Geliebter Schnarcher. Daniel WilkЧитать онлайн книгу.
zu öffnen. Man verliert die gewohnte Sicherheit, die das Muss bisher geboten hat, deshalb wendet man sich eher ungern anderen Wegen zu. Sobald man sich dazu durchgerungen hat, entlastet die Erkenntnis, dass es ärgerfreie Alternativen gibt, allerdings ganz entscheidend.
Der Erkenntnis zu folgen und nicht mehr im Zwang zu handeln oder zu fühlen, erweitert die eigenen Spielräume auch in anderen Zusammenhängen. Allein das Eingeständnis vor sich selbst, dass das Muss in Frage gestellt werden und schließlich sogar abgewählt werden kann, eröffnet neue Perspektiven und schwächt Ärgerreaktionen im Allgemeinen.
Ärger kann schädlich sein
… besonders wenn er länger anhält oder sehr häufig auftritt. Ein kurz aufflammendes Gefühl des Ärgers, der seinen Ausdruck findet und zur schnellen Lösung des zugrundeliegenden Problems führt, hat normalerweise keine negativen Folgen. Ärger kann aber auch sehr lange anhalten, mitunter Jahre, beispielsweise im Berufsleben oder bei ungünstigen Familienverhältnissen, bei unerfüllten Lebenswünschen oder Erwartungen an andere, die nicht realistisch sind. Betroffene finden nicht selten in einem solchen anhaltenden Ärger die Ursache für ernsthafte körperliche Erkrankungen. Dass die Lebensfreude durch Ärger deutlich beeinträchtigt werden kann und auch Beziehungen getrübt werden, ist alltägliche Lebenserfahrung.
»Das macht mich ganz verrückt«
Will heißen, dass wir des klaren Denkens oft nicht mehr fähig sind, wenn wir dem Muss folgen. Ärger wird immer von körperlichen Reaktionen begleitet, die das Denken tatsächlich behindern und uns drängen, körperlich aktiv zu werden (schimpfen, den anderen wachrütteln, das Zimmer verlassen u. ä.). Die Unruhe, die sich mit dem Ärger im Körper ausbreitet, bestätigt scheinbar, dass etwas gegen den vermeintlichen Anlass – in unserem Fall das Schnarchen – getan werden muss. Dass die unangenehme Unruhe aber nur bedingt (wenn es sehr laut ist oder plötzlich in die Ruhe einbricht) durch das Schnarchen an sich und häufiger durch die eigene Einstellung im Umgang damit ausgelöst wird, kommt sehr selten in den Sinn.
Schauen wir uns den Ablauf in der Nacht an: Er wacht auf, weil ihn das Geräusch der neben ihm liegenden Partnerin, das sie während des Atmens erzeugt, geweckt hat. Schon im Prozess des Wachwerdens breitet sich eine mild erregende Freude in ihm aus, dass seine geliebte Partnerin noch bei ihm ist und ihn nicht etwa verlassen hat, weil … (Hier kann man Gründe suchen, die die eigene Unzulänglichkeit nachweisen mögen. Vielleicht findet der Leser auch bei sich selbst den einen oder anderen Grund. Ersatzweise möge man im Freundes- oder Bekanntenkreis suchen.) Erfreut entspannt er sich und träumt von den gemeinsamen Unternehmungen, die sie für das Wochenende geplant haben. Über diesen erfreulichen, in die Zukunft gerichteten Bildern schläft er wieder ein. Das Hintergrundgeräusch des Schnarchens begleitet ihn dabei und gibt ihm die noch tiefer entspannende Sicherheit, dass die geliebte Partnerin noch immer neben ihm liegt.
Das ist nicht die übliche Situation? Stimmt. In der Gruppe beschwert sich meist die Frau über den Partner und äußert Ärger bis hin zu Mordgedanken (die sie hoffentlich nie realisieren würden).
Kehren wir also in die Normalität zurück. Was passiert im Körper, wenn sie durch das Schnarchen des Partners oder eines anderen Teilnehmers in der Gruppe aufwacht bzw. von der Entspannung abgelenkt wird? Der Puls hat sich schon in der Aufwachphase beschleunigt und legt nun nochmal deutlich nach, während der Verstand realisiert, dass
der schon wieder schnarcht
sie schon wieder zu wenig Schlaf für die Anstrengungen des nächsten Tages bekommt
er mal wieder rücksichtslos nur für den eigenen Schlaf sorgt
…
Der Körper stellt sich auf Ärger ein, mit allen Vorgängen, die den Schlaf erschweren, was den Ärger wiederum verstärkt. Verschiedene Gedanken ziehen durch den Kopf, sie erinnert sich an den Partner zu Hause, der ihren Schlaf ähnlich gestört hat. Interessanterweise spricht sie nicht von der Vergangenheit, wenn sie erzählt, dass der Partner schnarcht, sie zieht die Störung nicht nur in die Gegenwart, sondern auch in die Zukunft: »Mein Mann schnarcht auch immer.« Eigentlich müsste sie sagen: »Mein Mann hat bisher auch geschnarcht.« Was in der Zukunft sein wird, kann sie genau genommen nicht sagen. Vielleicht hat sich in ihrer Abwesenheit irgendetwas – was auch immer – geändert, und er schnarcht nicht mehr, wenn sie zurückkommt.
Der Hinweis, dass sie durch ihre Formulierung »mein Mann schnarcht auch immer« den augenblicklich körperlich spürbaren Ärger aus der häuslichen Vergangenheit in die Gegenwart holt (in der tatsächlich nicht ihr Partner, sondern ein Fremder geschnarcht hat) und sogar auch in die Zukunft projiziert, stört bereits die Automatik, dass man eben gestört sein muss, wenn jemand schnarcht.
Diese Musterunterbrechung wird ungern sofort angenommen. Es wird »argumentiert«, dass es bisher »immer« so war, dass er also jede Nacht unerträglich geschnarcht hat, und es folglich auch in der Zukunft wieder so sein wird. Was auf Nachfragen meist auch nicht stimmt, denn er schnarchte nicht jede Nacht – jedenfalls hat sie es nicht immer gehört. Darüber hinaus störte es auch nicht jedes Mal.
Der ebenfalls das Muster störende Hinweis, dass auch andere Geräusche zu hören waren, die häufig sogar lauter als das Schnarchen waren (das Krächzen von Krähen, Stimmen auf dem Flur), wird ungern akzeptiert. Sie wurden vielleicht nicht einmal wahrgenommen, wohl aber das Atemgeräusch, selbst wenn es in dem Moment leise war, über das man sich aufregen muss, wenn man nicht einmal hier seine Ruhe hat.
Will man die nicht hinterfragte Überzeugung, dass ein jedes Schnarchen die eigene Ruhe stören muss, auflockern oder sogar auflösen, braucht es geduldige Überzeugungsarbeit, die geeignet ist, alte Muster in ihre Bestandteile zu zerlegen und durch alternative Reaktionen zu ersetzen. Neben dieser Arbeit mit dem bewussten Verstand ist die Erfahrung, dass man sich eben nicht ärgern muss, sondern sogar über das Schnarchen lachen kann, ein kaum zu übersehender Hinweis auf alternative Gefühle und Reaktionsmöglichkeiten.
Macht Ärger einen Sinn?
Das ist eine interessante Frage. Andere, den Körper ebenfalls aktivierende Gefühle haben einen leichter erkennbaren Nutzen. Angst erhöht die Aufmerksamkeit für eine Gefahr und bereitet den Körper auf eine entsprechende Antwort vor. Wut mobilisiert Energie gegen jemanden oder etwas im Körper und bereitet ihn auf Aktivität vor. Beide Gefühle bewirken im Körper eine Reaktion, die zu einer Antwort auf den Auslöser führen soll, damit sich etwas verändern kann.
Ärger dagegen führt ebenfalls zu einer Aktivierung des Körpers, die aber zunächst wenig konstruktiv in Erscheinung tritt. Ärger begleitet uns oft lange und fühlt sich nicht nur unangenehm an, sondern kann auch körperliche Schäden begünstigen, wie die Redewendung »der Ärger frisst mich noch auf« anzeigt.
Ärger kommt dann, wenn ich mich von etwas in mir oder außerhalb von mir Liegendem beeinträchtigt fühle, und führt zu körperlicher Unruhe und psychischer Anspannung. Je intensiver oder häufiger der Ärger mit der körperlichen Unruhe auftritt, desto dringlicher ist die Notwendigkeit, eine Reaktion zu entwickeln, die dazu führt, dass die (reaktive) Unruhe nicht mehr auftritt. Ärger führt zu Unwohlsein und Aggression (häufig nicht gegen den Auslöser, sondern gegen jemanden, bei dem man sich traut, weil von dort keine allzu negativen Reaktionen zu erwarten sind, und gegen sich selbst).
Angst führt im besten Fall zu Veränderungen, die in einen kompetenten und souveränen Umgang mit dem Auslöser münden, wodurch der Körper sich wieder entspannen und die Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten kann. Wut führt häufig zu einer unmittelbaren Reaktion und verändert die Situation im guten Fall ebenfalls positiv.
Der Ärger dagegen hat selten die gleiche Energie wie die Wut und ist wie eine besonders empfindliche Stelle in uns, die mal mehr und mal weniger Aufmerksamkeit fordert, jedoch stets Energie verbraucht. Er kann als Vorläufer der Wut gesehen werden und sie mit ihrem unter Umständen gefährlichen Ausbruch verhindern, indem er eine Veränderung frühzeitig einleitet.