Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig BechsteinЧитать онлайн книгу.
ihn hinauf, und je weiter er aufwärts kam, je dikker
und stärker wurde wieder der Strick. Da nahmen
die Leute von St. Nicolaus wahr, daß das Bild am
Fels und nicht in einer Kapelle stehen wollte, wie
jenes auf dem Milzeberg im Frankenlande auch nicht
in einer Kapelle blieb, sondern auf seinem Felsblock
am Wallfahrerweg seinen Stand behauptete.
Kapitel 3
20. Das Paradies der Tiere
Hoch droben auf dem Matterberge ist eine Stelle, die
aber keiner oder doch gar selten einer finden kann, die
hat der laufende Jud nicht mit verwünschen können,
weil sie von Gott gefeit ist vom Anbeginne; da ist
kein Schnee und kein Eis, da ist Sonne und Freude,
Wonne und Weide, da quillt erst eigentlich mit leisem
Gewisper die Visper hervor, die später erst unter dem
Alp-Gletscher zutage rinnt, dort ist das Paradies der
Tiere. Da gibt es herrliche Steinböcke und Gemsen,
Adler und Geier, Schneehühner und Birkhähne, auch
Murmeltiere, und keines beleidigt das andere, alle
leben da friedlich beisammen. Nur alle dreimal sieben
Jahre darf und kann ein Menschenauge in dieses
Bergparadies der Alpentierwelt blicken, wo es so
wonnevoll und schön ist, alles voll Alpenrosen und
Gentianen, und von zwanzig Gemsenjägern glückt
das auch kaum einem einzigen. Da stehen uralte Pinienbäume
und Ahorne, und die Pinien tragen Zapfen,
deren Kern süß schmeckt, wie Mandeln, das sind die
Zirbelnüsse. Wem es glückt, in das Paradies der Tiere
zu treten, der darf wohl von den Zirbelnüssen nehmen
und kosten, aber nimmermehr ein Tier fangen oder
töten, sonst kostet's ihm das Leben. Viele haben in
die uralten heiligen Platanenstämme zum Zeichen
ihres Alldagewesenseins ihre Namen geschnitten. Außerdem
sieht man selten noch einen Steinbock und
selten eine Pinie, und die stehen hoch und schwer erreichbar.
Denn es geht die Sage, daß es zwar deren
viele und überall gegeben habe, da habe aber die Dienerschaft
immer gern die Nüsse genascht und darüber
und mit Auskernen viel gute Zeit hingebracht und versäumt,
da habe die Meisterschaft diese Bäume verwünscht,
und nun seien sie unfruchtbar geworden
oder unzugänglich.
21. Die Teufelsbrücke
Vom Multhorn, nicht allzufern von St. Gotthard,
stürzt sich mit raschem Rollen und unbändigen
Sprüngen ein wildes Bergwasser, die Reuß. Ein Alpenhirte
liebte eine Sennerin, die er zum öftern besuchte,
aber er hatte oft mit dem wilden Fluß seine
Not, hinüberzukommen, und mußte doch hinüber und
auch wieder herüber zu seiner Hütte und Herde. Als
nun einstmals die Reuß recht angeschwollen war und
wieder als jemals über die Felsen herabstürzte, da sah
der Hirte keine Möglichkeit, hinüber und zu seiner
Geliebten zu gelangen, und rief aus: Ei, so wollt' ich,
daß der Teufel käme und baute eine Brücke über dich
verfluchtiges Wasser. – Und da kam der Teufel gleich
hinter einem Felsklumpen hervor und sagte: He! was
gibest mir, wenn ich dir die Brücke baue? – He! was
soll ich dir geben? fragte der Hirte. – Die erste lebendige
Seele, die darüber geht, sagte der Teufel und
dachte, es werde niemand schneller sein als der Hirte,
hinüberzukommen. Ich bin's zufrieden, sagte der Hirt,
und: Topp schlag ein! sagte der Teufel, und der Bub
schlug ein. Jetzt baute der Teufel mit Hülfe aller seiner
höllischen Geister die Brücke in ganz kurzer Frist,
und als sie fertig war, setzte er sich hin und lauerte.
Wer aber nicht darüberging, war der Hirtenbub, er
jagte vom Gotthardgebirg unterm Hospital eine
Gemse auf und trieb sie abwärts, immer der Reuß zu,
bis an die Brücke, und da setzte sie flink hinüber. Der
Teufel fuhr zu, wurde teufelswild über solches Wild
und zerriß die Gemse in Stücken, nachdem er sie hoch
in die Luft hinaufgetragen hatte. Nun ging der Hirte
ungehindert, sooft er wollte, über die Brücke herüber
und hinüber, doch soll es an derselben, die auf ewige
Zeiten die Teufelsbrücke heißt, nicht recht geheuer
sein, und es geht auch die Sage, der Teufel reiße alle
Jahre ein Stück ein, daß immerdar daran gebaut werden
müsse.
22. Der Stierenbach
Vom Surenenberge und seiner Alpentrift fließt ein
Bächlein, das führt den Namen Stierenbach, und hat
es davon im Engelbergstale und im Urner Lande eine
gar wundersame Sage. Ein Alpenhirte hatte bei seiner
Herde ein Lieblingslamm, wußte gar nicht, was er
dem Tiere alles zugute tun sollte, und gab dem
Lamme sogar den Namen Christian; das hätte wohl
immer noch nicht so viel geschadet, denn Hirten und
Schäfer, Kutscher und Eseltreiber nennen ihre Tiere
häufig mit solchen Christennamen, wie Hans und Michel,
Gret und Liese, aber der Surenenälpler trieb die
Affenliebe zu dem Lamm allzuweit, wie verblendet, er
taufte das Tier, wie man ein christlich Kind tauft, im
Namen der heiligen Dreifaltigkeit. Darob verzürnete
sich der liebe Gott und machte aus dem Lamm ein
greulich Ungetüm, das fraß in einem fort, was ihm
vorkam, fraß die ganze Alpe kahl, daß kein anderes
Stück Vieh ein Hälmlein mehr fand, fraß Tag und
Nacht. Bald waren die Engelsberger Triften abgeleert
und guter Rat teuer. Da kam zu den Nachbarn, denen
von Uri, ein fahrender Schüler, der gab Rat, das böse
Untier zu vertreiben, war freilich eine langsame
Kunst, und mußte, bevor sie ausgeführt wurde, noch
manches Gräslein auf den Alpen wachsen und