Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Karl Philipp MoritzЧитать онлайн книгу.
seiner Mutter und Anverwandten, schlechterdings nicht schicken.
Nun war doch einer von Antons eifrigsten Wünschen, einmal in eine öffentliche Stadtschule gehen zu dürfen, zum Teil erfüllt.
Beim ersten Eintritt waren ihm schon die dicken Mauern, dunklen gewölbten Gemächer, hundertjährigen [46]Bänke, und vom Wurm durchlöcherten Katheder, nichts wie Heiligtümer, die seine Seele mit Ehrfurcht erfüllten.
Der Konrektor, ein kleines muntres Männchen, flößte ihm, ohngeachtet seiner nicht sehr gravitätischen Miene, dennoch durch seinen schwarzen Rock und Stutzperücke einen tiefen Respekt ein.
Dieser Mann ging auch auf einem ziemlich freundschaftlichen Fuß mit seinen Schülern um: gewöhnlich nannte er zwar einen jeden Ihr, aber die vier öbersten, welche er auch im Scherz Veteraner hieß, wurden vorzugsweise Er genannt.
Ob er dabei gleich sehr strenge war, hat doch Anton niemals einen Vorwurf noch weniger einen Schlag von ihm bekommen: er glaubte daher auch in der Schule immer mehr Gerechtigkeit, als bei seinen Eltern zu finden.
Er musste nun anfangen, den Donat auswendig zu lernen, allein freilich hatte er einen wunderbaren Akzent, der sich bald zeigte, da er gleich in der zweiten Stunde sein Mensa auswendig hersagen musste, und indem er Singulariter und Pluraliter sagte, immer den Ton auf die vorletzte Silbe legte, weil er sich beim Auswendiglernen dieses Pensums, wegen der Ähnlichkeit dieser Wörter mit Amoriter, Jebusiter, usw., fest einbildete, die Singulariter wären ein besonderes Volk, das Mensa, und die Pluraliter ein andres Volk, das Mensae gesagt hätte.
Wie oft mögen ähnliche Missverständnisse veranlasst werden, wenn der Lehrer sich mit den ersten Worten des Lehrlings begnügen lässt, ohne in den Begriff desselben einzudringen!
Nun ging es an das Auswendiglernen. Das amo, amem, amas, ames, ward bald nach dem Takte hergebetet, und in [47]den ersten sechs Wochen wusste er schon sein oportet auf den Fingern herzusagen; dabei wurden täglich Vokabeln auswendig gelernt, und weil ihm niemals eine fehlte, so schwang er sich in kurzer Zeit von einer Stufe zur andern empor und rückte immer näher an die Veteraner heran.
Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der nun zum ersten Male in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröffnet sahe, was er so lange vergeblich gewünscht hatte.
Auch zu Hause brachte er diese kurze Zeit ziemlich vergnügt zu, indem er alle Morgen, während dass seine Eltern Kaffee tranken, ihnen aus dem Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi vorlesen musste, welches er sehr gern tat.
Es ward alsdann darüber gesprochen, und er durfte auch zuweilen sein Wort dazu geben. Übrigens genoss er das Glück, nicht viel zu Hause zu sein, weil er noch die Stunden seines alten Schreibmeisters zu gleicher Zeit besuchte, den er, ohngeachtet mancher Kopfstöße, die er von ihm bekommen hatte, so aufrichtig liebte, dass er alles für ihn aufgeopfert hätte.
Denn dieser Mann unterhielt sich mit ihm und seinen Mitschülern oft in freundschaftlichen und nützlichen Gesprächen, und weil er sonst von Natur ein ziemlich harter Mann zu sein schien, so hatte seine Freundlichkeit und Güte desto mehr Rührendes, das ihm die Herzen gewann.
So war nun Anton einmal auf einige Wochen in einer doppelten Lage glücklich: Aber wie bald wurde diese Glückseligkeit zerstört! Damit er sich seines Glücks nicht überheben sollte, waren ihm fürs Erste schon starke Demütigungen zubereitet.
[48]Denn ob er nun gleich in Gesellschaft gesitteter Kinder unterrichtet ward, so ließ ihn doch seine Mutter die Dienste der niedrigsten Magd verrichten.
Er musste Wasser tragen, Butter und Käse aus den Kramläden holen, und wie ein Weib mit dem Korbe im Arm auf den Markt gehen, um Esswaren einzukaufen.
Wie innig es ihn kränken musste, wenn alsdann einer seiner glücklichern Mitschüler hämisch lächelnd vor ihm vorbeiging, darf ich nicht erst sagen.
Doch dies verschmerzte er noch gerne gegen das Glück in eine lateinische Schule gehen zu dürfen, wo er nach zwei Monaten so weit gestiegen war, dass er nun an den Beschäftigungen des öbersten Tisches, oder der sogenannten vier Veteraner, mit teilnehmen konnte.
Um diese Zeit führte ihn auch sein Vater zum ersten Male zu einem äußerst merkwürdigen Manne in H[annover], der schon lange der Gegenstand seiner Gespräche gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer, und war hundertundfünf Jahr alt.
Er hatte Theologie studiert, und war zuletzt Informator bei den Kindern eines reichen Kaufmanns in H[annover] gewesen, in dessen Hause er noch lebte, und von dem gegenwärtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen, und jetzt selber schon beinahe ein Greis geworden war, seinen Unterhalt bekam.
Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte, musste beständig Dinte und Feder bei der Hand haben, und ihm seine Gedanken schriftlich aufsetzen, die er denn sehr vernehmlich und deutlich mündlich beantwortete.
Dabei konnte er noch im hundertundfünften Jahre sein [49]kleingedrucktes griechisches Testament ohne Brille lesen, und redete beständig sehr wahr und zusammenhängend, obgleich oft etwas leiser, oder lauter, als nötig war, weil er sich selber nicht hören konnte.
Im Hause war er nicht anders, als unter dem Namen, der alte Mann, bekannt. Man brachte ihm sein Essen, und sonstige Bequemlichkeiten, übrigens bekümmerte man sich nicht viel um ihn.
Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater bei der Hand und sagte: »Komm, jetzt will ich dich zu einem Manne führen, in dem du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken wirst.«
Und indem sie hingingen, bereitete ihn sein Vater immer noch auf das, was er nun bald sehen würde, vor.
Sie traten ins Haus. Antons Herz pochte.
Sie gingen über einen langen Hof hinaus, und stiegen eine kleine Windeltreppe hinauf, die sie in einen langen dunkeln Gang führte, worauf sie wieder eine andre Treppe hinauf-, und dann wieder einige Stufen hinabstiegen: Dies schienen Anton labyrinthische Gänge zu sein.
Endlich öffnete sich linker Hand eine kleine Aussicht, wo das Licht durch einige Fensterscheiben, erst von einem andern Fenster hineinfiel.
Es war schon im Winter, und die Türe auswendig mit Tuch behangen; Antons Vater eröffnete sie: es war in der Dämmerung, das Zimmer weitläuftig und groß, mit dunkeln Tapeten ausgeziert, und in der Mitte an einem Tische, worauf Bücher hin und her zerstreut lagen, saß der Greis auf einem Lehnsessel.
Er kam ihnen mit entblößtem Haupt entgegen.
[50]Das Alter hatte ihn nicht daniedergebückt, er war ein langer Mann, und sein Ansehn war groß und majestätisch. Die schneeweißen Locken zierten seine Schläfe, und aus seinen Augen blickte eine unnennbare sanfte Freundlichkeit hervor. Sie setzten sich.
Antons Vater schrieb ihm einiges auf. »Wir wollen beten«, fing der Greis nach einer Pause an, »und meinen kleinen Freund mit einschließen.«
Drauf entblößte er sein Haupt und kniete nieder, Antons Vater neben ihm zur rechten, und Anton zur linken Seite.
Freilich fand dieser nun alles, was ihm sein Vater gesagt hatte, mehr als zu wahr. Er glaubte wirklich neben einem der Apostel Christi zu knien, und sein Herz erhob sich zu einer hohen Andacht, als der Greis seine Hände ausbreitete, und mit wahrer Inbrunst sein Gebet anhub, das er bald mit lauter, bald mit leiserer Stimme fortsetzte.
Seine Worte waren, wie eines, der schon mit allen seinen Gedanken und Wünschen jenseit des Grabes ist, und den nur noch ein Zufall etwas länger, als er glaubte, diesseits verweilen lässt.
So waren auch alle seine Gedanken aus jenem Leben gleichsam herübergeholt, und sowie er betete, schien sich sein Auge und seine Stirne zu verklären.
Sie standen vom Gebet auf, und Anton betrachtete nun den alten Mann in seinem Herzen beinahe schon wie ein höheres, übermenschliches Wesen.
Und als er den Abend zu Hause kam, wollte er schlechterdings mit einigen seiner Mitschüler sich nicht auf einem kleinen Schlitten