Das Wort. Eric FußЧитать онлайн книгу.
lexikalischen Worts handelt, lässt sich verdeutlichen, wenn man die Beziehung zwischen Wortform und lexikalischer Grundform etwas näher betrachtet. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Einsicht, dass nicht alle flektierten Varianten eines Worts notwendig im mentalen Lexikon abgelegt sind. So geht man davon aus, dass eine Wortform wie Bruders aus der Grundform Bruder durch eine morphologische Regel (vgl. Kapitel 4) erzeugt wird, welche die 3. Person Singular Genitiv für bestimmte Klassen von Substantiven bildet (die sog. starken Maskulina und Neutra). Dies hat den Vorzug, dass die einschlägigen Wortformen nicht für jedes einzelne Substantiv separat gelernt und abgespeichert werden müssen. Im mentalen Lexikon steht lediglich die lexikalische Grundform des Worts, die man auch als Lexem bezeichnet. Darüber hinaus enthält das Lexikon Informationen über unregelmäßige Formen, wie z.B. die Tatsache, dass bei der Pluralform von Bruder ein Vokalwechsel erfolgt (Umlaut: Brüder). Bei einem Lexem handelt es sich also um eine abstrakte sprachliche Einheit, welche die Eigenschaften eines Worts verzeichnet, die nicht durch Regeln vorhersagbar sind (in einem Wörterbuch steht hier die sog. Nennform eines Worts; bei Substantiven entspricht diese im Deutschen dem Nominativ Singular).
Lexem (lexikalisches Wort): Ein Lexem ist eine abstrakte lexikalische Basiseinheit, die Informationen über grundlegende Eigenschaften wie Lautgestalt, Kernbedeutung, Wortart und invariante morphosyntaktische Merkmale enthält (plus gegebenenfalls Angaben über flektierte Formen, deren Gestalt nicht über Regeln ableitbar ist).
Wortform: Die lautliche Realisierung eines Lexems wird Wortform genannt. Wortformen sind in einem Paradigma organisiert, das alle Realisierungen eines Lexems enthält.
Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt uns, dass im Deutschen (wie in vielen anderen Sprachen) keine Eins-zu-eins-Beziehung von Wortform und grammatischer Funktion vorliegt. Das Paradigma weist insgesamt acht Zellen auf, die aber von lediglich vier verschiedenen Wortformen (Bruder, Bruder-s, Brüder, Brüder-n) besetzt werden. Einen solchen Zusammenfall verschiedener Wortformen bzw. Zellen eines Paradigmas bezeichnet man auch als Synkretismus. Synkretismen treten oft in bestimmten Mustern auf, die für das Flexionssystem einer Sprache charakteristisch sind (so fallen bei Substantiven im Deutschen systematisch im Plural Nominativ, Akkusativ und Genitiv zusammen, vgl. Kapitel 4 für weitere Details). Um dennoch zwischen Wörtern mit gleicher Form, aber unterschiedlichem Merkmalsgehalt unterscheiden zu können, wird der Begriff des syntaktischen Worts benötigt (vgl. auch Abschnitt 2.1):
Syntaktisches Wort: Syntaktische Wörter sind konkret auftretende Wörter, wie sie in tatsächlichen Sätzen bzw. syntaktischen Strukturen vorkommen. Ein syntaktisches Wort besteht aus einer Wortform und Angaben zu den morphosyntaktischen Merkmalen/Kategorien, für die die Wortform steht.
Der Satz in (8) besteht somit aus sieben verschiedenen syntaktischen Wörtern – obwohl glaube und Glaube formgleich sind, werden sie als unterschiedliche syntaktische Wörter behandelt. Dies kann man durch Angabe der entsprechenden Merkmale/Kategorien wie in (9) explizit machen.
(8) | Ich glaube, der Glaube kann Berge versetzen. |
(http://www.medi-learn.de/foren/archive/index.php/ t-7693.html, 22.8.2017) |
(9) | a. | glaube (Verb), 1. Person Singular Präsens Indikativ |
b. | Glaube (Nomen), Maskulin Singular Nominativ |
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man offenbar zwischen verschiedenen abstrakten und konkreten Wortbegriffen unterscheiden muss, erscheinen die Probleme, die uns bei der Definition eines allgemeinen Wortbegriffs begegnet sind, in einem anderen Licht: Möglicherweise fällt es uns deshalb schwer, eine geeignete Festlegung zu entwickeln, weil ein Wort stets in mehreren Erscheinungsformen auftritt, die sich im Rahmen einer allgemeinen Definition nur schwer unter einen Hut bringen lassen.
2.3 Wortbausteine und andere Bildungsmittel
2.3.1 Morph und Morphem
Wir haben bereits gesehen, dass Wörter aus mehreren Bausteinen zusammengesetzt sein können. Diese Wortbausteine, die unterhalb der Wortebene auftreten können, nennt man Morpheme. Das Morphem ist die zentrale Analyseeinheit innerhalb der Morphologie. In Anlehnung an den Begriff des Phonems, das üblicherweise als kleinste bedeutungsdifferenzierende (lautliche) Einheit (im Deutschen z.B. /b/ vs. /p/ wie in Bein vs. Pein) definiert wird, wird das Morphem traditionell als die kleinste bedeutungstragende sprachliche Einheit charakterisiert, d.h. als ein sprachliches Element, das nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und bestimmter Bedeutung zerlegt werden kann. Ein wesentlicher Aspekt dieser Definition besteht darin, dass die Bedeutung eines Morphems nicht aus den Bedeutungen der sprachlichen Einheiten abgeleitet werden kann, in die sich das Morphem zerlegen lässt. So besteht das deutsche Wort Wolke aus den beiden Silben wol- und -ke, aber es ist nicht möglich, die Bedeutung von Wolke auf etwaige Bedeutungen der Segmentfolgen wol- und -ke zurückzuführen. Wolke stellt also ein einfaches Morphem dar – gleichzeitig ist es aber auch ein Wort. Eine bedeutungsbezogene Definition des Morphembegriffs kann zwar einen großen Bereich der in unserem mentalen Lexikon verzeichneten Wortbausteine korrekt erfassen. Probleme bereiten ihr aber Wörter und Wortbausteine, die man gerne als Morpheme bezeichnen würde, obwohl es schwerfällt, ihren Bedeutungsgehalt eindeutig zu charakterisieren. Auf den ersten Blick scheint dies für viele Wortbausteine wie ent-, ver-, -er, -lich, -ung etc. zu gelten. Bei näherer Betrachtung kann man aber erkennen, dass viele dieser Elemente einen eindeutigen (wenn auch bisweilen etwas abstrakteren) semantischen Gehalt besitzen. So werden die meisten Sprecher dem Morphem -er in Kinder korrekterweise die Bedeutung ‚Plural‘ zuordnen. Und nach einigem Nachdenken wird man vielleicht darauf kommen, dass die Bedeutung eines adjektivbildenden Suffixes wie -lich sich in etwa durch ‚wie ein X‘ wiedergeben lässt (z.B. kind-lich). Anders gelagert ist der Fall aber bei einem Element wie -en, das in erster Linie eine grammatische Funktion erfüllt und u.a. dazu dient, den Infinitiv von Verben zu bilden. Hier scheint das Element, das wir gerne als Morphem einordnen würden, tatsächlich keinen eindeutigen semantischen Gehalt aufzuweisen. Schwierigkeiten dieser Art lassen sich durch eine weiter gefasste Definition des Morphembegriffs vermeiden, die nicht ausschließlich auf die Bedeutung eines Elements Bezug nimmt (vgl. Wurzel 1984):
Morphembegriff: Morpheme sind minimale sprachliche Einheiten, die nicht mehr weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und mindestens einer außerphonologischen Eigenschaft zerlegt werden können.
Die außerphonologische Eigenschaft, auf die diese Definition Bezug nimmt, kann sich auf die Bedeutung beziehen, die mit einer bestimmten Segmentfolge verknüpft ist (z.B. bei Elementen wie Wolke, Gurke, grün, -lich etc.). Es kann sich jedoch auch um eine grammatische Eigenschaft handeln, die im Fall von -en eben darin besteht, die Infinitivform von Verben zu bilden. Ähnliches gilt für viele Flexionsendungen (z.B. Kasusmorpheme), aber auch für bestimmte Wörter/freie Morpheme wie den Infinitivmarkierer zu oder das semantisch neutrale sog. Vorfeld-es, dessen (syntaktische) Funktion lediglich darin besteht, in Sätzen wie Es wird gearbeitet die satzinitiale Position zu füllen. Die obige Definition erlaubt es auch, Interjektionen wie wow, pff, äh als Morpheme zu bestimmen, nur dass hier die relevante außerphonologische Eigenschaft einer bestimmten semantisch-pragmatischen Funktion entspricht (z.B. Ausdruck von Emotionen und Sprechereinstellungen wie Überraschung, Ablehnung etc.). Ein liberalerer Morphembegriff scheint also nötig zu sein, um auch sprachliche Einheiten als Morpheme identifizieren zu können, die durch das Raster einer rein bedeutungsbezogenen Definition fallen würden.
Analog zur Unterscheidung zwischen Phon (lautliches Segment) und Phonem (bedeutungsveränderndes lautliches Segment) unterscheidet man in der Morphologie ferner zwischen Morphen und Morphemen. Ein Morph ist eine Segmentfolge, die eine bestimmte Markierungsfunktion ausübt, ohne dass diese näher spezifiziert wird. So kann man Bretter und später morphologisch jeweils als eine Kombination aus zwei Morphen (Brett/spät + -er) analysieren.