Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-MinuthЧитать онлайн книгу.
sie als Hyperonym sowohl die muttersprachliche Didaktik (L1) als auch die Fremdsprachendidaktik mit dem Unterrichten mehrerer (Fremd-)Sprachen (L2, L3, Ln) inkludiert und koordiniert. Erkenntnisse und Resultate aus der Spracherwerbsforschung haben gezeigt, dass das Erlernen mehrerer Sprachen für die Lernenden nicht isoliert stattfindet, oder wie es Gerhard Neuner (2009) zum Ausdruck bringt:
„[…] sich […] in separaten ‚Schubläden’ unseres Kopfes vollzieht, sondern in der Entfaltung der einen grundlegenden Sprachfähigkeit besteht.“ (Neuner 2009: 14)
Vielmehr wird ein synergiestiftendes Netzwerk zwischen allen vorhandenen erworbenen Sprachelementen hergestellt, das sich beim Erlernen weiterer einzelner Sprachen kontinuierlich erweitert (vgl. Le Pape Racine 2007: 156; Neuner 2009).
Die integrative Sprachdidaktik steht somit in engem Zusammenhang mit dem Begriff der mehrsprachigen Kompetenz, so wie sie im „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ (Trim; North & Coste 2001) definiert wird:
„Der Begriff ‚mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz’ bezeichnet die Fähigkeit, Sprachen zum Zweck der Kommunikation zu benutzen und sich an interkultureller Interaktion zu beteiligen, wobei ein Mensch als gesellschaftlich Handelnder verstanden wird, der über – graduell unterschiedliche – Kompetenzen in mehreren Sprachen und über Erfahrungen mit mehreren Kulturen verfügt. Dies wird allerdings nicht als Schichtung oder als ein Nebeneinander von getrennten Kompetenzen verstanden, sondern vielmehr als eine komplexe oder sogar gemischte Kompetenz, auf die der Benutzer zurückgreifen kann.“ (Trim; North & Coste 2001: 163; Hervorhebungen im Text)
Der Begriff „integrierte Sprachdidaktik“ ist in seiner Geschichte einigen Veränderungen unterworfen gewesen. Christine Le Pape Racine und Britta Hufeisen (2005) beispielsweise sprechen von integrierter Sprachendidaktik, die – so die beiden Forscherinnen – selten genau und nicht trennscharf definiert, sondern nebeneinander verwendet wird (vgl. Le Pape Racine & Hufeisen 2005). Mit der Bezeichnung ‚integriert’ wurde die Integration und die damit verbundene Intensivierung der Gemeinsamkeiten in den sich parallel existierenden Sprachdidaktiken sowie in den curricularen Vorgaben mit dem Ziel, Synergieeffekte zu erzielen, angestrebt. Es besteht Einigkeit darüber, dass unter das Konzept der integrierten Sprachdidaktik die Bezüge zwischen den unterschiedlichen Sprachen und der jeweiligen Didaktik gemeint sind, und nicht allein die Thematisierung der Sprache im Allgemein. In jedem Fall soll der Terminus als ein übergeordneter Begriff verstanden werden, so Le Pape Racine (2005), der oberhalb des Konzepts der Immersion angesiedelt ist.
Meissner (2005) beschreibt den Begriff der integrativen Sprachdidaktik in Zusammenhang mit Mehrsprachigkeitsdidaktik. Die Erweiterung von Sprachdidaktik zu Sprachendidaktik betont, dass mehrere Sprachen gemeint sind und nicht nur eine oder die Sprache im Allgemeinen (vgl. Hufeisen & Lutjeharms 2005; Sauer 2004). Es zeigt sich aber, dass die Begriffe noch nebeneinander verwendet werden und nicht trennscharf sind. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass jeder Unterricht Sprachunterricht ist.
Laut Meissner, Klein und Stegmann (2004) sollen Fremdsprachen in einem sprachen- und fächerübergreifenden Ansatz nicht mehr isoliert unterrichtet und gelernt werden, sondern es sollten variierende Verbindungen in allen Bereichen durch Vergleiche hergestellt werden können. Hier ist vor allem die sprachliche Diversität der Schülerinnen und Schüler zu nutzen (Stichwort: Anerkennung der inneren und äußeren Mehrsprachigkeit der Schüler), welche – auf einer Metaebene – die Sensibilisierung und Reflexion über Sprachen und Kulturen, interkulturelles Lernen fördert, gemäß dem Konzept der language and cultural awareness, welches die bewusste Auseinandersetzung mit der sprachlichen Vielfalt einer Schulklasse involviert und demzufolge die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Lernenden ernst nimmt. Zielvorstellungen sind die Befähigung zu Empathie sowie Eigen- und Fremdverstehen im pluralen Kontext. Le Pape Racine (2007) verdeutlicht dies folgendermaßen:
"[…] indem Lernende andere Sprachen hören, untersuchen und zueinander in Beziehung setzen, entwickeln sie Basiskompetenzen für das Sprachenlernen überhaupt, wie zum Beispiel das Diskriminieren von Lauten, das Erkennen von Mustern und Funktionsweisen von Sprache. Language awareness (Sprachenbewusstheit) bedeutet in der affektiven und kognitiven Dimension: Entdecken, Fragen stellen, Zuhören, Vergleichen, Staunen." (Le Pape Racine 2007: 158)
Sprachliche Vielfalt soll bewusst wahrgenommen und sprachliche und kulturelle Vorurteile sollen abgebaut werden mit dem Ziel, eine weniger ethnozentrische Haltung zur Sprache zu entwickeln und somit eine wertschätzende Haltung allen Sprachen gegenüber einzunehmen. Der Sprachunterricht würde dann eine positive Einstellung zu Sprachen im Allgemeinen fördern, wenn er Lernstrategien bewusst macht und zu Transferleistungen anregt. Dabei ist die Selbstständigkeit im sprachlichen Handeln ein zentrales Anliegen. Der Sprachunterricht, der auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Sprachen eingeht, stellt Verbindungen auf kognitiver Ebene her, was das Erlernen der Sprachen untermauert und zugleich rationalisiert.
Des Weiteren wird die integrative Sprachendidaktik von Le Pape Racine (2007) allgemein als eine Grundidee definiert, bei der Erkenntnisse über den Erst-, Zweit- oder Fremdsprachenerwerb zusammengeführt werden. Im Zuge dessen kann es sich sowohl um die Integration von Fremdsprachen und Inhalten nichtsprachlicher Fächer handeln als auch um die Integration verschiedener Sprachen und Kulturen. Das Erlernen und Anerkennen anderer Sprachen repräsentiert eine Bereicherung, eine Erweiterung des kulturellen Horizonts und befähigt dazu, in einer mehrsprachigen und multikulturellen Welt zu leben. Die verschiedenen Sprachen festigen sich gegenseitig auf sprachlicher, textueller und kultureller Ebene (vgl. Gelmi 2005). Auf kognitiver Ebene lernen die Schülerinnen und Schüler Sprachen kennen, sie angemessen und möglichst korrekt rezeptiv und produktiv zu applizieren. Über sprachliche Strukturen und Erscheinungsformen lernen sie zu reflektieren sowie den geschichtlichen, sozialen und kulturellen Werdegang der Sprachen in Betracht zu ziehen. Auf textueller Ebene werden vielfältige Textsorten erkannt und verfasst und in ihren historischen, sozialen und kulturellen Kontext gesetzt. Mit Hilfe von Lektüren erleben Lernende bedeutsame Werke der Literatur der jeweiligen Sprache, Texte werden autonom gelesen und individuell gedeutet. Verschiedene Hilfsmittel wie beispielsweise Wörterbücher leisten hierbei einen wertvollen Beitrag. Auf kultureller Ebene sind Schülerinnen und Schüler in der Lage, Verbindungen zwischen den kulturellen Werken in den verschiedenen Sprachen herzustellen sowie thematische, formale und methodische Vergleiche zwischen den verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen anzustellen. Somit beweisen sie die eigene kulturelle und kommunikative Kompetenz und erweitern sie durch selbständiges Lernen. Sprachen und ihre jeweilige Literatur gewinnen für sie einen erzieherischen Wert und öffnen den Blick für andere kulturelle Welten.
2.6.3 Interkomprehensionsforschung
Die Didaktik der Interkomprehension repräsentiert ein recht junges, innovatives Forschungs- und Praxisfeld, das in der Debatte der (Fremd-)sprachendidaktik um die Förderung der Mehrsprachigkeit in Europa zu Beginn der 1990er Jahre aufgetaucht ist (vgl. Doyé 2005; Ollivier & Strasser 2013). Dieses Forschungsfeld entwickelte sich im europäischen Rahmen (man findet auch das Konzept der Eurokomprehension vor; vgl. Meißner 2004), um das bildungspolitische Ziel der europäischen Union zu erreichen. Das Konzept der Interkomprehension geht auf seinen Urheber, den französischen Linguisten Jules Ronjat zurück, der 1913 dieses Konzept (Französisch: intercompréhension) in seinem Buch zur Syntax der provenzalischen Dialekte « Essai de syntaxe des parlers provençaux modernes » erstmals verwendete. Ronjat begründet den Begriff in der Annahme, dass Sprecher verschiedener provenzalischer Varietäten sich gegenseitig ausgezeichnet verstehen würden, und somit der Eindruck gewonnen werden könnte, dass es um dieselbe Sprache ginge, die lediglich anders ausgesprochen würde. Nach der erstmaligen Prägung des Begriffs der Interkomprehension durch Ronjat wurde das Grundprinzip immer weiter verfeinert und später einige Projekte zur Förderung der europäischen Mehrsprachigkeit durchgeführt, wie per exemplum im skandinavischen Raum (vgl. nähere Ausführungen dazu in: Ollivier & Strasser 2013: 11–15).
Die Interkomprehensionsdidaktik stößt auch in Deutschland seit über zwei Jahrzehnten auf ein reges Interesse, welches sich in zahlreichen Projekten und Publikationen niederschlägt (vgl. z.B. Klein & Stegmann 2000; Schöpp 2008; Bär 2004, 2009; Meißner 2004, 2005, 2008;