Judentum. Eine kleine Einführung. Norman SolomonЧитать онлайн книгу.
und Christentum?
Wenn man heute nach Israel reist, kann man Synagogen und Kirchen ebenso besichtigen wie heilige Stätten der Muslime, der Drusen, der Bahai, und man genießt die Verschiedenartigkeit der religiösen Kulte, an denen dieses Land so reich ist. Verlangt es einen mehr nach detaillierterem Wissen und religiöser Erbauung, so kann man eine Zeitlang eine oder mehrere der zahlreichen Jeschiwot – religiöse Seminare der verschiedenen Religionen und Konfessionen – studieren oder zu Füßen eines großen, inspirierenden Lehrers sitzen.
In den Tagen Jesu wäre dies ebenso möglich gewesen. Und viele nutzten dies. Josephus, Sohn des Mattathias, der Nachwelt besser bekannt als der Soldat und Historiker Flavius Josephus, unternahm als Jugendlicher in den fünfziger Jahren des 1. Jahrhunderts eben solch eine Rundreise, auf seiner persönlichen Suche nach spiritueller Erkenntnis. Später, unter der Schirmherrschaft des Kaisers Vespasian in Rom lebend, zeichnete er diese Erfahrungen in seiner Autobiographie und seinen Jüdischen Altertümern auf.
Nach Josephus waren die Juden im 1. Jahrhundert in vier Sekten oder »Philosophien« gespalten. Die Pharisäer – die Gruppe, zu der er sich persönlich am stärksten hingezogen fühlte – leben nach seinem Urteil bescheiden, wie es die Vernunft gebietet. Sie achten die Älteren und glauben an die göttliche Vorsehung, an Willensfreiheit und persönliche Unsterblichkeit. Beim Volk, das sie im Gebet und Opfer anleiten, sind sie angesehen. Die Sadduzäer hingegen leugnen das Leben nach dem Tode und befolgen ausschließlich die expliziten Gebote der Schrift. Die Essener – viele Forscher identifizieren sie mit der Sekte, die uns heute durch die Schriftrollen vom Toten Meer bekannt ist – schreiben alle Dinge Gott zu und lehren die Unsterblichkeit der Seele. Ausgezeichnet durch ihren tugendhaften Lebenswandel, meiden sie aufgrund strenger ritueller Reinheitsvorschriften das Tempelopfer und besitzen alles gemeinsam; sie heiraten nicht und halten keine Dienstboten. Josephus behauptet, er habe drei Jahre bei Banus, einem ihrer Lehrer, verbracht, welcher »in der Wüste lebte, nur Kleidung trug, die auf Bäumen wuchs, und ausschließlich Nahrung aß, die von selbst gedieh«. Die vierte Gruppe, die Josephus nicht aufsucht, nennt er die Zeloten. In den meisten Dingen stimmen sie mit den Pharisäern überein, übertreffen sie aber noch in ihrer Bereitschaft, für die Freiheit von aller Herrschaft außer der göttlichen zu sterben.
Das religiöse Leben im Palästina des 1. Jahrhunderts war sogar noch vielfältiger, als Josephus meint. Es gab zwar noch keine Muslime, Drusen oder Bahai, wie man sie im heutigen Israel antrifft. Doch da waren die Samariter, eine jüdische Sekte mit einer anderen ethnischen Identität und einem eigenen Tempel auf dem Berg Garizim. Da waren die Mystiker, die esoterisches Wissen von den »himmlischen Palästen« und dem Aufstieg zu Gott für sich beanspruchten. Es gab die apokalyptischen Visionäre, die das göttliche Gericht und das Ende der Welt verkündeten. Zu der Zeit, als Josephus seine spirituelle Reise unternahm, muss es auch etliche Gruppen von Anhängern Jesu gegeben haben. Allerdings scheinen sie seine Aufmerksamkeit nicht auf sich gezogen zu haben. Außer den Spielarten der jüdischen Religiosität gab es noch die heidnischen und »Mysterien«-Kulte, die im Römischen Reich weit verbreitet waren, schließlich die Religion des Zoroaster (Zarathustra), die im Osten dominierte. An jenen Ausprägungen zeigt Josephus jedoch wenig Interesse; indessen war er offensichtlich in der griechischen Kultur, vor allem in Geschichte und Philosophie, sehr bewandert.
Das Christentum war also im Jahr 50 eine kleinere jüdische Sekte und das Judentum selbst der Kult einer Minderheit innerhalb des Römischen Reiches. Aus der Geschichte wissen wir, dass die kleinen Jesus-Gruppen sich von ihrer »Mutter« trennten und innerhalb von ein paar Jahrhunderten die alten heidnischen Kulte als führende Religion Europas verdrängten, dass die »Philosophie« der Pharisäer sich zum rabbinischen Judentum entwickelte und dass der Islam seit dem 7. Jahrhundert ähnliche Vorstellungen von Gott und der Gesellschaft in weite Teile Afrikas und Asiens trug.
Doch warum trennten sich die Anhänger Jesu schließlich von ihren jüdischen Brüdern? Und warum entstand dieser gegenseitige Hass zwischen den zwei Religionen, die beide die Nächstenliebe predigten?
Warum kam es zur Spaltung?
Von einer erbitterten Konfrontation zwischen den Führern der jüngst gegründeten christlichen Sekte – vermutlich irgendwann zwischen 50 und 60 n. d. Z. – berichtet das 15. Kapitel der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Um diese Zeit hatte Paulus, der bis dahin die Anhänger Jesu unerbittlich bekämpft hatte, seine berühmte Vision auf der Straße nach Damaskus erlebt, worauf er sich der von ihm zuvor verachteten Sekte anschloss. Mit seinem Freund Barnabas kehrte er von Antiochia in Syrien nach Jerusalem zurück, um bei den »Ältesten« um Unterstützung für seine Auffassung zu werben, dass zum Christentum konvertierte Heiden sich weder beschneiden lassen noch dem »Gesetz des Moses« gehorchen mussten.
Es gab eine hitzige Debatte. Während Paulus und Petrus (beide selbst Juden) für eine Lockerung der strengen Anforderungen des Gesetzes plädierten, um den Heiden die Konversion zu erleichtern, hielten andere die uneingeschränkte Verpflichtung gegenüber der Thora und ihren Gesetzen für sakrosankt. Jakobus, der Bruder Jesu, machte schließlich den Vorschlag, man solle den Heiden keine zu große Bürde auferlegen und sie nur anweisen, »Verunreinigung durch Götzenopfer[fleisch] und Unzucht zu meiden und weder Ersticktes noch Blut zu essen« (Apg. 15,29). Dieser Kompromiss, heißt es in der Apostelgeschichte weiter, wurde von der Versammlung angenommen und ein entsprechender Brief nach Antiochia, Syrien und Kilikien abgesandt.
Aus anderer Quelle ist jedoch bekannt, dass dieser Kompromiss keine einhellige Unterstützung fand. Paulus selbst erklärte immer wieder das »Gesetz des Moses« (wozu etwa das Verbot, Fleisch von erstickten Tieren zu essen, gehörte) für obsolet. Andererseits blühte eine Zeitlang die »judenchristliche« Gemeinde, welche die »Thora des Moses« vollständig befolgte und ihre besondere Identität trotz der Marginalisierung durch paulinische Christen jahrhundertelang bewahrte; vermutlich gehörte ihr auch Jakobus an. Über ihre Version des Jerusalemer Apostelkonzils können wir nur spekulieren, denn es waren Paulus’ Nachfolger, die das Neue Testament verfassten und so das spätere Christentum prägten. Geschichte wird von den Siegern geschrieben – in einer Perspektive, die ihre Interpretation der Ereignisse rechtfertigt.
Was immer sich bei dem Konzil in Jerusalem abgespielt haben mag, der Bericht in der Apostelgeschichte wirft ein Schlaglicht auf die Ursachen, die Juden und Christen entzweiten. Offensichtlich war man sich uneinig darüber, ob gewisse Gesetze der Thora noch immer galten. Nicht nur ein Streit über die Glaubenslehre war entbrannt, es drohte vielmehr auch eine gesellschaftliche Spaltung. Eine Nation oder Religionsgemeinschaft definiert ihre Identität über Gesetze, Bräuche und Rituale. Mögen kleinere Meinungsverschiedenheiten oder individuelle Irrtümer sich manchmal eindämmen lassen, den kollektiven Bruch mit den tradierten Gesetzen wird man als Identitätsverlust wahrnehmen. Der Plan des Paulus, die Heiden in die Gemeinschaft der Gläubigen zu integrieren – den »Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum« einzupfropfen und ihn an der »Kraft seiner Wurzel« teilhaben zu lassen, wie er sich (Röm. 11,17) ausdrückt – erwies sich als unvereinbar mit dem jüdischen Selbstverständnis als Volk oder Gemeinschaft. Statt »Juden und Heiden« zu vereinen, schuf dieser Plan zwei feindliche Gruppen, von denen jede behauptete, das »wahre Israel« zu repräsentieren.
Aus der Apostelgeschichte geht auch hervor, dass sich die Anhänger Jesu um das Jahr 50 als eine besondere Gruppe konstituiert hatten, die mit der jüdischen religiösen Führung in Jerusalem im Streit lag. Andere ›oppositionelle‹ Gruppen – etwa die Sekten vom Toten Meer – stritten sich ebenfalls mit der Jerusalemer Führung, ohne sich als neue Religionen von ihr abzuspalten. Warum war es in diesem Fall anders?
Der Anspruch der christlichen Sekte, dass es sich bei Jesus um den verheißenen Messias handele, reicht für sich genommen nicht aus, die Spaltung zu erklären; gleiches reklamierten auch andere Sekten für sich ohne solch weitreichende Folgen. Ungewöhnlich war indessen, dass eine Gruppe jemanden zum Messias erkor, der bekanntermaßen tot war. Und paradox musste die Behauptung klingen, dass der Messias just zu der Zeit gekommen war, als das Joch der römischen Fremdherrschaft schwerer denn je auf dem jüdischen Volk lastete und die verheißene Ära des Friedens nicht in Sicht war.
Es war nicht eine einzelne Ursache, sondern eine außergewöhnliche