Walther Rathenau - Leben und Werk - Band 126 in der gelben Reihe bei Jürgen Ruiszkowski. Harry KesslerЧитать онлайн книгу.
Philippika gegen den „Zweckmenschen“: „In dem Bewusstsein, dass er aus eigenem Wesen Gewalt nicht üben kann, trachtet er Kraft durch Macht zu ersetzen. Aus Sklaverei entstanden, will er Sklaven befehlen, von Furcht gepeinigt, will er Furcht erwecken.“
Der erste Schritt war die Berufswahl, der Verzicht, trotz Begabung und Hang zur Malerei, auf eine künstlerische Laufbahn; die Wahl eines Geldberufes, des technischen und kaufmännischen. Er verzeichnet in dem kurzen Abriss, den er der schwedischen Ausgabe seines Buches „Von kommenden Dingen“ vorausschickte: „Berufswahl: Schwanken zwischen Malerei, Literatur und Naturwissenschaft. Entscheidung für Physik, Mathematik und Chemie als Grundlagen neuzeitlicher Technik und Wissenschaft.“ Die Entscheidung erfolgte, weil er die Abhängigkeit von seinem Vater in einem keinen sicheren Gelderwerb versprechenden Beruf fürchtete. Mit Genugtuung verzeichnet er in seiner „Apologie“: „Mit siebzehn Jahren absolvierte ich meine Schulzeit, mit dreiundzwanzig ging ich in die Praxis. Von da ab habe ich, wie es in unserer Familie üblich war, niemals mehr eine Unterstützung meines Vaters beansprucht oder angenommen.“ Und mit vierundzwanzig Jahren schreibt er dem Vater: „Du kennst mich genug, um zu beurteilen, wie ich in einer subalternen Position leide. Niemals würde ich freiwillig in irgendeinem Betriebe ein abhängiger Beamter sein. Es ist mir über die Maßen verhasst, von einem Vorgesetzten jeden Tag meine Arbeit zuerteilt zu bekommen, der gelegentlich kommt, um nachzusehen, ob ich meine Pflicht tue, und dem ich über alles Rechenschaft schulde. Der mir Befehle geben kann usw. ...“ (Brief 7 vom 14. II. 92). Gegen solche materielle Abhängigkeit hilft nur das Geld, das durch Fleiß, Klugheit, genaues Rechnen zu erwerbende Geld, das wie ein goldener Panzer die allzu zarte, furchtsame Haut der Seele schützt. Vielleicht ist es wirklich die zwei Jahrtausende gepeinigte, getretene, gedemütigte, verfolgte, von Ghetto zu Ghetto gehetzte jüdische Rassenseele, die Rathenau sieben Jugendjahre in dem freudlosen Fabrikdorf Bitterfeld festhielt, um Geld zu verdienen, ohne jeden anderen Antrieb, ohne Familie, ohne Frau, als Sohn reicher Eltern, entgegen seinen künstlerischen Neigungen, nur um seine materielle Unabhängigkeit zu erringen. Alle zwei Monate ein kurzer Besuch bei der Mutter in Berlin, sonst nur Arbeit, Arbeit, Arbeit an wenig erfolgreichen Unternehmungen. Oft erschöpfende, auch körperlich widerwärtige Arbeit. Bei einer Gelegenheit, so erzählt sein damaliger Gehilfe Hugo Geitner, wurden im sogenannten „Zersetzungsraum“ des Werkes, in dem der elektrische Strom durch Salzsäure geschickt wurde, um Alkali-Lauge zu gewinnen, die Dämpfe so stickig, dass die Arbeiter, obwohl sie in Essig getränkte Schwämme vor dem Mund hatten, wegen des Gestankes fortliefen und die Apparate stehen ließen. Da kam Rathenau und bediente die ganze Nacht die Apparate selbst. – Einmal, als er selber Zweifel bekommt am Enderfolg seiner technischen Versuche, schreibt er der Mutter: „Aber wenn sich für meine Ergebnisse keine Verwendung findet – und ich fange an, daran zu zweifeln – was dann, ja was dann? Ich weiß es nicht. So sehr ich grüble, ich weiß es nicht. Ein anderer Beruf? ... Ein neues Studium? Nein, solange ich nicht genug Geld habe, um es unabhängig zu betreiben, nie und nimmermehr ...“ So spricht und handelt ein Freigelassener, mit dieser leidenschaftlichen Angst vor der Kette.
Aber Geld allein schützt nicht vor Demütigungen. Geist und Klugheit stellen gegen soziale Ungerechtigkeit noch andere Waffen zur Verfügung: die der gesellschaftlichen Diplomatie, die Kunst, geheime Antriebe, Schwächen, leidenschaftliche Vorurteile, Einrichtungen der Gesellschaft richtig einzuschätzen und auszunutzen, wozu als Hilfsmittel die Gabe der Einfühlung unentbehrlich ist, die in den seltenen Fällen, wo zu Geist und Feingefühl schöpferische Phantasie kommt, zur Intuition wird, d. h. zur Fähigkeit, das Uhrwerk einer fremden Seele, einer ganzen Gesellschaft selbständig wieder aufzubauen, seine Gesetze sozusagen am Modell zu beobachten und seinen Ablauf wie den einer Maschine zu berechnen. Rathenau besaß schon sehr früh diese Gabe. Davon zeugt unter anderem ein Theaterstück, das er 1887 als Neunzehnjähriger in Straßburg schrieb, anonym drucken ließ, dem Theater einreichte und, nachdem es unverdientermaßen zur Aufführung nicht angenommen war, bis auf ein Exemplar, wie es scheint, vernichtete und sogar seiner Mutter verheimlichte: das bisher unveröffentlichte Schauspiel „BLANCHE TROCARD“. In einer Zeit trostloser Öde des deutschen Theaters geschrieben: ein Jahr vor Sudermanns „Ehre“, zwei vor Gerhart Hauptmanns Erstlingsstück „Vor Sonnenaufgang“, zu einer Zeit, als Ibsen in Deutschland kaum bekannt war, und Oscar Wilde nur für einen exklusivsten Kreis englischer Ästhetiker mit der Bühne zu spielen gerade anfing. Dieses Werk eines eben erst von der Schule gekommenen Studenten ist alles andere als das übliche Primanerdrama, weder konventionell noch revolutionär, sondern ganz eingestellt und aufgebaut auf die Beobachtung und Gestaltung allerfeinster, kaum fassbarer Zwischentöne in Gedanken und Gefühlen, zartester gesellschaftlicher Spannungen. In seinem völligen Verzicht auf jede Theaterkonvention, Phrase, Rhetorik zugunsten schmiegsamer Einfühlung in leiseste Regungen der Zuneigung oder Ablehnung zwischen Menschen, in flüchtigste Schwankungen der gesellschaftlichen Temperatur steht es den jüngsten Franzosen, Charles Vildrac oder Porto-Riche, oder allenfalls den kleinen poetischen „Proverbes“ von Musset viel näher als den Vorbildern, die damals das Theater Rathenau bot: den Pariser Kassenstücken von Alexandre Dumas dem Jüngeren oder des Verfassers der „Welt, in der man sich langweilt“.
Es lohnt sich, zur Beleuchtung von Rathenaus frühreifer Einfühlung in Menschen und Beziehungen „Blanche Trocard“ näher anzusehen. Es ist ein kleines Ehedrama, in dem das Tragische fast nur zwischen den Zeilen steht, Spannungen und Leidenschaften, die zwei Menschenleben zu vernichten drohen, hinter den einfachen, alltäglichen Worten, die gesprochen werden, nur wie eine von gesellschaftlicher Konvention verhängte Glut hindurchleuchten. Zwei Frauen haben geheiratet: die eine, eine Madame Rozan, früher Operettendiva, hat sich für ihr Geld einen Mann gekauft; die andere, Blanche Trocard, ein anständiges Mädchen ohne Geld, ist von ihrem Mann gekauft worden. Die beiden Männer sind Associés und leben mit ihren Frauen gemeinsam im selben Hause auf dem Lande. Zwischen den Frauen herrscht eine begreifliche Abneigung. Die frühere Operettendiva will sich der Blanche aufdrängen und hat ihr vorläufig ihren Mann gestohlen; Blanche weiß dieses, leidet ohne zu klagen, aber entzieht sich jeder Annäherung. Ein junger Mann namens Berthier kommt, der früher Blanche geliebt hat, aber, weil er sich nicht geliebt glaubte, zugunsten ihres jetzigen Mannes verzichtet hat. Damit beginnt das Drama. Hier als Probe das erste Gespräch zwischen Blanche und ihrem früheren Liebhaber:
Mme. Trocard:
Vermag die Erinnerung an Frankreich und die Freunde, die Sie dort verlassen, nichts über Sie?
Berthier:
Grade die Erinnerung an Frankreich treibt mich fort, denn sie ist eng mit dem verknüpft, was mir besonders das Leben verleidet und was alle meine sonstigen quälenden Sorgen zu gleichgültigen Nebendingen stempelt. – Auch die Erinnerungen an meine Freunde halten mich nicht zurück, obgleich sie meistenteils recht heiter, wirklich außerordentlich heiter sind. In der Tat, meine Freunde und meine Erinnerungen an sie sind das amüsanteste, was ich mir denken kann.
Mme. Trocard:
Ich hätte nie gedacht, dass gerade ein Mann wie Sie mit Trauer seiner Heimat gedenken könne, der kaum zu wissen schien, was es hieße, einen Wunsch unerfüllt zu sehen, – verwöhnt vom Glück, verwöhnt von seiner Umgebung, bei allen beliebt, von so vielen beneidet ...
Berthier:
Sie hätten es nie gedacht, das glaub' ich wohl; aber Sie begreifen es. Begreifen Sie doch auch, dem Himmel sei's geklagt, dass eine Frau jung, schön und reich sein kann und dabei doch unglücklich. Und wie viel seltsamer klingt das!
Mme. Trocard:
Ich weiß nicht, wie ich Ihre Worte deuten soll.
Berthier:
Ja, gnädige Frau, Ihr Schicksal ist dem meinen ähnlich; und ich muss es gestehen, ich finde einigen Trost darin. Dass ich Sie unglücklich gefunden habe, ist zwar mir das traurigste, was ich empfinde; aber ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich Sie glücklich gesehen hätte.
Mme. Trocard:
Sie irren sich, Herr Berthier, ich bin nicht unglücklich. Warum glauben Sie es? Wirklich, Sie irren sich.
Berthier:
Dem Anscheine nach, allerdings, sind Sie glücklich. Ihre Worte sind nicht anders als die einer