Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-MinuthЧитать онлайн книгу.
der Lerner Kenntnisse einer romanischen Sprache aufweist, ist er in der Lage, diesen Gewinn für andere Sprachen heranzuziehen und Wortschatz zu entschlüsseln. Das dritte Sieb untersucht die Lautentsprechungen und ist für die Dekodierung förderlich, da viele häufig auftretende Lexeme vordergründig nicht lexikalisch verwandt zu sein scheinen, dadurch dass sie im Laufe der Sprachgeschichte Modifizierungen durchlaufen haben. Demnach filtert das dritte Sieb Lautentsprechungsformeln, damit der Lerner die Gemeinsamkeiten deutlich erkennt. Das dritte Sieb steht inhaltlich in enger Verbindung mit dem vierten Sieb, den Graphien und Aussprachen, da häufig gleiche Laute unterschiedlich geschrieben und gesprochen werden. Des Öfteren begegnet der Lerner Schwierigkeiten beim Dechiffrieren von Wörtern aufgrund einer divergenten Schreibweise, beziehungsweise einer unterschiedlichen Aussprache. Aus diesem Grund muss er den Zusammenhang zwischen Graphie und Aussprache erfassen, um Wortverwandtschaften aufdecken zu können. Das fünfte Sieb bezieht sich auf die panromanische Syntax. Es existieren neun in allen romanischen Sprachen vorherrschende Kernsatztypen, deren Kenntnis vor allem bei einer komplexen Syntax dienlich ist. Durch das Wissen um die syntaktischen Strukturen kann rasch konstatiert werden, ob ein Wort ein Verb, ein Adjektiv oder noch ein Substantiv ist. Das sechste Sieb ergründet die morphosyntaktischen Elemente wie grammatische Phänomene, z.B. Steigerungsformen, Artikel oder Pluralmarkierungen. Dabei handelt es sich vor allem um Konvergenzen innerhalb der lebenden romanischen Sprachen, die das Lateinische nicht aufweist. Das siebte und letzte Sieb filtert schließlich Präfixe und Suffixe. Diese befähigen den Lerner, den Sinn zusammengesetzter Wörter durch Isolierung vom Wortstamm zu entschlüsseln (vgl. Klein & Stegmann 2000: 13ff.).
Diese interkomprehensive Vorgehensweise wird auch als optimiertes Erschließen bezeichnet und berücksichtigt jede Art des Vorwissens. Die Reihenfolge des Durchlaufens der einzelnen Siebe ist beliebig (vgl. Klein & Reissner 2002). Die dargelegten Erschließungsleistungen sollen, langfristig gesehen, zu einer Optimierung der Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Fremdsprachen führen (vgl. Klein & Stegmann 2000: 19). Die Methode fördert dadurch den Erwerb einer allgemeinen Sprachlernkompetenz. Des Weiteren kann EuroComRom die kulturelle Vielfalt Europas in ihren Zusammenhängen begreifbar werden lassen und durch das Behandeln authentischer Texte zu einem besseren interkulturellen Verständnis führen. Ein weiteres Ziel ist es, den Minderheitensprachen Europas, die oftmals wenig Aufmerksamkeit erfahren, ein Minimum an Präsenz im aktuellen Diskurs über die Mehrsprachigkeit der europäischen Bürgerinnen und Bürger zuzusprechen. Dabei lässt sich meist ohne zusätzlichen Sprachlernaufwand das Verständnis und Kennenlernen der oftmals benachteiligten Minderheitensprachen, die in ihrem Verbreitungsgebiet meist Mehrheitssprachen sind, erreichen. EuroComRom hat deshalb konsequent neben den großen Sprachen Französisch, Spanisch, Italienisch auch das Portugiesische, das Katalanische und das Rumänische integriert und macht es möglich, auf dieser Basis auch Texte in anderen romanischen Sprachen zu verstehen (vgl. Klein & Stegmann 2000; Klein 2006: Anmerkung 8).
2.6.5 Schulfremdsprachen als Brückensprachen und ihr Potenzial
In einem Beitrag von 2004 verweist Herbert Christ auf den metaphorischen Charakter des Begriffs der Brückensprache, der, seiner Ansicht nach, in einem doppelten Sinn verwendet wird: zunächst wird von einer Brückensprache gesprochen, wenn zwei Sprecher differenter Sprachen auf eine dritte, ihnen verfügbare Sprache zu Kommunikationszwecken zurückgreifen; die dritte Sprache sozusagen eine kommunikative Brücke zwischen den beiden Kommunikationspartnern darstellt. Aber auch aus der Perspektive der Mehrsprachigkeitsdidaktik ist die Rede von einer Brückensprache, wenn ein Sprecher eine ihm bereits bekannte Sprache als Brücke nutzt, um sich einer weiteren Sprache anzunähern (vgl. Christ 2004: 35). Mit Hilfe linguistischer Transferbasen (vgl. Kapitel 2.3.3) kann die Brückensprache zur Dekodierung herangezogen werden. Es ist dabei von großem Vorteil, wenn zwischen der Brücken- und der Zielsprache eine Verwandtschaftsbeziehung vorliegt. Je mehr Transferbasen die Brückensprache hergibt, desto müheloser und optimierter lassen sich die unbekannten Phänomene in der Zielsprache erschließen (vgl. Klein 2002: 38). Prinzipiell kann jede zuvor erlernte Sprache als Brückensprache fungieren. Dabei muss das gesamte Sprachenwissen möglichst umfassend und bewusst genutzt werden. Die Aktivierung des vorhandenen Vorwissens in der Brückensprache ist unabdingbar. Die Nutzung des Potenzials der Brückensprache macht es möglich, rezeptive Kompetenzen möglichst lernökonomisch in einer ganzen nahverwandten Sprachengruppe zu erwerben. Aus diesem Grund wird fremdsprachendidaktisch gesehen dem Gebrauch von Brückensprachen im Unterricht ein fester Platz zugewiesen. Auf diese Weise könne die europäische Mehrsprachigkeit bestmöglich gefördert werden (Klein 2002: 36). Weiterhin sollten die Kenntnisse in der Brückensprache ein gewisses Niveau erreicht haben, damit die Lernenden überhaupt eine Übereinstimmung mit der Zielsprache erkennen können. Zudem sollten sie über die notwendigen Strategien verfügen, mit deren Hilfe zielsprachliche Phänomene entschlüsselt werden können (Reinfried 1998: 23).
Im Folgenden wird das Augenmerk auf die Stellung derjenigen Fremdsprachen gerichtet, die üblicherweise im schulischen Fremdsprachenunterricht im deutschen Schulsystem angeboten und unterrichtet werden1. Der aktuell erteilte schulische Fremdsprachenunterricht unterliegt eher strengen linearen, curricularen und länderspezifischen Regelungen, die festlegen, wann und in welcher Reihenfolge Fremdsprachen gelernt werden.
2.6.5.1 Englisch
Englisch wird regulär als erste Schulfremdsprache angeboten und stellt deshalb eine wichtige Basis sowohl aus Schüler- als auch aus Lehrerperspektive dar. Doch wie hoch ist dessen Transferpotenzial für das Erlernen weiterer, meist romanischer Sprachen einzustufen?
Als westgermanische Sprache der indoeuropäischen Sprachfamilie zugeordnet enthält das Englische einen besonders hohen Anteil an romanischen Elementen; annähernd 60 % der Lehnwörter entstammen von ihrer Etymologie her dem Lateinisch-Romanischen, darunter sind an die bis zu 38 % französischen Ursprungs (vgl. Reissner 2012; Schöpp 2008: 205). Die Sprachgeschichte Englands wurde in vielen Jahrhunderten von verschiedenen Einflüssen und Spuren geprägt, seit England im Jahr 1066 von den Normannen erobert wurde. Aus dieser Zeit sind über 10000 französische Wörter in das Mittelenglische übernommen worden, davon sind Dreiviertel im aktuellen Sprachgebrauch verblieben (vgl. Reissner 2012: 183f.).
In lexikalischer Hinsicht bietet das Englische als Brücke zwischen der germanischen und der romanischen Sprachfamilie mit seiner Vielzahl an Internationalismen ein großes Transferpotenzial (vgl. Hemming; Klein & Reissner 2011: 15). Ebenfalls existieren phonetische und phonologische sowie morphologische Übereinstimmungen, die einen Nutzen für die intra- und interlingualen Aktivitäten darstellen können. So ähneln sich beispielsweise die Pluralbildung im Nominalsystem oder die Bildung von Adverbien. Die Sprachvergleiche zwischen den verschiedenen Sprachfamilien helfen letztendlich die language learning awareness zu stärken (vgl. Reissner 2012: 193). Aus diesen Gründen eignet sich das Englische sehr wohl als Brückensprache und nimmt eine zentrale Rolle zur Erreichung einer europäischen Mehrsprachigkeit ein.
2.6.5.2 Französisch
Im schulischen Kontext erhalten die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, die französische Sprache in der Regel als zweite Fremdsprache aus der romanischen Sprachgruppe zu erlernen. Französisch als Brückensprache zu den gesamten anderen romanischen Sprachen – und hier vor allem in der Institution Schule als Brücke zum Spanischen und Italienischen (vgl. Schöpp 2008: 196) – umfasst eine Gruppe von beinahe einer Milliarde Sprecherinnen und Sprecher auf der gesamten Welt (vgl. Klein 2002 und 2006: 59). Für das Französische finden sich gewichtige Argumente und Kriterien, weshalb diese als erfolgversprechendste Brückensprache für die Romania angesehen wird1.
„Mit der französischen Sprache erwirbt der Lerner linguale Grundmuster, die auch den anderen romanischen Sprachen zugrunde liegen: wer operabel Französisch erlernt, erwirbt einen wichtigen Teil des panromanischen Wortschatzes sowie eine Grundgrammatik, die in jeder romanischen Sprache mehr oder weniger anzutreffen ist.“ (Meißner 2008: 268)
Die französische Sprache ermöglicht somit den Einstieg zur gesamten Romania mit ihrem hohen Maß an Panromanität und durch ihre Wiedererkennbarkeit im lexikalischen Bereich in allen romanischen Sprachen (vgl. Klein 2002: 41; Klein 2006: 59). Aufgrund dieses