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Judentum. Eine kleine Einführung. Norman SolomonЧитать онлайн книгу.

Judentum. Eine kleine Einführung - Norman  Solomon


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erfordern, wer und wer nicht dazugehört. Derlei Gemeinschaften und Organisationen sollten den Spielraum gegenseitiger Toleranz und Anerkennung maximal ausschöpfen. Mögen manche Menschen sich auch unsicher fühlen, wenn die Normen unscharf definiert sind, so wäre es doch ein größeres Übel, wenn die individuelle Freiheit unterdrückt und die Evolution des Judentums blockiert würde.

      Niemand kann wissen, welche Formen die jüdische Identität annehmen wird, wenn sich die Wogen über dem Neuen Europa geglättet haben und ein dauerhafter Friede im Nahen Osten und in Israel eingekehrt ist. Zweifellos werden neue und andere Formen des Judentums und der jüdischen Identität entstehen. Narren mögen voraussagen, wie diese »Judaismen« aussehen werden; womöglich wird die Zukunft sie widerlegen, aber daraus entsteht kein großer Schaden. Schurken, die nach Macht streben, versuchen, der Zukunft ihre eigenen Strukturen zu oktroyieren; wahrscheinlich werden sie scheitern, jedoch bei dem Versuch sicher großen Schaden anrichten.

      2 Wie kam es zur Spaltung von Judentum und Christentum?

      Unsere Geschichte beginnt

      Wann entstand die jüdische Religion? Ist sie wirklich »die älteste Religion der Welt«?

      Gewiss nicht, wenn wir glauben, was die Experten uns über die menschliche Frühgeschichte berichten. Nach den Bildern zu schließen, die sie in ihren Höhlen malten, und der Art, wie sie ihre Toten begruben, besaßen die frühen Steinzeitmenschen – vor Zehntausenden von Jahren – ziemlich sicher religiöse Überzeugungen und Rituale. Ägypten samt seinen Tempeln und seiner Religion war schon alt, als der junge Moses im Pharaonenpalast lebte.

      Aber vielleicht will man gerade dem schlichten Text der Bibel folgen. In diesem Fall hängt die Antwort davon ab, was man unter »Judentum« versteht. Meint man die Religion des Abraham (etwa 800 vor der Zeitwende [v. d. Z.]), der angeblich der Urahn des jüdischen Volkes (und übrigens auch der Araber) war?

      Oder entstand das Judentum, als Moses die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai empfing, ungefähr fünf oder vier Jahrhunderte nach Abraham? Oder später, als die Hebräische Schrift (das »Alte Testament«) abgeschlossen wurde?

      Alle diese Antworten werfen ein großes Problem auf. Was wir heute als jüdischen Glauben betrachten, unterscheidet sich von der biblischen Religion in mancherlei Hinsicht. So glauben die Juden nicht wörtlich an das Prinzip »Auge um Auge«. Und obgleich die Hebräische Schrift zu diesem Thema nichts Eindeutiges sagt, ist die jüdische Tradition in hohem Maße der Vorstellung verpflichtet, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Daher kann keine Rede davon sein, dass die jüdische Religion, wie wir sie heute kennen, drei- oder viertausend Jahre alt sei. Was wir allenfalls sagen können, ist, dass die »Wurzeln« der jüdischen Religion – die frühesten Teile der Bibel – so alt sind.

      Wie das »jüdische Jahr« berechnet wird

      Für die traditionalistischen Juden beginnt die Geschichte gemäß der Bibel mit Adam und Eva. Danach ergibt sich als Datum für die Erschaffung Adams 3760 v. d. Z., weshalb die jüdische Zeitrechnung, die für religiöse Zwecke noch immer in Gebrauch ist, viele Jahre vor AD (anno domini) beginnt. 1998 entspricht somit AM 5758, 2000 AM 5760 (AM steht für anno mundi oder Jahre seit der Schöpfung der Welt)

      Wenn wir in diesem Buch über das Judentum sprechen, meinen wir indessen mehr als diese Wurzeln. Wir meinen die in der Bibel wurzelnde Lebensform, wie sie etwa seit dem 2. Jahrhundert n. d. Z. von den Rabbinen geprägt wurde. Dieses »rabbinische Judentum« ist das Fundament aller heute existierenden Formen des Judentums. Zweifellos messen die reformierten Juden den Lehren der Rabbinen weit weniger Gewicht bei als die orthodoxen Juden (Differenzen zwischen Orthodoxen und Reformern kommen in Kapitel 7 zur Sprache). Doch sowohl für Reformer als auch für Orthodoxe ist das rabbinische Judentum der Bezugspunkt ihres Glaubens und ihrer religiösen Praxis.

      Manchmal wird der rabbinische Glaube auch als Religion der »doppelten Thora« bezeichnet, denn neben der schriftlichen Thora (der Hebräischen Schrift) erkennt er auch eine »mündliche Thora«, eine Überlieferung, die das geschriebene Wort interpretiert und ergänzt, an. (Gelegentlich begegnet man den Ausdrücken »geschriebenes Gesetz« und »mündliches Gesetz«. »Gesetz« ist freilich keine adäquate Übersetzung von »Thora«; genauer sind »Weg«, »Lehre« oder »Weisung«, wie Martin Buber sagt.)

      Nun führen Christen wie Juden ihre geistige Herkunft gern auf Moses, Abraham und Adam und Eva zurück – mit dem kleinen Unterschied, dass der englische Bischof Ussher für die Erschaffung von Adam und Eva das Jahr 4004 v. d. Z. berechnete, und nicht wie die Juden das Jahr 3760 v. d. Z. Auch die Christen beanspruchen die Thora – die Hebräische Schrift – für sich. Sie interpretieren sie genau wie die Juden nicht in ihrem Wortsinn. Aber sie legen sie nicht gemäß der »mündlichen Thora« der Rabbinen aus, sondern im Licht des Neuen Testaments.

      Die unterschiedlichen Interpretationen wurden allerdings erst mit den Paulus-Briefen evident. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt – vielleicht in der Mitte des 1. Jahrhunderts, der Generation nach Jesus – gab es zwischen Judentum und Christentum noch keine Scheidelinie. Jesus hat nie von sich selbst geglaubt, er predige eine andere Religion als die jüdische oder die Thora:

      »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Matth. 5,15).

      Wenn man Jesus oder irgendeinen seiner Jünger gefragt hätte, was ihre Religion sei, hätten sie geantwortet: die jüdische.

      Warum also kam es zur Spaltung? Warum entstanden zwei getrennte, wenn auch eng verbundene Religionen? Darüber gibt es eine traditionelle jüdische und eine traditionelle christliche Ansicht.

      Die traditionelle jüdische Auffassung besagt, dass das Judentum eine uralte, von Moses am Berg Sinai empfangene Religion sei, die das jüdische Volk seitdem unverändert bewahrt habe. Irgendwann im 1. Jahrhundert lehrte Jesus, gefolgt von Paulus, eine neue Religion. Wichtige Teile entlehnte Jesus aus dem jüdischen Glauben, vermischte sie aber mit etlichen abstrusen und unrichtigen Ideen. Unter anderem verkündete er, er sei der Messias oder gar der »Fleisch gewordene« Gott.

      Die traditionelle christliche Version besagt, dass der jüdische Glaube eine uralte, von Moses am Berg Sinai empfangene Religion sei, welche die Juden seitdem sorgfältig bewahrt hätten. Irgendwann im 1. Jahrhundert erschien Jesus und »vervollkommnete« diese Religion, indem er sie zu ihrem Abschluss brachte. Leider haben die Juden das Geschehene nicht dankbar anerkannt, sondern sich starrsinnig an die obsolete Form ihrer Religion geklammert.

      Beiden Auffassungen ist gemeinsam, dass es zwei verschiedene Religionen gibt, die beide zu einem bestimmten Zeitpunkt ›fertig‹ vom Himmel gesandt oder erfunden wurden – die eine in den Tagen des Moses, die andere in den Tagen des Jesus von Nazareth. Sie unterscheiden sich in ihrer Bewertung des zweiten zentralen Ereignisses und dessen Verhältnisses zum ersten. Beide aber stimmen darin überein, dass die ›Mutter‹-Religion der jüdische Glaube und das Christentum die ›Tochter‹ sei, wenn auch (aus jüdischer Sicht) eine auf Abwege geratene.

      Nach den Ergebnissen der historischen Forschung zu urteilen, gehen jedoch beide Versionen gewaltig fehl. Weder trat der jüdische Glaube irgendwann um 1400 v. d. Z. vollentwickelt ins Leben, noch verkündete Jesus um das Jahr 30 n. d. Z. – und nicht einmal Paulus eine Generation später – ein christliches Glaubensbekenntnis oder den Katechismus einer ›fertigen‹ Kirche. Beide Religionen durchliefen eine jahrhundertelange Entwicklung, ehe ihre Texte, Riten und Überzeugungen ihre ›traditionelle‹ Form gewannen. Sie haben zusammen existiert und sich als Reaktion auf veränderte Situationen und Erkenntnisse bis auf den heutigen Tag weiterentwickelt. Ja, sowohl das Judentum als auch das Christentum bestimmen sich heute so kraftvoll wie eh und je neu im Licht der modernen Wissenschaft, entwickeln zeitgemäße moralische Positionen und ein neues Verständnis der Weltprobleme.

      So seltsam es klingen mag: der Talmud und andere grundlegende Schriften des rabbinischen Judentums entstanden tatsächlich später als die Evangelien, die grundlegenden Texte des Christentums. Als der Papst kürzlich von den Juden als den »älteren Brüdern« der Christen sprach, irrte er sich. Natürlich sind wir beide ›Kinder‹ der Hebräischen Schrift, doch von


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