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Die Schule auf dem Baum. Gunter PreußЧитать онлайн книгу.

Die Schule auf dem Baum - Gunter Preuß


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fuhren über vierhundert Kilometer bis zur Ostsee, sahen von der Warnemünder Mole auf die See, die wie ein Dorfteich vor uns lag, verbrachten die Nacht in einem Strandkorb oder im Auto, und am nächsten Tag rasten wir auf der Autobahn zurück. Und doch war es schön, ich kann nicht sagen warum, vielleicht weil nichts geplant war.

      "Was ist los mit dir?", fragte mich Robert schließlich, er hatte sich meinen Wünschen widerspruchslos gefügt, aber ich spürte, er war beunruhigt und misstrauisch, so kannte er mich nicht.

      "Was soll sein?", fragte ich zurück. "Nichts ist. Danke".

      "Ist schon gut", sagte er, und diesmal war ich froh, dass er nicht mehr von mir wissen wollte.

      Bei Hausmann bedankte ich mich, wir grüßten uns freundlich aus der Entfernung, als würden wir ein Geheimnis miteinander teilen, an dem besser nicht zu rühren ist. Ich wollte schnell vergessen, und was war denn schon passiert, ein Junge hatte auf einem Baum gesessen, na und, das kommt alle Tage vor, ich hatte nur etwas nervös reagiert, kein Wunder, es war mein erster Schultag als Direktorin gewesen.

      Vergessen, den Vorgang abhaken mit einem roten Bleistiftstrich, konnte ich nicht. Du, ich bin es nicht gewöhnt, mir selbst Fragen zu stellen, das hat mir niemand beigebracht, zum Beispiel die Frage: Warum beunruhigt dich der Junge auf dem Baum? Etwas in mir war wach geworden, ich nenne es ‚drittes Auge‘, und ich kann es einfach nicht wieder schließen, es macht mich unruhig und krank.

      Mit diesem dritten Auge sah ich den alten Hausmann, in dem etwas vorging, das auch mich betraf. Der Alte, den ich müde und Aufregungen scheuend kannte, machte den Eindruck, als fühle er sich von irgendetwas bedrängt und manchmal gar gehetzt. Ich sagte mir, dass ihm die Schwüle zu schaffen mache, das Alter, Kreislaufprobleme, und wie ich erfuhr, der noch nicht lange zurückliegende Verlust seiner Frau. Er ist ein Gartennarr, soll sich auf Rosenzucht spezialisiert haben, ein Einsiedler vielleicht, der seine Einsiedelei nicht erträgt. Eines Abends bin ich durch den Gartenverein ‚Zur Erholung‘ gegangen, sagen wir, ich bin an den Zäunen entlang geschlichen, ich wollte mich überzeugen, dass ich mich täusche, dass es Hausmann gut geht, ich wollte sehen, wie er Rosen schneidet, sie gießt, und wie er vor seiner Laube sitzt, ein Bier trinkt und in den Himmel sieht, was für Wetter wird. Aber er war nicht in seinem Garten, ich entdeckte nur überall Spuren seiner großen und klobigen Schuhe. Der Garten sah unordentlich aus, den Bäumen und Blumen fehlte Wasser, Tomaten vertrockneten auf der Erde, ein Korbstuhl war umgekippt, das Fenster der Laube war blind.

      Ich musste endgültig einen Schlussstrich ziehen, meinem dritten Auge verbieten, sich umzusehen, denn was es sah, forderte den nächsten Blick heraus und so weiter, es kam kein Bild zustande, das ich fertig abheften konnte. Das dritte Auge riss ein Loch nach dem anderen auf, und bald würde ich vor einem Abgrund stehen, wenn ich nicht aufpasste. Ich suchte nach Haltepunkten und Griffen, nach festen Größen, an denen nicht zu rütteln war, aber alles zeigte sich mir wacklig, nur der alte Baum auf dem Schulhof stand fest. Kannst du dir vorstellen, dass ich sogar auf den Gedanken kam, ihn fällen zu lassen? Aber die Kastanie war gesund, stark und fest, sie stand wie ein Bollwerk aus längst vergangener Zeit, das auch mich überdauern würde, und jeden Morgen aufs Neue ließ sie mich klein und zerbrechlich fühlen.

      Mir fiel Kastunke ein, der zu unserer Zeit Hausmeister an der Hochschule war und das ewige Leben zu haben schien, und nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen, er rauchte Zigarren und spuckte alle paar Schritte aus, trug im Kohlenkeller wie in der Aula zu Feierstunden seine speckige Pudelmütze, und er erzählte den Studenten gern vom Krieg, wo es gerecht zugegangen sei und Ordnung geherrscht habe, er sagte, damals hätten wir unsere Schlampigkeit mit dem Leben bezahlen müssen. Dozenten und Studenten sahen in ihm ein Fossil, man entschuldigte ihm alles, er wurde ja gebraucht, uns den Dreck nachzuräumen. In Prüfungszeiten saßen wir gern im Heizungskeller, tranken Bohnenkaffee, rauchten und sahen Kastunke bei irgendeiner Arbeit zu, wie er einen Stuhl leimte oder einer Tischlampe das Kabel auswechselte. Ich mochte den Alten nicht, ich fand ihn ungewaschen, er roch, seine Sachen waren alt und schmutzig, auf seinem Tisch standen trotz des Kohlendrecks Fotografien, gerahmt, hinter sauberem Glas, vergilbt zwar, aber noch gut erkenntlich; sie zeigten Gruppenbilder von lachenden jungen Soldaten und immer wieder einen uniformierten jungen Mann, der eine junge Frau im Arm hält, er kerzengerade, den Blick sieghaft in die Ferne gerichtet, sie an ihn gelehnt und zu ihm aufschauend wie zum lieben Gott. Für mich war Kastunke ein Faschist, nicht aus der Welt zu bringen, und ich schob ihm alle Schuld an den Verbrechen des Krieges zu. Aber in diesen Stunden im Keller, in meiner Prüfungsangst, gab der Alte mir das Gefühl von Geborgenheit. Ich wehrte mich dagegen, aber nur schwach und um mein Gewissen zu beruhigen. Schnell gab ich der angenehmen Wärme nach, ließ mich gefangen nehmen von dem engen niedrigen Raum, vom leisen Zischen im Gewirr der Rohre, dem dämmrigen Licht und dem Alten selbst, wie er so dasaß, im blauen Kittel, eine Zigarre paffend, schniefend, die Brille auf die Stirn geschoben, mit Zange und Schraubenzieher an irgendeinem elektrischen Teil bastelnd.

      Was will ich eigentlich damit sagen, was hat das mit dem alten Hausmann und Hans Schorn zu tun? Plötzlich erinnere ich mich und ich finde Bilder und Worte wieder, die mich verwirren. Sie sind alle wieder da, meine Lehrer, der Grützner, die Palluschke, die Gruse, der Schindler und der Kastunke, und wer weiß, wer da noch auftaucht mit seinen Sprüchen und Eigenheiten, was fange ich mit ihnen an? Und was eigentlich beunruhigt mich? Was steckt dahinter? Wie kann ein Junge auf einem Baum mich so aus der Bahn werfen? In meinem ganzen Leben war ich nicht so durcheinander.

      Ich fühlte, mein drittes Auge bemerkte es, da war etwas in mich gekommen und arbeitete, wie ein Tier nagte es, fraß, spuckte aus, ruhte und bewegte sich, griff an und riss aus, und, ich täusche mich nicht, es lachte, ja, es lacht noch immer.

      Ich wusste, die Sache ist nicht ausgestanden, sie geht weiter, da passiert noch mehr, was?

      Da sitzt doch der Junge wieder auf dem Baum, Hans Schorn auf der alten Kastanie, mitten auf dem Hof der neuen Schule, vor aller Welt Augen.

      Mir war, als hätte ich das selbst herbeigerufen, wie unter einem fremden Zwang.

      Wieder fühlte ich mich allein, hilflos und verlacht, wieder schreie ich: "Wenn du nicht augenblicklich heruntersteigst ...! Du wirst was erleben!"

      Der Junge da oben rührt sich nicht, er ist weit weg, er hat keine Verbindung mit mir, ich kann ihn nicht erreichen, der Baum trägt und schützt ihn. Und dann wippt der Junge im Wipfel, ein sanftes Auf und Ab, ein Schaukeln, ein Wiegen, wie Musik, ruhig, gleitend, über den Schulhof hinweg in die Ferne ziehend.

      "Aber dann...!", rufe ich, der Schulhof ist eng, er umklammert mich, dahinter die Stadt, Häuser, Straßen, Steine, überall Steine.

      "Wenn du jetzt nicht sofort ..."!

      Mir kommen die Tränen, was weiß ich warum. Nur weg, ich renne, vorbei an Hausmann, dem ich etwas zurufe, dann bin ich in meinem Zimmer und lasse mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen.

      Du wirst verrückt, sagte ich mir, du bist verrückt, so geht das nicht weiter, was ist los mit dir, willst du aufgeben, aber warum und was dann. "Härte", sagte der Dekan in all seinen Reden vor versammelter Mannschaft, "Unnachgiebigkeit gegen uns selbst. Von unseren Gefühlen her sind wir Tiere. An unserem Verstand ist es, uns als Menschen zu erweisen durch ein kluges, der Gemeinschaft nützliches Ordnen und Beherrschen unserer Gefühle."

      Es klopfte an meine Tür, wie lange schon, ich rief: "Moment noch!", rieb mit dem Handtuch über mein Gesicht und setzte mich hinter den Schreibtisch.

      "Bitte!"

      Der alte Hausmann trat ein, sein Gesicht gerötet, seine Haare in Unordnung, den Binder aufgezogen, die obersten Hemdknöpfe geöffnet, und sein Gesicht zeigte das Lachen, das ich in mir gehört hatte, das Lachen eines Kindes, das etwas Verbotenes tun wird und dem weder mit Lob noch Drohung beizukommen ist.

      Härte, Unnachgiebigkeit, denke ich, Beherrschen der Gefühle, und drücke meine Empörung aus, kanzle ab, wehre mich nicht gegen das Tier in mir, nicht gegen sein Schmeicheln und nicht gegen seine Bisse.

      "Das muss aufhören, Kollege Hausmann, ein für alle Mal! Verstehen wir uns recht!"

      Da sagt doch der Alte, das musst du dir vorstellen, Sonja, da sagte er: "Tja. Vielleicht


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