Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Sylvie Méron-MinuthЧитать онлайн книгу.
dass soziales Handeln im Wesentlichen durch jene (oft gar nicht bewussten) Werte und Maximen strukturiert ist, die den konkreten Dingen und Prozessen überhaupt erst einen Sinn, eine Bedeutung verleihen, dann muss man in der Datenauswertung den Sprung von der manifesten auf die latente oder Bedeutungsebene vollziehen.“ (Bogner; Littig & Menz 2014: 76 – Hervorhebungen im Text)
Ich bin mir darüber bewusst, dass die Ergebnisse der vorliegenden empirischen Studie nur begrenzt verallgemeinerbar sind, insofern als die individuellen Einstellungen und Sichtweisen der befragten Lehrkräfte keinen Anspruch auf Repräsentativität begründen können (vgl. dazu Schart 2003; Prokopowicz 2017: 92). Dazu ist das Sample zu begrenzt und sowohl geografisch als auch schultypenspezifisch zu sehr verengt.
„Jede Art von Forschung bringt ihre eigenen Stärken und Schwächen mit sich und keine Sicht kann den Anspruch darauf erheben, alles zu erkennen.“ (Schart 2003: 17)
Nichtsdestotrotz bietet das qualitative Forschungsparadigma, das im Folgenden näher zu beleuchten sein wird, einen adäquaten Ansatz für die Forschungsfragen. Diese ergeben sich entsprechend der eingangs beschriebenen Zielsetzungen als forschungsleitende Aspekte für die vorliegende Studie:
1 Was erzählen die befragten, gymnasialen Fremdsprachenlehrkräfte über ihren beruflichen Werdegang und ihr berufliches Selbstbild?
2 Was wissen sie von den Sprachbiografien und den lebensweltlich-kulturellen Erfahrungen ihrer Schülerinnen und Schüler?
3 Wie berücksichtigen sie in ihrem beruflichen Alltag die schulische Mehrsprachigkeit ihrer Schülerschaft?
4 Wie berücksichtigen sie in ihrer Praxis die herkunftssprachlich und -kulturell mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler?
5 Wo sehen sie Änderungsbedarf sowohl für die Unterrichtspraxis als auch für die Lehrerausbildung im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit?
4.2 Exkurs: Veränderungen der gesellschaftlichen Situation in Deutschland seit der Datenerhebung im Jahr 2012
Mehrsprachigkeit ist aktuell durch die Zuwanderungsbewegungen der Jahre 2015 und 2016 zu einer großen Herausforderung für die Schulen in Deutschland geworden. Seit der Erhebung der hier vorgelegten Daten in den Jahren 2011 und 2012 hat sich die Bedeutung der Zuwanderung nach Deutschland entscheidend verändert und die Situation der verschiedenen Herkunftssprachen in den Schulen stark beeinflusst. Waren zum Erhebungszeitraum Türkisch und – mit Abstand dahinter – Russisch die wichtigsten Herkunftssprachen der Kinder mit Migrationshintergrund1, so hat sich der Sprachenmix zugunsten arabischer Herkunftssprachen verschoben. Durch diese Entwicklung – gepaart mit einer innergesellschaftlichen Diskussion, die nicht immer demokratisch-humanitären Grundvoraussetzungen entspricht – hat sich eine völlige Veränderung der Ausgangsbedingungen für die vorliegende Untersuchung aus den Jahren 2011 und 2012 ergeben.
Mein Fokus liegt weiterhin auf den grundlegenden Aspekten wie der bestehenden Mehrsprachigkeit, sei sie schulisch oder lebensweltlich bedingt. Diese sind unverändert, denn, während die Flüchtlingskrise eine Ausnahmesituation darstellt, ist die lebensweltliche Mehrsprachigkeit durch die Kinder aus türkischen Familien zum Beispiel seit Jahrzehnten der Standard in den Schulklassen.
Im Migrationsbericht der Bundesregierung heißt es zu den Migrationsbewegungen vor 2016:
„Das Zuwanderungsgeschehen nach Deutschland ist seit Jahren vor allem durch Zuwanderung aus anderen europäischen Ländern bzw. Abwanderung in andere europäische Staaten gekennzeichnet. So kamen im Jahr 2015 fast drei Fünftel aller zugewanderten Personen (57,2 %) aus einem anderen europäischen Staat nach Deutschland. Insgesamt betrug der Wanderungssaldo gegenüber den anderen EU-Staaten +332.511. Aus den alten Staaten der Europäischen Union (EU-14) kamen 11,8 % aus den zwölf neuen EU-Staaten (EU-12) 28,2 % und aus Kroatien 2,7 % (zur EU-Binnenmigration vgl. Kapitel 2). Aus dem übrigen Europa kamen 14,5 % aller zugezogenen Personen des Jahres 2015. Weitere 32,2 % der Zugezogenen wanderten aus einem asiatischen Staat zu. Lediglich 5,4 % zogen aus afrikanischen Ländern nach Deutschland und 3,6 % aus Amerika, Australien und Ozeanien.“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016: 31f.)
Da nur ein sehr geringer Teil der Zuwanderer aus Osteuropa und dem Nahen Osten eine sprachliche Sozialisation aus der romanischen Sprachenfamilie hat und es sich vielmehr um arabische oder slawische Herkunftssprachen handelt, kann in den heutigen Schulklassen erwartet werden, dass Bezüge zwischen den Schulfremdsprachen und diesen Sprachen im Fremdsprachenunterricht kaum hergestellt werden. Ableiten, Inferenzieren usw. sind angesichts der Verschiedenheit der Sprachfamilien kaum möglich. Dies ist lediglich bei rumänischstämmigen Schülerinnen und Schülern (Kinder von etwa 10,4 % Rumänen in der Migration) denkbar.
Die folgende Tabelle veranschaulicht das Migrationsgeschehen bundesweit für das Kalenderjahr 2015:
Abb. 1: Zuzüge im Jahr 2015 nach den häufigsten Herkunftsländern (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016: 33)
Insgesamt konstatiert das Statistische Bundesamt 2016 zur aktuellen Migrationssituation, was die unverändert brisante Bedeutung meiner Studie unterstreicht:
„Mit rund 17,1 Millionen hatten im Jahr 2015 mehr Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund als je zuvor. [Dies] entsprach einem Zuwachs gegenüber dem Vorjahr von 4,4 %. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung erreichte 21,0 %. Der außergewöhnlich hohe Anstieg ist vor allem auf ausländische Zuwanderer zurückzuführen. 2015 lebten 11,5 Millionen Zuwanderer in Deutschland, das waren 5,5 % mehr als im Vorjahr.
Die drei wichtigsten Herkunftsländer der Menschen mit Migrationshintergrund sind die Türkei, Polen und die Russische Föderation. Insgesamt 6,3 Millionen hatten ihre Wurzeln in den ehemaligen Gastarbeiteranwerbestaaten, darunter vor allem in der Türkei, in Italien und in Griechenland.
Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist im Schnitt deutlich jünger als die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Jede dritte Person unter 18 Jahren hatte einen Migrationshintergrund. Den höchsten Anteil gab es in der Altersgruppe der Kinder unter fünf Jahren (36 %). In der Gruppe der über 65 Jahre alten Bevölkerung lag der Anteil hingegen bei unter 10 %.“ (Statistisches Bundesamt 2016)
Leider liegen aus dem Statistischen Bundesamt und den aktuellen Ausländerstatistiken (vgl.: Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus, Fachserie 1 Reihe 2.2–2015) keine Daten zu Sprachkenntnissen der Zuwanderer vor. In diesem Bereich herrscht insgesamt große Unsicherheit vor, die den oben genannten Vorurteilen Vorschub leistet und die „doppelte Halbsprachigkeitsvermutung“ bei den Lehrkräften unwidersprochen lässt (vgl. dazu Kapitel 2.2.1).
Neuere Forschungen beschäftigen sich seit etlichen Jahren mit den schulischen Erfolgen – hier vor allem interessant: im Fremdsprachenunterricht – dieser Kinder und Jugendlichen (vgl. Özkul 2015a: 256). Dieser Perspektivenwechsel, weg von „[…] einem defizit-orientierten Ansatz zu einem an Ressourcen orientierten Forschungszugang“ (Özkul 2015a: 257), ist von besonderer Bedeutung für die vorliegende Arbeit. Es wird zu zeigen sein, ob und inwieweit defizit-orientierte Haltungen und Einstellungen, die durch die Publikation der Ergebnisse aus den PISA-Studien seit 2000 eine breite Öffentlichkeit erreicht hat, sich in der Lehrerschaft durchgesetzt haben:
„Demzufolge werden monolinguale Lerner und homogene Fremdsprachenklassen als Normalfall akzeptiert, während die Multilingualität als Ausnahme gilt […]. Abendroth-Timmer und Breidbach (2000: 11) konstatieren als wichtiges Resultat eines solchen Sachverhalts, dass die Mehrsprachigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund bereits im Ansatz geringgeschätzt oder als ein ‚Problem’ der Migrantenkinder betrachtet wird. Das Potenzial und die Ressourcen der Schüler mit Migrationshintergrund können in einer Schule mit monolingualem Habitus nicht chancengerecht gefördert werden.“ (Özkul 2015b: 166; Hervorhebungen im Text)
Vielversprechende erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass vor allem die Lernstrategien der erfolgreichen Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund übertragbar und für den Unterricht operationalisierbar sind (vgl. Aydin 2016).