Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit. Gisela MayrЧитать онлайн книгу.
der Ausarbeitung von Deskriptoren für plurilinguale Kompetenzen, wie sie in dieser Studie anvisiert sind, dar, da der Bereich der Mediation aufgenommen wird, lässt aber dennoch viele Fragen offen bzw. scheint nicht ausreichend ausdifferenziert, vor allem was die literarischen und mehrsprachigen Kompetenzen anbelangt. Auf alle drei Dokumente soll im Folgenden eingegangen werden, um ein besseres Verständnis der nachstehenden Datenanalyse und Modellierung von MKK zu ermöglichen und diese bildungspolitisch innerhalb der Zielsetzungen der EU einzuordnen.
2.1 Sprachenlernen im GER
Seit geraumer Zeit ist Mehrsprachigkeit1 und mehrsprachige Bildung ein zentrales Anliegen der Europäischen Union. Der Grundstein dafür wurde 2001 in der Barcelona-Zielsetzung (Europarat 2001) gelegt. Dort wurde zum ersten Mal festgehalten, dass im europäischen Raum der Sprachenunterricht von mindestens zwei Fremdsprachen von früher Kindheit an zu den Zielsetzungen der EU im Bildungs- und Ausbildungsbereich gehört und besonders gefördert werden soll. Es ist demzufolge explizites Ziel der EU, die individuelle Mehrsprachigkeit zu fördern und somit die Sprachenvielfalt innerhalb der Union zu wahren und zu unterstützen. Dies beinhaltet eine klare Absage an das Englische als einzige Lingua franca, das erstmals als Bedrohung wahrgenommen wird (vgl. Fäcke 2008: 7). Seit dem Jahr der Sprachen 2001 ist klar, dass die EU dem Modell des Englischen als einzige dominante Fremd- und Verkehrssprache den Rücken gekehrt hat, um den Sprachenreichtum Europas, die Minderheitensprachen und Randsprachen als kulturelles Gut zu schützen und zu fördern. Damit will man sich nicht darauf beschränken, das Englische in seiner Wichtigkeit als Verkehrssprache in allen Lebensbereichen einzugrenzen, sondern auch den Einfluss dieser Sprache auf andere Sprache zu unterbinden. So hat z.B. laut House eine Reihe von validierten Recherchen deutlich gemacht, dass es bereits Einflüsse der englischen Genres auf Texte in anderen Sprachen gibt (House 2004; Bührig & House 2004; Böttger 2004). Mehrsprachigkeit soll nicht mehr als Hindernis in der Kommunikation empfunden werden, sondern als eine zusätzliche Ressource, ein „wertvoller Schatz“ und ein Potenzial, das es zu schützen und auszuschöpfen gilt (Europarat 2001: 15).
Daher wird wiederholt bekräftigt, dass alle europäischen BürgerInnen mindestens zwei Sprachen neben der Muttersprache zumindest funktionell (d.h. in Teilbereichen) beherrschen sollten: eine zweite Sprache L2, die in den meisten Fällen Englisch ist und eine weitere Sprache L3, im Idealfall eine Nachbar- oder eine Minderheitensprache. Diese Vorgabe spiegelt sich im Prinzip der DLC (Dominant Language Constellation) wider, nach der nicht eine einzelne Sprache Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer bestimmten Gesellschaft ist, sondern eine größere Anzahl von Sprachen für den sozialen Diskurs nötig sind. Laut Aronin und Singleton scheinen im Schnitt drei Sprachen auszureichen, um diese kommunikative Funktionsfähigkeit einer bestimmten Gesellschaft zu gewährleisten (Aronin & Singleton 2012: 59).
Im Zuge der Kompetenzdiskussion in der Fremdsprachendidaktik wurde bereits 2001 ein Instrument zur Erhebung der Sprachkompetenzen ausgearbeitet: Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001). Dadurch wurde zunächst der Kompetenzbegriff für den Sprachenunterricht auf nationaler und europäischer Ebene vereinheitlicht. Es wurden fünf Kompetenzbereiche erarbeitet, die anhand von sechs Niveaustufen durch Deskriptoren detailliert skaliert wurden. Diese Standardisierung ermöglichte es, das Sprachenlernen europaweit nach vereinheitlichten Kriterien zu gestalten und zu evaluieren. Sprachliche Kompetenzen wurden somit vergleichbar gemacht, was zu bürokratischer Vereinfachung führte und die zwischenstaatliche Verständigung erleichterte.
In Südtirol wurde der GER durch die Rahmenrichtlinien für den Fremdsprachenunterricht rezipiert und größtenteils eins zu eins in verkürzter und vereinfachter Form übernommen. Inhalte und Aufbau sowie das Kompetenzverständnis wurden in Südtirol, aufgrund der besonderen schulpolitischen Gegebenheiten, auf die im Folgenden noch genauer eingegangen wird, nie kritisch hinterfragt. Eine Diskussion über das Verhältnis von Bildungsstandards und GER, wie sie sich in den Folgejahren in Deutschland entwickelte (Bausch et al. 2005; Burwitz-Melzer 2005), blieb hierzulande aus. Auch jegliche Bezugnahmen auf im GER behandelten Aspekte von Mehrsprachigkeit, wie sie im Folgenden ausgeführt werden, blieben unbeachtet. Aufgenommen wurde lediglich die Öffnung des Unterrichts, allerdings beschränkt auf den Fremdsprachenunterricht, in Richtung interkulturelles Lernen, das im Vorspann der Südtiroler Rahmenrichtlinien für Fremdsprachen erwähnt wird (Autonome Provinz Bozen-Südtirol 2010).
2.1.1 Die Mehrsprachigkeit im GER
Im einleitenden Teil des GER wird erstmals Mehrsprachigkeit nicht nur gefordert, sondern auch umrissen sowie ein Definitionsversuch unternommen. Das Sprachenlernen wird nicht mehr als additiver Erwerbsprozess mehrerer Sprachen betrachtet, sondern es steht die Vermittlung kultureller und interkultureller Kompetenzen als integrierter Bestandteil des Sprachenlernens im Mittelpunkt. Das Kennenlernen und das Verständnis für andere Kulturen, deren Gemeinsamkeiten mit der eigenen Herkunftskultur, aber auch deren Besonderheiten, verhilft einerseits zur Fähigkeit, die eigene Kultur zu hinterfragen und aus einer anderen Perspektive zu sehen, und gleichzeitig Ungewohntes, Neues und Fremdes einer anderen Kultur in diesen Wachstumsprozess zu integrieren.
Es folgt eine erste Definition von Mehrsprachigkeit (Europarat GER 2001: 17): Dabei wird zunächst zwischen Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit unterschieden. Vielsprachigkeit greift auf institutioneller Ebene, wie z.B. an Schulen, die ein vielsprachiges Angebot ausarbeiten können, um die Kompetenzen der Lernenden im Bereich Mehrsprachigkeit zu fördern. Mit Mehrsprachigkeit ist die individuelle Erfahrung, der Umgang des Einzelnen mit den Sprachen seines Repertoires und die Erfahrungen der kulturellen Erweiterung, die damit einhergeht, gemeint. Sprachen bilden im Gehirn keine klar voneinander getrennten Einheiten, sondern fächern sich in einer gemeinsamen mehrsprachigen Kompetenz auf. Daher wird von einem parallelen Lernen von Sprachen zugunsten eines synergetisch verstandenen abgesehen. Es sollen sich so gemeinsame, sprachübergreifende Kompetenzen bilden, auf die je nach Bedarf und Kontext zurückgegriffen werden kann. Im Sinne eines lebenslangen Lernprozesses wird Abstand genommen von dem Ideal eines auf muttersprachlichem Niveau zwei- oder dreisprachigen Menschen zugunsten eines Verständnisses von Sprachenlernen, das auch darauf abzielt, sich je nach Bedarf auf den Erwerb von Teilkompetenzen zu beschränken.
So soll die Entwicklung eines sprachlichen Repertoires unterstützt werden, das beim Erwerb weiterer Sprachen oder Teilkompetenzen eine spracherwerbsfördernde und im Idealfall beschleunigende Funktion einnimmt. Die Begriffe „mehrsprachige Kompetenz“ und „sprachliches Repertoire“ werden in diesem Zusammenhang zwar öfter erwähnt, jedoch bleibt eine genauere Definition dieser Begriffe und ihrer Funktion für den Erwerb weiterer Sprachen aus (ibid.: 18f.). Da der Referenzrahmen keine eingehendere Bedeutungserklärung dieser Begrifflichkeiten liefert, fällt es schwer, sich ein vollständiges Bild von der Funktionsweise und der Auswirkung mehrsprachiger Kompetenzen auf den Spracherwerbsprozess zu verschaffen. Es wird lediglich davon gesprochen, dass beim Sprachenlernen die Möglichkeit gegeben werden sollte, diese mehrsprachige Kompetenz zu entwickeln, wobei der Sprachmittlung in all ihren Formen hier eine besondere Wichtigkeit eingeräumt wird. Es werden auch keine Deskriptoren zur Mehrsprachigkeit angeführt. Es fehlt also ein grundlegender Aspekt, der unverzichtbar ist, will man Mehrsprachigkeit im Unterricht implementieren. Was bleibt, ist lediglich eine allgemeine Definition mehrsprachiger Kompetenzen ohne deren Deskriptoren. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der GER zwar ansatzweise einige Grundbegriffe der Mehrsprachigkeit ausformuliert hat, dass aber definitorische Unbestimmtheit vorherrscht und es versäumt wurde, den Bereich Mehrsprachigkeit in seinem Facettenreichtum zu erfassen und zu erläutern (GER Kapitel 6).
Einen wichtigen Beitrag hingegen leistet der GER in Bezug auf funktionale Mehrsprachigkeit, indem abgesehen wird von der Vorstellung einer idealen muttersprachlichen Kompetenz in einer Zweitsprache zugunsten der Ausbildung eines möglichst breitgefächerten Repertoires an situationsgebundenen Sprachfertigkeiten in mehreren Sprachen, die je nach Bedarf im Prozess des lebenslangen Lernens ausgebaut und erweitert werden können (ibid.: 132-134). Diese bereichsspezifischen und situationsgebundenen Sprachkompetenzen können gezielt im Unterricht vermittelt oder durch den Sprachgebrauch in Alltagssituationen erworben werden. Die funktionale Mehrsprachigkeit hat allerdings noch nicht ihren Weg in die Bildungsinstitutionen gefunden und es wäre wünschenswert, dass