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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Karl Philipp MoritzЧитать онлайн книгу.

Anton Reiser. Ein psychologischer Roman - Karl Philipp Moritz


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aber nie mit der ersten Stärke, erwacht.

      Wie groß ist die Seligkeit der Einschränkung, die wir doch aus allen Kräften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines glückliches Eiland in einem stürmischen Meere: wohl dem, der in ihrem Schoße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stürme. Aber wehe dem, der von unglücklicher Neugier getrieben, sich über dies dämmernde Gebirge hinauswagt, das wohltätig seinen Horizont umschränkt.

      Er wird auf einer wilden stürmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle seine Reize für ihn verloren.

      Eine von Antons seligsten Erinnerungen aus den frühesten Jahren seiner Kindheit ist, als seine Mutter ihn in ihren Mantel eingehüllt, durch Sturm und Regen trug. Auf dem kleinen Dorfe war die Welt ihm schön, aber hinter dem [41]blauen Berge, nach welchem er immer sehnsuchtsvoll blickte, warteten schon die Leiden auf ihn, die die Jahre seiner Kindheit vergällen sollten.

      Da ich einmal in meiner Geschichte zurückgegangen bin, um Antons erste Empfindungen und Vorstellungen von der Welt nachzuholen, so muss ich hier noch zwei seiner frühesten Erinnerungen anführen, die seine Empfindung des Unrechts betreffen.

      Er ist sich deutlich bewusst, wie er im zweiten Jahre, da seine Mutter noch nicht mit ihm auf dem Dorfe wohnte, von seinem Hause nach dem gegenüberstehenden, über die Straße hin und wider lief, und einem wohlgekleideten Manne in den Weg rannte, gegen den er heftig mit den Händen ausschlug, weil er sich selbst und andre zu überreden suchte, dass ihm Unrecht geschehen sei, ob er gleich innerlich fühlte, dass er der beleidigende Teil war.

      Diese Erinnerung ist wegen ihrer Seltenheit und Deutlichkeit merkwürdig; auch ist sie echt, weil der Umstand an sich zu geringfügig war, als dass ihm nachher jemand davon hätte erzählen sollen.

      Die zweite Erinnerung ist aus dem vierten Jahre, wo seine Mutter ihn wegen einer wirklichen Unart schalt; indem er sich nun gerade auszog, fügte es sich, dass eines seiner Kleidungsstücke mit einigem Geräusch auf den Stuhl fiel: seine Mutter glaubte, er habe es aus Trotz hingeworfen, und züchtigte ihn hart.

      Dies war das erste wirkliche Unrecht, was er tief empfand, und was ihm nie aus dem Sinne gekommen ist; seit der Zeit hielt er auch seine Mutter für ungerecht, und bei jeder neuen Züchtigung fiel ihm dieser Umstand ein.

      Ich habe schon erwähnt, wie ihm der Tod in seiner [42]Kindheit vorgekommen sei. Dies dauerte bis in sein zehntes Jahr, als einmal eine Nachbarin seine Eltern besuchte, und erzählte, wie ihr Vetter, der ein Bergmann war, von der Leiter hinunter in die Grube gefallen sei, und sich den Kopf zerschmettert habe.

      Anton hörte aufmerksam zu, und bei dieser Kopfzerschmetterung dachte er sich auf einmal ein gänzliches Aufhören von Denken und Empfinden, und eine Art von Vernichtung und Ermangelung seiner selbst, die ihn mit Grauen und Entsetzen erfüllte, sooft er wieder lebhaft daran dachte. Seit der Zeit hatte er auch eine starke Furcht vor dem Tode, die ihm manche traurige Stunde machte.

      Noch muss ich etwas von seinen ersten Vorstellungen, die er sich ebenfalls ohngefähr im zehnten Jahre von Gott und der Welt machte, sagen.

      Wenn oft der Himmel umwölkt, und der Horizont kleiner war, fühlte er eine Art von Bangigkeit, dass die ganze Welt wiederum mit eben so einer Decke umschlossen sei, wie die Stube, worin er wohnte, und wenn er dann mit seinen Gedanken über diese gewölbte Decke hinausging, so kam ihm diese Welt an sich viel zu klein vor, und es deuchte ihm, als müsse sie wiederum in einer andern eingeschlossen sein, und das immer so fort.

      Ebenso ging es ihm mit seiner Vorstellung von Gott, wenn er sich denselben, als das höchste Wesen, denken wollte.

      Er saß einmal in der Dämmerung an einem trüben Abend allein vor seiner Haustüre, und dachte hierüber nach, indem er oft gen Himmel blickte, und dann wieder die Erde ansahe, und bemerkte, wie sie selbst gegen den trüben Himmel so schwarz und dunkel war.

      [43]Über dem Himmel dachte er sich Gott, aber jeder, auch der höchste Gott, den sich seine Gedanken schufen, war ihm zu klein, und musste immer wieder noch einen höhern über sich haben, gegen den er ganz verschwand, und das so ins Unendliche fort.

      Doch hatte er hierüber nie etwas gelesen noch gehört. Was am sonderbarsten war, so geriet er durch sein beständiges Nachdenken und In-sich-gekehrt-Sein, sogar auf den Egoismus, der ihn beinahe hätte verrückt machen können.

      Weil nämlich seine Träume größtenteils sehr lebhaft waren, und beinahe an die Wirklichkeit zu grenzen schienen; so fiel es ihm ein, dass er auch wohl am hellen Tage träume, und die Leute um ihn her, nebst allem, was er sahe, Geschöpfe seiner Einbildungskraft sein könnten.

      Dies war ihm ein erschrecklicher Gedanke, und er fürchtete sich vor sich selber, sooft er ihm einfiel, auch suchte er sich dann wirklich durch Zerstreuung von diesen Gedanken loszumachen.

      Nach dieser Ausschweifung wollen wir der Zeitfolge gemäß in Antons Geschichte wieder fortfahren, den wir eilf Jahr alt bei der Lektüre der schönen Banise und der Insel Felsenburg verlassen haben. Er bekam nun auch Fenelons Totengespräche, nebst dessen Erzählungen zu lesen, und sein Schreibmeister fing an, ihn eigne Briefe und Ausarbeitungen machen zu lassen.

      Dies war für Anton eine noch nie empfundene Freude. Er fing nun an, seine Lektüre zu nutzen, und hie und da Nachahmungen von dem Gelesenen anzubringen, wodurch er sich den Beifall und die Achtung seines Lehrers erwarb.

      Sein Vater musizierte mit in einem Konzert, wo Ramlers [44]Tod Jesu aufgeführt wurde, und brachte einen gedruckten Text davon mit zu Hause. Dieser hatte für Anton so viel Anziehendes und übertraf alles Poetische, was er bisher gelesen hatte, so weit, dass er ihn so oft, und mit solchem Entzücken las, bis er ihn beinahe auswendig wusste.

      Durch diese einzige so oft wiederholte zufällige Lektüre bekam sein Geschmack in der Poesie eine gewisse Bildung und Festigkeit, die er seit der Zeit nicht wieder verloren hat; so wie in der Prose durch den Telemach; denn er fühlte bei der schönen Banise und Insel Felsenburg, ohngeachtet des Vergnügens, das er darin fand, doch sehr lebhaft das Abstechende und Unedlere in der Schreibart.

      Von poetischer Prose fiel ihm Carl von Mosers Daniel in der Löwengrube in die Hände, den er verschiedne Male durchlas, und woraus auch sein Vater zuweilen vorzulesen pflegte.

      Die Brunnenzeit kam wieder heran, und Antons Vater beschloss, ihn wieder mit nach P[yrmont] zu nehmen, allein diesmal sollte Anton nicht so viel Freude als im vorigen Jahre dort genießen, denn seine Mutter reiste mit.

      Ihr unaufhörliches Verbieten von Kleinigkeiten und beständiges Schelten und Strafen zu unrechter Zeit, verleidete ihm alle edlern Empfindungen, die er hier vor einem Jahre gehabt hatte; sein Gefühl für Lob und Beifall ward dadurch so sehr unterdrückt, dass er zuletzt, beinahe seiner Natur zuwider eine Art von Vergnügen darin fand, sich mit den schmutzigsten Gassenbuben abzugeben, und mit ihnen gemeine Sache zu machen, bloß weil er verzweifelte, sich je die Liebe und Achtung in P[yrmont] wieder zu erwerben, die er durch seine Mutter einmal verloren hatte, welche nicht nur gegen seinen Vater, sooft er zu Hause [45]kam, sondern auch gegen ganz fremde Leute, beständig von nichts, als von seiner schlechten Aufführung sprach, wodurch dieselbe denn wirklich anfing, schlecht zu werden und sein Herz sich zu verschlimmern schien.

      Er kam auch nun seltner in das von F[leischbein]sche Haus, und die Zeit seines diesmaligen Aufenthalts in P[yrmont] strich für ihn höchst unangenehm und traurig vorüber, so dass er sich oft noch mit Wehmut an die Freuden des vorigen Jahres zurückerinnerte, ob er gleich diesmal nicht so viel Schmerzen an seinem Fuß auszustehen hatte, der nun, nachdem der schadhafte Knochen herausgenommen war, wieder an zu heilen fing.

      Bald nach der Zurückkunft seiner Eltern in H[annover] trat Anton in sein zwölftes Jahr, worin ihm wiederum sehr viele Veränderungen bevorstanden: denn noch in diesem Jahre sollte er von seinen Eltern getrennt werden. Fürs Erste stand ihm eine große Freude bevor.

      Antons Vater ließ ihn auf Zureden einiger Bekannten in der öffentlichen Stadtschule eine lateinische Privatstunde besuchen, damit er wenigstens auf alle Fälle, wie es hieß, einen Kasum solle setzen lernen. In die übrigen


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