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Sinclair Lewis: Die großen Romane . Sinclair LewisЧитать онлайн книгу.

Sinclair Lewis: Die großen Romane  - Sinclair Lewis


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      Sie war oft zu den wöchentlichen Zusammenkünften des Frauenstudierklubs Thanatopsis eingeladen worden, hatte es aber immer verschoben, hinzugehen. Vida Sherwin hatte immer wieder gesagt: »Der Thanatopsis ist eine so gemütliche Gesellschaft, und doch bringt er einen in Berührung mit allen intellektuellen Gedanken, die es gibt.«

      An einem der ersten Märztage kam Frau Westlake, die Frau des alten Arztes, wie ein liebenswürdiges altes Kätzchen zu Carola ins Zimmer und meinte: »Meine Liebe, heute nachmittag müssen Sie wirklich in den Thanatopsis kommen. Frau Dawson hat den Vorsitz, und die arme Haut ist in Todesangst. Sie wollte durchaus, daß ich Sie überrede, hinzukommen. Sie sagt, sie ist überzeugt davon, daß Sie uns allen mit Ihrer Bücherkenntnis recht viel zu sagen haben. Englische Poesie ist heute unser Thema. Also vorwärts! Ziehen Sie Ihren Mantel an!«

      »Englische Poesie? Wirklich? Ich würde gern kommen. Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie Gedichte lesen.«

      »Oh, wir sind nicht so dumm!«

      Frau Luke Dawson, die Frau des reichsten Mannes in der Stadt, starrte sie erbärmlich an, als sie zu ihr kamen. Ihr teures biberfarbenes Satinkleid mit dem Behang prächtiger brauner Perlen schien für eine zweimal so starke Frau gearbeitet zu sein. Sie stand händeringend vor neunzehn Klappstühlen in ihrem Vordersalon mit der verblaßten, aus dem Jahre 1890 stammenden Photographie der Minnehaha-Fälle, mit der »kolorierten Vergrößerung« von Herrn Dawson und der zwiebelförmigen Lampe, die mit sepiabraunen Kühen und Bergen bemalt war und auf einer marmornen Grabsäule stand.

      Sie krächzte: »O Frau Kennicott, ich sitz' ja so in der Tinte. Ich soll den Vorsitz in der Diskussion haben, und ich hab' mir immer den Kopf zerbrochen, ob Sie kommen und mir helfen werden?«

      »Welchen Dichter nehmen Sie heute durch?« fragte Carola in ihrem Bibliothekston, in dem sie früher gefragt hatte: »Welches Buch wollen Sie haben?«

      »Nanu, die englischen.«

      »Doch nicht alle?«

      »Wieso, ja. Wir lernen in diesem Jahr die ganze europäische Literatur. Der Klub ist auf ein so nettes Magazin abonniert, ›Bildung in tausend Worten‹, und wir halten uns an die Programme, die darin aufgestellt werden. Im vorigen Jahr war unser Thema ›Biblische Männer und Frauen‹, und im nächsten Jahr werden wir wahrscheinlich ›lnnendekoration und Porzellan‹ durchnehmen. Ja, ja, es gibt schon allerhand Arbeit, wenn man sich mit diesen ganzen neuen Bildungssachen auf dem Laufenden halten will. Aber es ist so veredelnd. Also, Sie wollen mir heute bei der Diskussion helfen?«

      Auf dem Weg hatte Carola beschlossen, den Thanatopsisklub zum Werkzeug zu machen, mit dem sie die Stadt liberalisieren würde. Sie hatte sich sofort in eine ungeheure Begeisterung gestürzt; sie hatte gejubelt: »Das sind die richtigen Leute. Wenn die Hausfrauen, die die ganze Last zu tragen haben, sich für Lyrik interessieren, dann hat das etwas zu bedeuten. Ich werde mit ihnen arbeiten – für sie – alles!«

      Ihre Begeisterung war schon sehr klein geworden, noch bevor dreizehn Frauen sich entschlossen ihrer Überschuhe entledigten, sich wuchtig niedersetzten, Pfefferminztabletten aßen, sich die Hände rieben, die Hände falteten, ihre armseligen Gedanken versammelten und die nackte Muse der Dichtkunst aufforderten, ihnen ihre höchst veredelnde Botschaft zu überbringen. Sie hatten Carola zärtlich begrüßt, und sie versuchte, töchterlich zu ihnen zu sein. Doch sie fühlte sich unsicher. Ihr Stuhl stand ganz frei, allen Blicken ausgesetzt; es war ein harter, wackliger, unsicherer Blechstuhl, bei dem man darauf gefaßt sein mußte, daß er ohne jede vorhergehende Warnung plötzlich in aller Öffentlichkeit zusammenbrach. Es war unmöglich, anders auf ihm zu sitzen, als mit verschränkten Händen und ergeben lauschend.

      Am liebsten hätte sie den Stuhl umgeworfen und wäre davongelaufen. Das hätte einen großartigen Lärm gemacht.

      Sie sah, daß Vida Sherwin sie beobachtete. Sie packte sich am Handgelenk, wie ein unruhiges Kind in der Kirche, und als sie ihre Sicherheit wieder hatte und sittsam war, hörte sie zu.

      Frau Dawson eröffnete die Versammlung, indem sie seufzte: »Ich freue mich sehr, daß ich Sie alle heute hier sehe, und man hat mir gesagt, daß die Damen eine Anzahl sehr interessanter Vorträge vorbereitet haben, das ist ein so interessanter Gegenstand, die Dichter, sie haben zu höheren Gedanken inspiriert, ja, hat nicht Reverend Benlick gesagt, daß einige von den Dichtern uns ebenso inspiriert haben wie eine große Anzahl der Geistlichen, und wir werden also mit Vergnügen hören –«

      Die arme Dame lächelte wie unter Nervenschmerzen, keuchte vor Angst, tappte auf dem Eichentischchen herum, um ihr Augenglas zu suchen, und fuhr fort: »Zunächst werden wir das Vergnügen haben, Frau Jenson über ›Shakespeare und Milton‹ zu hören.«

      Frau Ole Jenson sagte, Shakespeare sei 1564 geboren und 1616 gestorben. Er habe in London, England, und in Stratford-on-Avon gelebt, einem lieblichen Städtchen mit vielen Kuriositäten und sehenswerten alten Häusern, das viele amerikanische Touristen gerne besuchen. Viele Leute seien der Ansicht, Shakespeare sei der größte Theaterschriftsteller, der gelebt habe, und auch ein ausgezeichneter Dichter. Von seinem Leben sei nicht viel bekannt, aber schließlich mache das nicht sehr viel, weil man seine zahlreichen Stücke gern lese, deren bekannteste sie jetzt besprechen werde.

      Das am besten bekannte seiner Stücke sei wohl »Der Kaufmann von Venedig«, der eine schöne Liebesgeschichte und eine prächtige Würdigung des weiblichen Verstandes enthalte, die ein Frauenklub, auch wenn er sich nicht der Frauenrechtfrage widme, würdigen solle. (Lachen.) Frau Jenson war überzeugt, sie für ihre Person würde gerne wie Portia sein. Das Stück handle von einem Juden namens Shylock, und dieser wünsche nicht, daß seine Tochter einen venetianischen Edelmann namens Antonio heirate.

      Frau Leonard Warren, eine zierliche, graue, nervöse Dame, Präsidentin des Thanatopsis und Frau des Kongregationalisten-Pastors, berichtete über die Geburts- und Todesdaten Byrons, Scotts, Moores und Burns; sie schloß mit den Worten:

      »Burns war ein ganz armer Junge und genoß nicht die vorteilhaften Gelegenheiten, die wir heute genießen, er hatte nur die schöne alte schottische Kirche, in der er das Wort Gottes furchtloser predigen hörte, als es heute auch in den schönsten großen Ziegelkirchen in den großen und sogenannten fortgeschrittenen Städten geschieht, aber nicht die Vorzüge unserer Erziehung und des Lateinischen und der anderen Geistesschätze, die heute vor die, leider! zu oft unaufmerksamen Füße unserer Jugend gestreut werden, die nicht die Vorrechte zu schätzen weiß, die in so großzügiger Weise allen amerikanischen Knaben, reich und arm, gewährt sind. Burns mußte angestrengt arbeiten und wurde manchmal von schlechter Gesellschaft zu niedrigen Gewohnheiten verführt. Aber es ist moralisch lehrreich zu wissen, daß er ein guter Student war und sich selbst erzog, in schreiendem Gegensatz zu den lockeren Pfaden und dem sogenannten aristokratischen Gesellschaftsleben Lord Byrons, von dem ich eben gesprochen habe. Und wenn auch die Lords und Earls seiner Tage sicherlich auf Burns als einen niedrigen Menschen herabblickten, viele von uns haben sich an seinen Sachen über die Maus und andere ländliche Gegenstände mit ihrer Botschaft von demütiger Schönheit höchlichst erfreut – und es tut mir leid, daß ich nicht genug Zeit habe, einige davon zu zitieren.«

      Frau George Edwin Mott widmete Tennyson und Browning zehn Minuten.

      Frau Nat Hicks brachte die schwere Aufgabe des Tages mit einer Vorlesung über »Andere Dichter« zu Ende. Die anderen beachtenswerten Dichter waren Coleridge, Wordsworth, Shelley, Gray, Frau Hemans und Kipling.

      Fräulein Ella Stowbody hatte die Liebenswürdigkeit, »Die Abschiedshymne« und Auszüge aus »Lalla Rookh« zu rezitieren. Auf Wunsch gab sie »Mein süßes Lieb« zu.

      Gopher Prairie war mit den Dichtern fertig. Es war bereit für die Arbeit der nächsten Woche: Die belletristische und essayistische Literatur Englands.

      Frau Dawson sagte: »Jetzt folgt eine Diskussion über die Vorträge. Ich bin sicher, es wird uns allen eine Freude sein, jemand zu hören, den wir bald als neues Mitglied zu begrüßen hoffen, Frau Kennicott, die mit ihrer glänzenden literarischen Vorbildung und so in der Lage sein wird, uns viele Winke und – viele hilfreiche Winke zu


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