Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-MinuthЧитать онлайн книгу.
sollen sich konkret nicht mehr am herkömmlichen Muttersprachler-Ideal (vgl. Europarat 2001) als allein geltendes, globales Sprachvorbild orientieren. Der nach dieser Auffassung zu erteilende Fremdsprachenunterricht sollte vielmehr darauf bedacht sein, andere Fähigkeiten zu priorisieren, so wie es Werner Wiater (2006) im Folgenden veranschaulicht:
„[…] auf „language (learning) awareness“ sowie auf allgemeine Fähigkeiten zum Lernen von und zum Umgang mit fremden Sprachen wie z.B. Sprachreflexion, Metakommunikation, Metalernen und Aspekte der Sprachenpolitik [Wert zu legen].“ (Wiater 2006: 58; Hervorhebungen im Text)
Die Mehrsprachigkeitsdidaktik hat sich in den 1990er Jahren konstituiert (vgl. Beacco & Byram 2003; Candelier et al. 2007) und ihr Aufgabenspektrum wurde seitdem mehrmalig in Publikationen beschrieben1. Sie nimmt sich ausschließlich die neueren, international gesprochenen Sprachen zum Gegenstand; dagegen werden die alten Sprachen Latein und Griechisch nicht einbezogen (vgl. Wiater 2006: 58). Ihr obliegt es, die Zielsetzungen der Mehrsprachigkeit lehr-, lern- und erforschbar zu machen (vgl. Escudé & Janin 2010: 18). Sie steht in engem Zusammenhang mit der Hinwendung zur Erforschung und Entwicklung der Lernerperspektive, mit der sich seit nunmehr vier Jahrzehnten die Fremdsprachenlehr- und -lernforschung auseinandersetzt2.
Mehrsprachigkeitsdidaktik, um den Begriff genauer konturieren zu können, charakterisiert eine Form der Fremdsprachenvermittlung, bei welcher die zu unterrichtende Sprache mit explizitem Einbezug der vorhandenen Mehrsprachigkeit der Schülerschaft – sowohl der lebensweltlichen als auch der schulischen Mehrsprachigkeit – gelehrt wird. Auch sollte das bei jedem Lerner inhärente sprachliche und kulturelle Vorwissen für die aktive und passive mentale Verarbeitung einer neuen Sprache nutzbar gemacht werden. Dies beinhaltet die Vorstellung, dass Sprachen nicht mehr nebeneinander, in isolierten mentalen Bereichen und Fächern unterrichtet und gelernt werden; vielmehr sollen jederzeit Verbindungen zwischen den Sprachen hergestellt werden. Alle Sprachkenntnisse und -erfahrungen sollen zu einer kommunikativen Kompetenz beitragen, in der die Sprachen miteinander in Beziehung stehen und interagieren (vgl. u.a. Europarat 2001; Wiater 2006). Das Erlernen einer neuen Sprache baut auf vorhandenem sprachlichen Wissen, Weltwissen sowie sprachlernstrategischem Wissen auf. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik beruht auf dem Ansatz, überall dort systematisch interlingualen Transfer in den Fremdsprachenunterricht einzubeziehen, wo sich Möglichkeiten in lexikalischer, inhaltlicher, (grammatischer) struktureller, lernstrategischer Hinsicht ergeben (vgl. Martinez & Reinfried 2006). Hierbei geht es darum, Vernetzungen herzustellen und eine mehrsprachige Kompetenz bei dem Lernenden zu bewirken, die es ihm ermöglicht, aus der Gesamtheit seines sprachlichen Repertoires, seiner Sprachlernerfahrungen und -strategien, folglich seiner Kompetenzen in mehreren, verschiedenen Sprachen, zu schöpfen, seine Sprachlernfähigkeit zu unterstützen und dabei eine Sensibilität für Sprachen zu entwickeln (vgl. u.a. Trim et al. 2001: 17ff.; Lutjeharms 2009: 21; Leitzke-Ungerer 2008), ohne dass dabei die Erwerbssituation und der Perfektionsgrad berücksichtigt wird (vgl. Abendroth-Timmer & Breidbach 2000b: 13). Somit lernt die Schülerschaft gleichzeitig, über die jeweilige Sprache und Kultur zu reflektieren und Beziehungsstrukturen zu analysieren.
De Florio-Hansen (2003, 2006) sieht in der Institution Schule die Aufgabe, den lebensweltlich zwei- oder mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen "[…] bei der Entwicklung eines multilingualen Selbstkonzepts zu helfen" (De Florio 2003b: 17), sogar eines „Gesamtsprachencurriculums“, wofür Rück und De Florio-Hansen (2005), Hufeisen und Lutjeharms (2005) oder noch Krumm (2004, 2006) plädieren, denn dieses berücksichtigt das spracherwerbstheoretische Prinzip, welches besagt, dass Sprachen sich gegenseitig beeinflussen und folglich nicht getrennt voneinander unterrichtet werden sollten (vgl. Hufeisen 2006: 115). Daher sei es in diesem Zusammenhang essenziell, durch das Lernen mehrerer Sprachen den nötigen Grundstein für eine derartige Kompetenz überhaupt erst zu legen.
Die Mehrsprachigkeitsdidaktik kompensiert allerdings nicht die bevorstehenden einzelsprachlichen Didaktiken (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch etc.), sondern sie komplettiert sie und ihr Methodenrepertoire vielmehr, da sie bestimmte Blickpunkte weitgehend außer Betracht lässt, wie beispielsweise die „epistemische Vorgeschichte der Lerner“ (vgl. Meißner 2000b: 65; Doyé 2008).
Der Begriff Mehrsprachigkeit wird inhaltlich weitgehend offen und weit verwendet (vgl. Christ 1990), weil er weder an ein festgelegtes Kompetenzniveau, noch an konkrete Fertigkeiten gebunden ist. Meißner schreibt dazu, dass dieser Begriff
„[…] alle Stufen des Fremdsprachenlernens einschließlich der auf Rezeption beschränkten Sprachkompetenz [erfasst].“ (Meißner 1995: 174)
Nach Franz-Joseph Meißner und Marcus Reinfried stellt eine Mehrsprachigkeitsdidaktik, welche sich an verwandten Sprachen innerhalb einer Sprachengruppe orientiert, den großen Vorteil der Lernökonomie, hauptsächlich im rezeptiven Bereich (vgl. Meißner & Reinfried 1998: 21) dar, da es für den jungen Lerner darauf ankommen soll, neben dem Erwerb zweier Fremdsprachen während seiner Schulzeit darüber hinaus zahlreiche weitere Sprachen zu verstehen, ohne dass er sich selbst dieser zu bedienen vermag (vgl. Meißner & Reinfried 1998: 14).
Fremdsprachendidaktische Konzepte zur Mehrsprachigkeit und demzufolge neurolinguistische Forschungsergebnisse seien hierbei besonders relevant, denn sie bringen die politischen Entscheidungsträger dazu, Erkenntnisse der Wissenschaft in die Praxis umzusetzen (vgl. Meißner & Reinfried 1998: 19; Wiater 2006). Auf der Basis existierender Konzepte entwickelte Franz-Joseph Meißner 1995 das Konzept einer Mehrsprachigkeitsdidaktik, die die einzelsprachlichen Didaktiken lateral begleitet und ergänzt, von der Muttersprache bis zu den Tertiärsprachen (Meißner & Reinfried 1998: 20). Demzufolge beinhaltet das mehrsprachigkeitsdidaktische Konzept nach Meißner und Reinfried (1998) zentrale didaktisch-methodische Betrachtungen: es gründet auf einem kognitivistisch-konstruktiven Lernbegriff, in dessen Fokus die Inferenz steht und der auch als inferentieller Lernbegriff bezeichnet wird. Dabei wird Inferenz als die selbsttätige Fähigkeit des Lerners aufgefasst, sein vorhandenes und abrufbares sprachliches und kulturelles Vorwissen aus der L1 (Erstsprache) bis zu Ln für den passiven und aktiven mentalen Transfer in eine neue Sprache erfolgreich zu nutzen. Somit vernetzt die Mehrsprachigkeitsdidaktik das mehrsprachliche, prozedurale und enzyklopädische Wissen des Lerners durch Anpassung und gezielte Vernetzung respektive Reorganisation der Wissens- und Könnensbestände einer oder mehrerer vor- und nachgelernten Sprache(n). Somit entstehen Synergieeffekte, durch die die fremdsprachliche Kompetenz der Lernenden entwickelt wird. Weiterhin essenzieller Bestandteil der Mehrsprachigkeitsdidaktik ist die Öffnung des Fremdsprachenunterrichts für unterschiedliche Sprachen und Kulturen (Stichwort: Mehrkulturalität; vgl. u.a. Meißner 2000b), die gleichermaßen jene der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund berücksichtigt, verknüpft und inkludiert (vgl. Meißner & Reinfried 1998: 20). Somit könne der monolinguale Habitus der multilingualen Schule, die Gogolin 1994 vehement beanstandet hatte, abgewendet und überwunden werden. Hierauf wird noch einzugehen sein.
(Fremd-)Sprachenlernen nach Annahme der Mehrsprachigkeitsdidaktik vollzieht sich stets auf der Basis von Vorerfahrungen und Vorkenntnissen (vgl. Jakisch 2015: 45). Sie kennzeichnet eine
„[…] Transversaldidaktik, die das die Sprachen und Kulturen Verbindende zusammendenkt und das Zwischen-Sprachen-Lernen fördert.“ (Meißner 2000a: 45)
Das Bestreben der Mehrsprachigkeitsdidaktik ist es demnach, ein integratives, curriculares Sprachlernangebot mit dem Ziel sprachlicher Handlungsfähigkeit weiterzuentwickeln, die den Lernenden, so Hans-Jürgen Krumm (2003),
„[…] unterschiedliche Optionen für die Entfaltung individueller Mehrsprachigkeitsprofile bietet.“ (Krumm 2003: 46)
In der Mehrsprachigkeitsdidaktik wird das Konzept der Interkomprehension seit geraumer Zeit diskutiert. Im Nachfolgenden wird explizit Bezug auf den EuroComRom-Ansatz genommen und illustriert.
2.6.2 Integrierte Sprachdidaktik
In der wissenschaftlichen Literatur der letzten fünfzehn Jahre hat das Konzept der integrierten Sprachdidaktik immer mehr an Bedeutung hinzugewonnen, wird in der Tertiär- und Mehrsprachenerwerbsforschung aufgegriffen und mit Mehrsprachigkeitsdidaktik in Verbindung gesetzt (vgl. dazu Hufeisen & Lutjeharms 2005; Neuner 2005; Meissner 2005 sowie