selbstkontrolle, Sprachübung, wahrgenommene Emotionalität der Sprache(n) (ibid.: 140). Unausgesprochene Angemessenheitsregeln in den verschiedenen Sprachen können dabei respektiert, aber auch gebrochen werden.
4.6.3 Die affektive Sozialisation
Durch unterschiedliche Sozialisationsfaktoren ist die Sprache der Emotionen bei mehrsprachigen Menschen in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich ausgebildet, da sich die Form der Sozialisation auf das emotionale Repertoire auswirkt. Koven (2004) erläutert diesen Umstand anhand Linda, die Portugiesisch/Französisch aufgewachsenen ist. Beim Erzählen der gleichen persönlichen Geschichte ist die Darstellung ihrer Emotionen in den beiden Sprachen so unterschiedlich, dass man als Zuhörer eine andere Person dahinter vermuten könnte. Daraus folgert Koven, dass die Sprecherin durch ihre Mehrsprachigkeit nicht nur Zugang zu unterschiedlichen sprachlichen Strukturelementen hat, sondern auch zu unterschiedlichen Rollen, zu unterschiedlichen Aspekten ihrer Persönlichkeit. Zusätzlich zum sprachlichen Repertoire steht ihr also auch ein Rollenrepertoire zu Verfügung (Koven 2004: 84).
Beim Erzählen spielen Emotionsausdrücke eine nicht unbedeutende Rolle. Erst durch diese entsteht im Zuhörer eine komplexes und anregendes Bild dessen, was erzählt wird (Bruner 1968: 26). Dies setzt Ambiguität voraus und lässt den Zuhörer Dinge erahnen und Hypothesen aufstellen. Besonders in der Bildsprache sind Gefühlsausdrücke und das Spiel mit Emotionen ein konstituierendes Element der Diskurskonstruktion. Sie sind Teil des Paradigmas der Imagination oder Intuition. In der Narrativik Bruners sind diese Voraussetzung für „good stories, gripping drama, believable (though not necessarily „true“) historical accounts“ (ibid.: 13). Das Vorhandensein sprachlicher Instrumente für den Ausdruck von Emotionen ist meistens in der L1 am besten ausgebildet, hängt aber auch vom Sozialisations- und Lernkontext ab. Bekanntlich wird diesem Aspekt des Spracherwerbs im herkömmlichen Sprachunterricht kein Platz eingeräumt, daher stehen L2- und Lx-Lernenden weder die pragmatischen noch die sprachlichen Mittel zur Verfügung, um einen emotionalen Diskurs zu führen und Techniken des Erzählens zu meistern. Das hat zur Folge, dass L2/Lx-Geschichten für den Zuhörer weder interessant noch verlockend sind, da kein mentales Bild von den Gegebenheiten geformt werden kann und es zu keiner emotionalen Resonanz kommt. Folglich wird die Aufmerksamkeit des Hörers/Lesers nicht gefesselt, sondern auf anderes gelenkt (Pavlenko 2005: 144; Dewaele 2010: 6f.).
Durch mehrsprachige Aushandlungsprozesse wird der mehrsprachige Diskurs initiiert und geschult. So kann Sensibilität für Angemessenheit emotionaler