Johannas Gerechtigkeit (Rache einer Vergewaltigten). Martin WischmannЧитать онлайн книгу.
und das Milchvieh melken muss, das Misten der Ställe und das abendliche Füttern nicht zu vergessen. Dazu noch ein kleines Kind betreuen und versorgen. Karl war bereits am Mittag körperlich und geistig fix und fertig, -krummgebuckelt, wie er selbst sagte. Er sehnte den Abend und die Rückkehr von Marianne, Rudolf und der neugeborenen Johanna herbei.
Kurz bevor am Abend die Sonne unterging, war der kleine Dietrich völlig übermüdet in den Armen seines Großvaters eingeschlafen. Er war es nicht gewohnt, ohne seine Mutter zu sein und wehrte sich lange ausdauernd gegen seine größer werdende Müdigkeit, welche aber schließlich doch über ihn siegte. Karl atmete erleichtert durch, legte den Schlafenden behutsam ab, nahm anschließend eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, schaltete das Radio an und setzte sich, erneut schwer atmend an den Esstisch. Wieder war die erste Meldung, die aus dem Radio drang, die Todesnachricht über den brutal ermordeten Bürgerrechtler Martin Luther King aus Amerika. Die Stimme aus dem Radio sagte: „Der 04. April 1968 wird als dunkler Tag in die Geschichte der Friedensbewegung eingehen.“ Karl ergänzte: „In unsere Geschichte wird der 04. April 1968 als der Geburtstag unserer Johanna eingehen. Aber so ein feiger, hinterhältiger Mord ist schon verabscheuungswürdig, …schlimm. Das Werk eines Irren.“ Die Bierflasche war nach wenigen Minuten schon geleert, so dass Karl, der noch immer Durst verspürte, -Brand hatte, -wie er selbst zu sagen pflegte, eine weitere Flasche aus dem Kühlschrank nahm und abermals am Esstisch Platz nahm. Nach einem zügigen Schluck und einem tiefen Rülpser, rief der Mann aus: „Dem Braumeister, der dieses Bier geschaffen hat, gehört ein Denkmal gesetzt.“ Dem zweiten Bier folgte ein drittes, dem wiederrum die vierte Flasche folgte. Längst hatte der Angetrunkene das Radio abgestellt und saß still in dem fast geräuschlosen Raum. Die Stille der Küche wurde lediglich von dem Ticken der Wanduhr und dem kaum hörbaren, sonoren Brummton des Kühlschrankes gestört. Die Lampe der Küche hatte Karl ausgeschaltet, lediglich die zweistrahlige Wandbeleuchtung des nahen Flures spendete dem Türbereich der Küche einen schmalen Lichtkegel, der sich jedoch im Großraum des Zimmers verlor. Karl liebte diese fast ganz dunkle, indirekte Beleuchtungsweise, aber nur wenn er alleine war. Helle Räume bedeuteten für ihn Leben und Leben bedeutete Menschen. Folglich mochte er keine hell beleuchteten Räume, wenn er alleine war. Wenn Karl alleine in einem hellen Raum saß, musste er an Erika, seine vor Jahren verstorbene Ehefrau denken. Dies machte ihn jedes Mal traurig und trieb ihn in den Alkohol, der seiner Meinung nach der anhänglichste Freund des Einsamen ist. Zu Erikas Lebzeiten hatte der Mann keinen Tropfen Alkohol angerührt. Erika und Karl hatten eine harmonische Ehe geführt, Erika war die erste Frau in Karls Leben und Karl war der erste Mann für Erika. In den dreißiger Jahren, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten sie sich kennen gelernt und waren mit Ausnahme einiger Kriegsjahre nie voneinander getrennt gewesen. Beide hatten freilich auch schon den ersten Weltkrieg miterlebt, wenn auch nur als kleine Kinder, denn Beide wurden im Jahre 1910 geboren, Karl zwei Monate vor Erika. Während Karl mit der vierten Bierflasche in der Hand in der fast stockdunklen Küche saß, dachte er an Erikas Worte, die in Etwa lauteten: „Wer nicht in Kriegszeiten lebt, keinen Hunger leidet und gesund ist, hat keine Probleme.“ Ja, Erika hatte nach eigenen Worten, seit dem Kriegsende im Jahre 1945 ein problemfreies Leben geführt. Sie sah stets das Positive und konnte es nicht verstehen, wenn Menschen grundlos stritten oder sich sogar ab und zu scheiden ließen. „Diese Menschen dort, sie versündigen sich an ihren Kindern“, sagte sie, als sich in den fünfziger Jahren die Eheleute vom nahen Nachbarhof scheiden ließen, obwohl sie drei Kinder hatten. Für solche Personen hatte sie nur Mitleid und hätte ihnen gerne geholfen, wenn sie nur die Hilfe angenommen hätten. Gedankenversunken und müde döste Karl auf dem Küchenstuhl vor sich hin, die Augen tränenerfüllt durch die Erinnerung an Erika und die Gewissheit, dass sie sich im Jenseits wieder begegnen würden. Karl war sich sicher, das Erika in einer bestimmten Art, stets bei ihm war und dieser Glaube war tröstlich für den Witwer. Da zuckte plötzlich ein Lichtschein durch das Küchenfenster. Er blendete den Mann, der aus dem nachdenklichen Entspannungszustand aufgeschreckt den Blick, der an die Dunkelheit gewöhnt war, Richtung Fenster warf. Nicht mehr ganz Herr der eigenen Sinne, durch den Genuss der vier Bierflaschen, verfolgte Karls Blick den gelbweißen Lichtschein, der auf dem weitflächigen Hofgelände sein Unwesen trieb. Um besser sehen zu können, kniff er kurz die Augen zu, doch die dabei hervortretende Tränenflüssigkeit ließ das Gesehene noch verschwommener erscheinen. Mit den Worten: „Was ist das? Was zum Teufel geht hier vor?“, wischte sich der Verwunderte mit dem linken Hemdsärmel die Augen trocken. Endlich konnte er wieder scharf sehen, so scharf, dass er erkannte, dass es sich bei dem großen Lichtkegel in Wirklichkeit um zwei nebeneinander befindliche Lichtquellen handelte. Einen Augenblick später erloschen die beiden Lichter und der Mann vernahm durch das gekippte Küchenfenster, das ihm vertraute, leichte Geräusch des Quietschen, das entstand wenn Rudolf die Fahrertür seines Autos öffnete. Mit einem Mal war Karl hellwach. „Sie sind zurück. Meine Güte, sie sind zurück und ich erkenne die Autolichter nicht, ich alter Schluckspecht, ich Schluckowski“, sagte er aufgeregt zu sich, während er versuchte, mit beiden Händen die vier leeren Bierflaschen, so schnell wie möglich in dem Bierkasten neben der Eckbank verschwinden zu lassen. Begleitet von mehreren Jammerlauten, aufgrund der immer wiederkehrenden starken Knieschmerzen, schritt Karl, in der dunklen Küche nur gelenkt von dem schmalen Lichtschein aus dem Flur, hinüber zum Lichtschalter, um die große Küchenlampe, die etwa in Schulterhöhe über dem Esstisch hing, einzuschalten. Kaum war dies geschehen, öffnete sich kaum hörbar und vorsichtig die Haustüre des Bauernhauses. Auf dem Anwesen der Familie König war es völlig normal, dass die Haustüre von früh morgens bis spät abends offenstand, beziehungsweise nicht abgeschlossen war. Dies hatte sich auch nicht geändert, als Marianne vor drei Jahren, -im April 1965 ihren Rudolf Wenk heiratete. Im Grunde war es überall auf dem Land Gang und Gebe, dass die Haustüren nur in der Nacht abgeschlossen wurden. Mit vorsichtigen Schritten und den Worten: „Karl, bist du noch wach? Wir sind zurück“, betrat Rudolf den Flur, dicht gefolgt von seiner Frau Marianne. Gemessenen Schrittes trat der ältere Mann auf die sichtbar stolzen zweifachen Eltern zu und hieß sie herzlich willkommen, fast ohne den Blick von dem geflochtenen, mit rosa Stoff bedeckten Körbchen zu nehmen, dass Rudolf mit der rechten Hand fest umschlossen hielt. „Kommt rein. Kommt in die Küche“, wies Karl mit einer richtungsweisenden Geste seiner Hand, Tochter und Schwiegersohn in die wohltemperierte Räumlichkeit, die als Zentrum des Hauses galt. Rudolf stellte behutsam den Korb, aus dessen Innerem ein leichtes Atemgeräusch zu hören war, auf die Sitzfläche der Eckbank. Seine Frau Marianne setzte sich, nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hatte, unmittelbar neben den Babykorb und nahm mit größter Vorsicht die schützende und wärmende Decke von dem Neugeborenen. Karls erste Worte waren beim Blick auf seine vierundzwanzigjährige Tochter: „Du siehst mitgenommen aus, Marianne. Wie geht es dir?“ Die Frau, die sowohl ihrem Vater als auch ihrem Mann, bezüglich der Körpergröße nur bis zu den Schultern reichte, allerdings über einen gewaltigen Körperumfang verfügte, antwortete kurz und knapp: „Gut geht es mir.“ „Wie geht es dem Kind? Ist es wohlauf? Hoffentlich ist es gesund und kräftig“, fuhr Karl fort. Lächelnd nickend nahm die Frau eine zweite, dünnere Decke, welche den Säugling bedeckte zur Seite und gab somit den Blick auf die neue Erdenbürgerin frei. „Allmächtiger“, stieß Karl aus, „das Kind ist ja knallrot…und so faltig. Habt ihr es schon untersuchen lassen und ihm die Brust gegeben?“ Rudolf, der frischgebackene zweifache Papa antwortete schmunzelnd: „Ja ja, Karl. Alles in Ordnung mit Johanna. Und die Farbe und Falten sind doch normal für Neugeborene. Die Falten wachsen sich aus. So war es doch auch vor zwei Jahren bei Dietrich. Erinnerst du dich noch? Übrigens, schläft der Kleine schon? Wie war euer Männertag?“ Karl antwortete nickend: „Dietrich schläft wie ein Siebenschläfer. Er hat mir artig und fleißig auf dem Hof geholfen. Und ihr Beide, habt ihr Hunger? Ich mache euch eine Hausmacher Wurstplatte zu Ehren der neuen Erdenbürgerin. Wollt ihr, habt ihr Kohldampf?“ Beide, Marianne und Rudolf stimmten dem stolzen Großvater zu, der sogleich mit dem Zubereiten der belegten Brote begann. Kaum zehn Minuten später stellte der Senior eine große Porzellanplatte, die förmlich unter den Unmengen der dick belegten und beschmierten Brotscheiben verschwand, auf den Küchentisch. Auf den herzhaften, mit Butter bestrichenen Roggenmischbrotscheiben sah man rohen und gekochten Schinken, Leber -und Blutwurst, Käseaufschnitt und Streichkäse, sowie Salamiwurst. Jede der Brotscheiben war zudem mit einer kleinen, längs aufgeschnittenen Gewürzgurke garniert, ein wahrer Gaumen -und Augenschmaus. Die Wurstplatte war ein typisches Mittag -oder Abendessen auf dem Lande in Mittelhessen,