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Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1. Carl WilckensЧитать онлайн книгу.

Dreizehn. Das Tagebuch. Band 1 - Carl Wilckens


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      Im Verwunschenen Tal

      Regenrauschen und das Murmeln der Schrumpfköpfe füllten die Stille. Das Licht zahlreicher Kerzen warf tanzende Schatten an die Wände, aus denen Regalbretter wie Baumpilze ragten. Die Temperatur war mit Einbruch der Nacht gesunken, doch im Inneren der Hütte des Marionettenmannes war es behaglich warm.

      Während William auf die Marionette einschlug, beobachtete der Marionettenmann ihn durch seinen Kessel wie durch ein rundes Fenster in der Decke von Raum 21. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und seufzte erschöpft, während er mit der anderen das Spielkreuz hielt. Nachdem William verkündet hatte, dass er ihm nicht länger helfen würde, hatte der Marionettenmann eine schreckliche Stunde lang geglaubt, Emily aufgeben zu müssen. Doch dann war William mit Ed zurückgekehrt. Dass er ihn ins offene Messer hatte laufen lassen, war letzten Endes genauso gut, als wenn er durch seine Hand gestorben wäre. Vermutlich hatte William seinen Freund bloß deshalb zu seiner Marionette gebracht, damit sie tat, wozu er nicht imstande gewesen war. Wenn er nun schrie und heulte, dann nur, weil er versuchte, sich selbst etwas vorzumachen.

      Schließlich ging der Student vor seinem toten Freund auf die Knie. Sein Klagen war zu einem Wimmern abgeflaut. Der Marionettenmann nutzte die Gelegenheit und ließ das Spielkreuz tanzen.

      »Du kannst mich hassen, wenn du willst«, sagte die Marionette. »Aber lass den Tod deines Freundes nicht umsonst gewesen sein. Hilf mir, Emily wiederzubeleben.« William hob den Blick. Seine Augen waren rot umrandet. Es war nicht das erste Mal, dass der Marionettenmann diesen Ausdruck in dem Blick von jemandem sah: Flammen des Hasses loderten darin, genährt von großem Schmerz.

      »Das werde ich«, sagte er. »Aber danach werde ich dich finden, M-Punkt, und den Tod meines Freundes rächen.« Der Marionettenmann musste an sich halten, um das spöttische Lachen, das ihm über die Lippen kam, nicht auf die Marionette zu übertragen. So tonlos es aus ihrem Mund geklungen hätte, es hätte William vermutlich blind vor Wut gemacht.

      William, William. Du hast ja keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast.

      »Ich werde den Toten beseitigen«, ließ er die Marionette schließlich sagen. Sie packte Ed am Handgelenk, hob ihn hoch und ließ ihn in der Truhe neben der zugemauerten Eingangstür verschwinden, nicht ohne zuvor ein wenig von seinem Blut Williams Kessel hinzuzufügen. Nur zur Sicherheit würde er die Aura der Truhe löschen. Das hätte er längst tun sollen. Dieser Schnüffler Lovelace und seine rechte Hand Harper suchten bereits nach Hinweisen auf den Verbleib des Mannes, den der Marionettenmann zu seiner jüngsten Puppe gemacht hatte. Für gewöhnlich ließ er den Zugriff nur so lange währen, dass seine Opfer allenfalls einen geistigen Schaden davontrugen. Für die Zusammenarbeit mit William jedoch hatte er seine Marionette nicht ständig wechseln wollen und dafür eine seiner wertvollsten Zutaten geopfert: die Essenz eines Windgeistes, jene Sorte von Naturgeistern, mit denen seit den Druiden des antiken Normar kaum jemand in Kontakt getreten war. Der ständige Zugriff hatte den Mann nicht nur den Verstand gekostet, sondern auch das Leben. Der Marionettenmann tat sein Bestes, um den Verwesungsprozess aufzuhalten, doch es erwies sich als genauso schwer, wie dem Alterungsprozess eines Lebenden Einhalt zu gebieten; zumal er nicht die gleichen Maßnahmen wie bei Emily treffen konnte. Eingefroren und sich die Kontrolle mit einem Folkloren teilend, hätte er die Marionette nicht lenken können.

      »Was ist nun zu tun?«, fragte William, während der Marionettenmann seinen Kesselinhalt studierte wie ein Maler sein Gemälde, an dem er seit langer Zeit arbeitete. »Wo finde ich die Lotinsrose?«

      »Gib mir einen Moment.« Der Marionettenmann hing das Spielkreuz über ein galgenähnliches Gestell, das er am Kesselrand angebracht hatte. Er trat vor seinen Zutatenschrank, öffnete ihn und holte eine unscheinbare Schachtel daraus hervor. Darin befanden sich Gegenstände, die der Wurmgott ihm überlassen hatte, um seine Aufgabe zu erledigen: Steine, in die besondere Enerphagen mithilfe der dunklen Runen gebannt worden waren. Sie ermöglichten einem, die Runenmatrix zu manipulieren. Der Wurmgott würde ihm die Haut abziehen, wenn er je wieder hier aufkreuzte. Allerdings glaubte der Marionettenmann, dass er es sich längst so sehr mit ihm verscherzt hatte, dass es schlimmer nicht würde kommen können. Er hatte einige Maßnahmen getroffen, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war, Emily ins Leben zurückzuholen, bevor er für seinen Ungehorsam bezahlte.

      Der Marionettenmann nahm einen der Steine aus der Schachtel, außerdem mehrere Gläser mit aufbereiteten Zutaten aus dem Schrank und kehrte damit zum Kessel zurück. Nach nur kurzer Zeit hatte er die Runen in der Aura der Truhe wie Falten aus einem Hemd gebügelt. Wer die Welt durch irdische Augen sah, würde sie nun einfach übersehen. Sollte doch jemand auf sie aufmerksam werden, würde die Person sie bald wieder vergessen. Um ganz sicherzugehen, wollte der Marionettenmann sie zudem versiegeln.

      »Hey, Harry«, rief er, ohne vom Kessel aufzublicken. »Warst du nicht mal Schlüsselmacher?«

      »Der Beste«, erwiderte der Schrumpfkopf namens Harry stolz – ein besonders großes Exemplar mit Vollbart. »Ich brachte einst im Auftrag der Königin die Schlösser des Silverrust Palace auf den neuesten Standard.«

      »Perfekt«, entgegnete der Marionettenmann, nahm den Kopf aus dem Regal und warf ihn in seinen Kessel, ehe Harry auch nur eine erschrockene Miene ziehen konnte. Nach nur wenigen Handgriffen war es vollbracht.

      Nun galt es, den Spiegel zu fragen, wo die Lotinsrose gewachsen war. Mit klopfendem Herzen trat der Marionettenmann vor das runde Glas. Statt seines eigenen Spiegelbildes zeigte es eine Stadt, die wie ein steinerner Wald an einem Gebirgsstock wuchs. Mit unzähligen Türmen und Gärten glich sie keiner Stadt, die der Marionettenmann je gesehen hatte. Schiffe, aus deren Rümpfen Flügel ragten, schwebten über den Dächern. Das Bild im Spiegel bewegte sich, als zeigte es die Welt durch die Augen eines Vogels, der über der Stadt flog. Er hielt auf die Öffnung eines Tunnels im Gebirgsstock zu und folgte seinem Verlauf bis in eine kugelrunde Höhle. In ihrem Zentrum schwebte eine Sonne, die langsam pulsierte wie das Herz eines schlafenden Berges. An den Höhlenwänden wuchsen einzigartige Pflanzen, deren Namen nicht einmal der Marionettenmann kannte. Und dort, neben einem kaktusähnlichen Gewächs mit Fühlern statt Dornen, war eine Rose mit schwarzen Blütenblättern: die Lotinsrose.

      »Was ist das für ein Ort?«, murmelte der Marionettenmann.

      Einer der Schrumpfköpfe hoch oben im Regal lachte spöttisch. »Das ist Iduns Herz«, sagte Carl. »Es befindet sich in Vision: einer Stadt an einem Ort so fern und unerreichbar wie dieses Tal.«

      »Was redest du?«, fragte der Marionettenmann gereizt. Carl besaß wie alle Schrumpfköpfe keine Augen. Doch war er das einzige Exemplar, das nicht der Marionettenmann erschaffen hatte, sondern der Wurmgott. Vielleicht hatte er ihm das ein oder andere innere Auge geöffnet.

      »Es ist vorbei«, erwiderte Carl. Seine Genugtuung war unüberhörbar. »Das ist deine letzte Chance, dich deiner eigentlichen Aufgabe zu widmen, Marionettenmann. Töte die Wächter!«

      Der Marionettenmann schluckte seine Verzweiflung herunter. Er ballte die Hände zu Fäusten und schob trotzig das Kinn vor. Trat vor den Kessel und nahm das Spielkreuz zur Hand.

      »Du musst nach Vision gehen«, ließ er die Marionette sagen. Er würde nichts unversucht lassen. »Du findest die Rose in einer Höhle, die Iduns Herz genannt wird.«

      »Vision? Wo ist das?«, fragte William. Der Marionettenmann sah zu Carl.

      »Selbst wenn ich es dir beantworten könnte, ich würde es dir nicht sagen«, meinte der Schrumpfkopf und schniefte.

      »Du …« Der Marionettenmann erstarrte. Angst lähmte seine Glieder. »W…w…war das da gerade ein Wurm in deiner Nase?«

      »Da war nichts«, antwortete Carl unschuldig im fast selben Moment, als der Wurm erneut aus seiner schrumpeligen Nase rutschte. Er wand sich eine Sekunde lang, wie um jeden im Raum zu warnen, ehe der Schrumpfkopf ihn mit einem Schniefen wieder einholte.

      Der Marionettenmann fing an zu zittern. »Er kommt«, murmelte er, woraufhin alle Schrumpfköpfe in betretenes Schweigen verfielen. »Der Wurmgott ist im Verwunschenen Tal!« Einige wenige Sekunden verstrichen ungenutzt,


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