Die Schule auf dem Baum. Gunter PreußЧитать онлайн книгу.
war, aber auch wegen seiner Vergleiche aus der Elektrotechnik, denn er liebte es wohl mehr, sich in komplizierte Schaltungen zu vertiefen als uns in Psychologie zu unterrichten.
Du, ich bin außer Fassung, und das Unglaubliche ist eingetreten, ich stehe nicht im Dunkeln, ganz im Gegenteil, ich sehe mehr Licht als je zuvor, verschiedene Strahlen sozusagen, die von hier und da aufblitzen, dass es mich dreht, bis mir schwindlig wird. Ich sehe Sterne, Sonja, am helllichten Tag, es ist verrückt. Aber lass dir erzählen, was weiter passierte, ich befürchte ohnehin schon, dass ich mich dir nicht verständlich machen kann, denn ich begreife mich selber nicht.
Der Junge kam nicht vom Baum herunter, Lehrer und Schüler standen inzwischen auf dem Schulhof und schauten nach oben. Ich sah sie innerlich grinsen in dieser Art Schadenfreude, die ich von mir selbst kenne, wenn ich beobachte, wie einer, der es allzu eilig hat, über seine eigenen Füße stolpert. Ich wusste genau, was sie dachten: Mal sehen, wie die Kleine damit fertig wird. Ich glaube, ich habe geschrien, zum ersten Mal in meinem Leben.
"Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst ...! Du wirst was erleben!"
So hilflos, so allein, so verlacht habe ich mich selten gefühlt, es war wie in einem Traum, wenn man plötzlich nackt vor all den Leuten steht.
Ich lief in mein Zimmer und suchte die Telefonnummer von Roberts Betrieb heraus, wählte sie, sagte meinen Namen und dass ich meinen Mann sprechen möchte. Als ich seine Stimme hörte, selbstbewusst und klar - "Hier Wendisch" -, legte ich den Hörer auf. Von der alten Schule aus hatte ich ihn nie angerufen, mir wäre nicht der Gedanke gekommen, ihn zu stören. Er arbeitet als Ingenieur im Fernmeldeamt, und seit wir uns kennen, meint er, er stünde kurz davor, mit einem Verstärkersystem den Weltmarkt zu erobern. Er sagt, wir hätten beide wichtige Aufgaben zu erfüllen, wobei wir uns nicht stören sollten, am Abend dann könnten wir über alles reden.
Ich erkundigte mich nach dem Jungen auf dem Baum, er heißt Hans Schorn, ist vierzehn Jahre alt, geht in die achte Klasse, hat einen Zensurendurchschnitt von zweikommaacht und ist bisher in keiner Weise auffällig geworden. Oh Himmel, Sonja, das klingt wie ein Polizeibericht, aber mehr wissen wir oft nicht voneinander, und nun weiß ich, dass das nicht reicht. Erinnerst du Dich noch an Frau Palluschke, diese Riesendame mit dem Milchkuhbusen, tortensüchtig und asthmatisch, sie unterrichtete in Vertretung Philosophie, wir nannten sie "Kügelchen" und erledigten in ihrem Unterricht die Hausaufgaben für andere Fächer. Also Kügelchen - jetzt fällt mir so manches wieder ein -, sie sagte einmal in der Pause: "Es ist unmöglich, sich wissend zu machen, wenn es einem an Glauben fehlt."
Sonja, du, ich habe Angst, dass es mir an Glauben fehlt und dass ich darum nicht ein noch aus weiß. Ich denke, man hat uns eine Menge gelehrt, nur nicht, wie man daran glauben kann, davon war nie die Rede. Aber die Geschichte von dem Jungen auf dem Baum verlangt Glauben, das Wissen darum lässt mich allein.
Also ich wusste, dass der Junge Hans Schorn heißt. Sein Klassenlehrer ist Herr Hausmann, ich kenne ihn von der alten Schule her, dort gehörte er zu den lieben Alten, die mich "mein Mädchen" nannten. In der neuen Schule ist er inzwischen ein anderer geworden; aber ich kann mir kein Bild von ihm machen, es ist so, als ließe er das nicht zu. Hausmann steht kurz vor der Pensionierung, er ist der Einzige von den Alten in der neuen Schule, und mir war anfangs so, als hätten sie ihn mir als Vaterfigur mitgegeben, damit ich jederzeit weiß, woran ich bin.
Als der Junge auch in den nächsten Tagen auf den Baum kletterte und Minuten bis Stunden auf ihm verbrachte, ließ ich mir den alten Hausmann in mein Zimmer kommen.
Ich hatte mich geschminkt und zurechtgesetzt, ich hielt den Kugelschreiber in der Hand, und ein Blatt Papier lag vor mir auf dem Schreibtisch. Ja, ich war aufgeregt, wie sollte ich reagieren, wenn er "mein Mädchen" zu mir sagen würde. Aber es kam anders, ich bekam Wut, ja Hass auf ihn, wie er so vor mir stand. Du musst dir einen Riesen vorstellen mit Gicht und Rheuma, was weiß ich, im grauen Anzug, weißem Hemd und schwarzem Binder, alles zerknittert, die Hände auf dem Rücken, den schweren Kopf gesenkt und so ein Lächeln um die Lippen, von dem ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Er erinnerte mich an meinen Vater und all die Männer, die seine Rolle übernommen haben, die sich mir immer stark zeigten und scheinbar das Richtige zu sagen wussten. Nur, dieser Hausmann zeigte mir noch eine andere Seite von sich, die mir bisher verborgen geblieben war, eine schwache Seite, gebrechlich und müde. Vielleicht war er nur ehrlich, aber gerade das verzieh ich ihm nicht, denn so sehr ich manchmal unter der Allwissenheit und Unangreifbarkeit meines Vaters gelitten habe, unsicher, vielleicht gar schwach wollte ich ihn nicht sehen.
Ich ließ Hausmann stehen wie einen Schuljungen, der Autorität zu spüren bekommen muss. Ich warf ihm vor, dass Hans Schorn, der mit seinem disziplinlosen Verhalten die Schule in Verruf bringen würde, sein Schüler sei, und ich fragte ihn, wie lange er sich den Vorgang noch mit ansehen wolle. "Bringen Sie das schnellstens in Ordnung!" sagte ich ihm. Er ging aus meinem Zimmer ohne Gegenwehr, ich schämte mich, begriff nicht warum, und wusste, dass die neue Schule nicht einfach nur ein neuer Anfang war. Ich trat an das Fenster und sah auf den Schulhof, der Baum zeigte das einzige Grün weit und breit, der Junge saß nicht darin, es war Hofpause, ich wünschte mich in eine Gruppe Mädchen der achten Klasse, die in einem Kreis zusammenstanden.
Ach, Sonja, es ist gut, dass es dich gibt, dass ich weiß, du wirst diese Zeilen lesen. Weißt du noch, weißt du noch? Ich befinde mich wie in einem Zug, der mich fährt, irgendwohin, und ich erinnere mich einer Traumhaltestelle, wo der Sommer so lang war, so warm und so bunt, dass ich glaubte, er muss ewig dauern. Mir fällt auf, dass ich beim Schreiben lange Sätze bilde, ich fürchte mich, einen Punkt zu setzen, bevor ich begreife, was an meiner Schule passiert.
Ich bin ja so klug, Sonja, dass es mir oft weh tut. Ich weiß vielleicht manches, habe aber wenig begriffen. Der Körper, nun ja, der ist so weit in Ordnung, der Geist, er arbeitet einigermaßen - aber die Seele, Sonja, mit der Seele hatten wir doch nie etwas zu tun. Dachten wir. Auch jetzt ist das so. Aber sie ist da, dieses unsichtbare Fädchen zieht wie die Spinne ein Netz um uns und lässt uns zappeln.
Jeden Tag geschieht so viel Schlimmes, und ich bedaure es pflichtgemäß, aber es tut mir nicht wirklich leid. Wenn ich lachen muss, so sagt mir das mein Denken, verstehst du, es überrascht mich nicht. Und Robert, mein Mann - ob ich ihn liebe? Was ist das eigentlich - Liebe? Wenn ich dich das frage, schäme ich mich. Es ist, als würde ich mir damit selbst alle Rechte zum Leben entziehen. Warum nur kann ich an nichts glauben? Warum nur?
Denkst du manchmal noch an Doktor Schindler, der ein Semester lang unser Schwarm war, groß, schlank, dunkelhaarig, traurige braune Augen und schmale weiße Hände? Er trug maßgeschneiderte Anzüge und kam auf einem uralten klapprigen Fahrrad in die Hochschule. Sein Spitzname war Sensibelchen, aber wir nannten ihn Felix Krull, er unterrichtete Deutsch und Literatur und mühte sich, uns Ahnungslosen die Werke von Thomas Mann nahezubringen. Vom Zauberberg und den Buddenbroocks weiß ich nicht mehr viel, aber ich mag noch immer Schachtelsätze, die den Leser nicht aus der Geschichte lassen. Also wenn ich mich richtig erinnere, hat Doktor Schindler einmal sinngemäß gesagt: Du musst Läufer sein. Das ist Bestimmung. Entweder du läufst in eine Gruppe hinein und löst dich in ihr auf, oder aber du rennst ihr davon und sitzt in dir selbst gefangen. In beiden Fällen kann dir keiner zu nahe kommen.
Ich glaube, der Mann war sehr allein, damals konnte ich mir das nicht vorstellen, heute aber doch, denn ich bin mitten in der Gruppe, zum Alleinlaufen und Davonrennen habe ich nie Lust verspürt oder den Mut aufgebracht.
Zugegeben, ich lenke von meiner Geschichte oder von dem, was ich dir erzählen will, ab, ich komme dir mit Erinnerungen, Sprüchen und Bildern.
Also weiter, weiter. Der Junge, Hans Schorn, kletterte plötzlich nicht mehr auf die Kastanie, er war zwischen den Jungen und Mädchen verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Also hatte Hausmann ihn sich vorgenommen, und der Erfolg gab mir recht. Aus und vorbei die Angelegenheit, dachte ich, und atmete tief durch, mir war, als hätte mir eine Gefahr gedroht, der ich gerade noch einmal entkommen war. Der Junge auf dem Baum, verrückt, ich wollte schnell vergessen und stürzte mich in die Arbeit, die mir kaum eine Pause gönnte, was mir ganz recht war. An den Abenden überredete ich Robert zu Kinobesuchen, so oft kamen wir sonst das ganze Jahr nicht von zu Hause weg. Anschließend gingen wir Essen oder bummelten