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Der Nachlass. Werner HetzscholdЧитать онлайн книгу.

Der Nachlass - Werner Hetzschold


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Thomas. Frau Schlundt wird jeden Angreifer in die Flucht schlagen. Davon ist Thomas fest überzeugt.

      Als sie die Felder erreicht haben, wird Thomas klar, warum Frau Schlundt so ein riesiges Wagenrad auf dem Kopf trägt. Erbarmungslos heiß brennt die Nachmittagssonne. Am liebsten würde Thomas Schuhe, Söckchen und Hemd ausziehen, aber er traut sich nicht. Er hat seiner Mutter versprochen, sich manierlich zu betragen, und er möchte seine Mutter nicht enttäuschen. Jetzt erst fällt Thomas auf, dass sich Frau Schlundt ihr Festtagskleid über ihren dürren Körper gestreift hat. Es ist ein weißes enges Kleid mit großen, roten Rosen und einem feinen Spitzenkragen. Selbst ihren langen, dürren Hals lässt der Kragen kürzer erscheinen. Thomas hatte seine Mutter sagen hören: Das ist das Lieblingskleid der Frau Schlundt. Kein Wunder, kein Kleid kann sie vorteilhafter erscheinen lassen. Inzwischen bereut Thomas, dass er ihr und seiner Mutter gehorcht hat. Viel lieber würde er jetzt am See sein und sich seine Haut bräunen lassen, statt sie mit einem Hemd zu verdecken. Seine Missstimmung entgeht nicht Frau Schlundt.

      „Du gehst doch schon zur Schule.“

      „Ja.“

      „Welche Klasse besuchst du.“

      „Die Erste.“

      „Gehst du gerne zur Schule?“

      „Ja.“

      „Was möchtest du denn später einmal werden?“

      „Ich möchte was werden, wo ich viel Geld verdiene.“

      „Geld allein macht aber nicht glücklich.“

      „Aber ich könnte dann alles kaufen, was sich meine Mami wünscht.“

      „Lernt ihr in der Schule auch Gedichte?“

      „Ja.“

      „Was sind das für Gedichte?“

      „Mein Bruder ist ein Traktorist in einem Dorf in Sachsen. Er leistet, was nur möglich ist, damit die Halme wachsen. Er rechnet oft und überlegt, wie kann ich‘s besser machen. Und wie er seinen Traktor pflegt! Das Herz kann einem lachen.“

      „Und lernt ihr auch solche Texte wie: Eine feste Burg ist unser Gott ...“

      „In der Schule nicht, aber im Pfarrhaus. Und wenn ich sonntags in die Kirche gehe, schenkt mir der Pfarrer bunte Bilder mit Engeln und der Jungfrau Maria und dem Jesulein.“

      „Gehst du gerne in die Kirche?“

      „Ich gehe lieber in die Kirche als in den Garten meiner Großmutter. Da muss ich nämlich immer Unkraut zupfen. Und das gefällt mir nicht. Da gehe ich lieber in die Kirche. Dort brauche ich nichts zu tun. Nur herumsitzen. Und wenn meine Religionslehrerin zu mir hinschaut, tue ich so, als ob ich singe. Dann reiße ich meinen Mund ganz weit auf. Und in der nächsten Religionsstunde lobt sie mich, wie schön ich mitgesungen habe. Manchmal schenkt sie mir auch ein Bild. Habe ich Bilder zwei Mal, tausche ich sie bei meinen Freunden gegen Murmeln ein.“

      „Was sind Murmeln?“

      „Murmeln sind kleine bunte Kugeln. Wenn wir murmeln, müssen wir viele Kugeln in ein Loch kullern. Es ist gar nicht einfach, den richtigen Platz zum Murmeln zu finden. Auf Rasen lassen sich die Kugeln nicht bewegen. Es muss fester Boden sein. Deshalb spielen wir immer bei den Teppichstangen. Da ist der Boden schön glatt, und schnell haben wir ein Loch gebuddelt.“

      „Dort dürft ihr aber nicht spielen. Solche Löcher sind gefährlich. Wie schnell gerät der Fuß in so ein Loch. Habt ihr euch das schon einmal überlegt?“

      „Nein! Aber Sie werden schon Recht haben.“ Thomas weiß aus Erfahrung, wenn er den Erwachsenen Recht gibt, hat er seine Ruhe. Er hat keine Lust, sich mit Frau Schlundt zu unterhalten. Sicherlich will sie ihn nur aushorchen, will wissen, was sie noch nicht weiß über ihn und seine Freunde. Deshalb ist es besser, vorsichtig zu sein und sich genau jedes Wort zu überlegen. Wenn sie mit ihm weiterredet, will sie die Namen seiner Freunde wissen, wo sie wohnen, was für eine Wohnung sie haben, ob die Eltern arbeiten. Schon einmal wollte Frau Schlundt etwas über einen Freund wissen. Thomas stellte sich jedoch dumm, konnte ihr nicht einmal den Vornamen nennen. Die Enttäuschung konnte er ihr ansehen.

      Inzwischen haben sie Stünz bei Sellerhausen erreicht. Stünz ist wie Stötteritz, manche sagen statt Stötteritz auch Reudnitz, ein Vorort von Leipzig. Schon von Weitem ist der Kirchturm von Stünz zu sehen, weil die Felder den Blick freigeben. Thomas mag die Felder. Sie schieben sich nicht wie die Bäume zwischen ihn und die Sonne. Thomas liebt die Sonne. Ohne sie kann er nicht leben. Im Spätherbst spürt er immer wieder, wie eine große Traurigkeit über ihn kommt. Selbst im Winter, wenn der Schnee die Felder, den Bahndamm vor dem Haus mit einem kalten Weiß überzogen hat, das nach kurzer Zeit sich in ein Grauweiß verwandelt, sehnt sich Thomas nach der Sonne. Wenn die Schlitten den Bahndamm hinuntergleiten, jubelt auch er; trotzdem bleibt der Sommer die schönste Jahreszeit für ihn.

      Als sie sich den Häusern in Stünz gleich hinter den Feldern nähern, schnappt die Hand der Frau Schlundt nach der Hand des Jungen, hält diese fest umklammert. Thomas will sie ihr entziehen, aber er hat ja der Mutter versprochen, sich manierlich zu betragen. So lässt er Frau Schlundt gewähren. Thomas vergleicht die Häuser hier mit den Meyerschen, in denen er mit seiner Familie in Stube, Kammer, Küche lebt. Nicht einmal einen kleinen Flur haben sie. Seine Freunde, nicht alle, aber viele, die auch in den Meyerschen wohnen, besitzen noch einen kleinen Flur. So ein winzig kleiner Flur lässt die Wohnung gleich viel größer erscheinen. Vom Hausflur tritt der Besucher nicht sofort in die Küche ein, sondern in diesen kleinen Raum mit einer Garderobe für die Jacken und Schuhe. Von diesem Raum aus führen Türen in die anderen Zimmer. Die Häuser hier sehen sich auch ähnlich, aber sie sehen anders aus als die Meyerschen. Die Meyerschen sind aus roten Ziegelsteinen gebaut, die Häuser hier sind abgeputzt und sehen viel freundlicher aus. Vor den Häusern dehnen sich auch Grünanlagen aus. Teppichstangen gibt es auch. Bestimmt kann man hier auch murmeln.

      Frau Schlundt schiebt Thomas durch eine offenstehende Haustür, steigt mit ihm die Stufen hinauf, Treppenabsatz um Treppenabsatz. Ihre Hand fühlt sich eisig kalt an und zerdrückt fast die Hand des Jungen. Thomas möchte ihr seine Hand entreißen, nur hat er der Mutter versprochen, sich manierlich zu verhalten. Er will verhindern, dass Frau Schlundt sich über ihn beklagen kann. Jetzt stehen sie vor einer Tür. Einen Augenblick scheint Frau Schlundt zu zögern, dann drückt ihr langer, dürrer Zeigefinger der rechten Hand auf den Klingelknopf. Schritte sind hinter der Tür zu hören, dann wird sie geöffnet. Eine Frau mit blonden, kurzen Haaren steht in der Tür. Viel jünger sieht sie aus als Frau Schlundt, stellt Thomas fest, auch viel freundlicher. Bestimmt kann diese Frau mit ihren Augen lachen. Die Frau lässt sie eintreten. Das ist also die richtige Frau von Onkel Erich, denkt Thomas. Sie passt viel besser zu ihm als Frau Schlundt. Nicht nur weil sie jünger ist, sondern weil sie lebendiger ist, nicht so steif, sondern beweglich, nicht so kalt, sondern warm und freundlich. Der Junge spürt die Wärme und Geborgenheit, die von dieser Frau ausgeht. Er mag sie, wie er den Sommer liebt. Frau Schlundt ist dagegen wie ein nasskalter Novembertag. Die Frau führt sie in die Küche, bittet sie Platz zu nehmen. Dabei weist sie auf weiß gestrichene Stühle.

      Vielleicht hat sie keine Stube, denkt Thomas. Oder sie will sie nicht in ihre Stube einlassen. Manche Leute haben so gute Stuben, dass sie nie in den Stuben leben, sondern sie nur den Leuten zeigen, wenn sie Besuch haben. Aber die Frau von Onkel Erich sieht nicht so aus, als würde sie nur eine Stube zum Vorzeigen haben.

      Ein Mann und ein Mädchen tauchen hinter einer Tür auf.

      Sie ist älter als ich. Bestimmt vier Jahre, vielleicht auch fünf, schätzt Thomas. Das Mädchen hat einen blonden Pferdeschwanz und lustige, blaue Augen wie ihre Mama. Die Blumen auf ihrem Kleid lachen auch. Es sind andere Blumen. Sie sind nicht vornehm kalt wie die Blumen auf dem Kleid von Frau Schlundt. Der Mann ist so alt wie Onkel Erich. Er hat eine Glatze. Nur an der Seite sind Haare. Die sind aber ganz kurz geschnitten, so dass sie kaum zu bemerken sind. Wortlos setzt sich der Mann auf einen Stuhl.

      Die Frau sagt zu dem Mädchen: „Hannelore, sei so lieb und kümmere dich etwas um den jungen Mann. Am besten, du gehst mit ihm spazieren und spendierst ihm ein Eis.“ Die Frau reicht


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