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Der Nachlass. Werner HetzscholdЧитать онлайн книгу.

Der Nachlass - Werner Hetzschold


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ihn bei der Hand. Ihre Hand ist warm, weich, geschmeidig, fühlt sich einfach gut an. Diese Hand soll seine nicht so schnell loslassen, hofft Thomas.

      Während Hannelore mit ihm durch eine Gartenanlage bummelt und später an der Ecke für sich und ihn ein Eis kauft, verbleibt Frau Schlundt in der Wohnung von Erichs Frau.

      Als die Sonne nicht mehr so heiß brennt, kehren Hannelore und Thomas zurück. Für Thomas ist es ein schneller Abschied. Frau Schlundt verlässt mit ihm Stünz. Ihr Gesicht strahlt wie das eines Gewinners.

      „Ein Eis hast du ja schon bekommen“, sagt Frau Schlundt, „und zwei Eis wären zu viel.“

      Thomas ist da anderer Ansicht: Wenn sie schon kein Eis spendieren will, dann wenigstens Schokolade oder Kuchen. Das denkt er aber nur. Er hat ja seiner Mutter versprochen, sich manierlich aufzuführen.

      Nur hat Frau Schlundt längst vergessen, was sie versprochen hat. Ihre Gedanken beschäftigen sich jetzt nicht mit Kaffee und Kuchen oder Eis. Frau Schlundt denkt an die Zukunft. Und sie lächelt dabei.

      2

      Längst ist die Zeit vorbei, dass die Schule erst um elf oder gar um zwölf beginnt. Wie die Großen muss Thomas jetzt auch früh aufstehen, damit er Punkt acht Uhr in der Schule ist.

      Während Thomas mit den Großen und Kleinen aus dem Viertel auf dem gewohnten Schulweg am Stötteritzer Bahnhof vorbei die Schönbach Straße in Richtung 28. Grundschule hinaufsteigt, freut er sich auf seinen immer näher kommenden Geburtstag.

      Als er den Klassenraum unmittelbar vor dem Stundenklingeln betritt, fliegt ihm ein nasser Schwamm an den Kopf. Ohne sich lange zu besinnen, schleudert Thomas den noch immer vor Nässe triefenden Schwamm seinem vermeintlichen Gegner entgegen, denn Thomas ist nicht entgangen, aus welcher Richtung der Schwamm kam. Kaum hat er den Schwamm abgefeuert, duckt er sich ab, gleich neben der Bank hinter der Tür.

      „Hier ist schwer was los!“ Sein Freund Wolfgang kniet neben ihm in der Deckung.

      „Das habe ich gleich bemerkt. Noch nie war früh so eine Stimmung! Vorsichtig prüft Thomas die Lage.

      „Habt ihr zu Hause kein Radio?“

      „Doch! So einen alten Volksempfänger.“

      „Damit könnt ihr auch Nachrichten hören.“

      „Und welche Nachricht hätte ich hören sollen?“

      „Auf allen Sendern haben sie es gebracht: Stalin ist tot. Und jetzt wollen wir überall die Stalinbilder entfernen.“

      „Wer ist wir?“

      „Zum Beispiel du und ich und noch ein paar andere. Und jetzt tobt der Klassenkampf.“

      „Mir hat der Stalin nichts getan“, sagt Thomas, „von mir aus kann er dort hängen.“

      „Der wird nicht mehr hier hängen. Den nehmen wir ab und lassen ihn verschwinden, wo ihn niemand mehr findet.“ Die Augen von Wolfgang glühen wie die eines Revolutionärs.

      Thomas ist beeindruckt von der Haltung seines Schulfreundes. Trotzdem zieht er es vor, sich nicht in den Klassenkampf einzumischen. Er hat Angst vor den großen Helden. In seinem Lesebuch sind viele Geschichten von solchen großen Helden abgedruckt. Auch wenn sie die Sieger waren, gab es viele Tote zu beklagen; viele tote Kampfgenossen und viele tote Verräter. Die Helden blieben am Leben, nur ihre namenlosen Mitstreiter hatten ihr Leben für die große Sache geopfert und hatten Glück, wenn ihr Tod beweint wurde, viele starben unbemerkt, namenlos, bereits vergessen. Die Namen der Toten wurden nicht genannt, dafür nur Zahlen. Thomas will kein Held sein.

      „Ich werde das Stalinbild mit meinem Schlüsselbund zerstören.“ Wolfgang holt das Schlüsselbund aus der Tasche, setzt zum Sturmangriff an, wie er selbst sagt. Gerade in dem Augenblick wird die Tür aufgerissen, und ihr Klassenlehrer, der Herr Sanftmut, steht im Raum. Alle stürmen auf ihre Plätze, stehen still neben ihrer Bank. Die Stimme von Herrn Sanftmut klingt noch härter als sonst: „Ich setze voraus, dass ihr wisst, was sich ereignet hat. Wir werden den großen Stalin nie vergessen! Fünf Minuten werden wir jetzt schweigend an ihn denken. Fünf Minuten, habe ich gesagt. Und wer das nicht kann, der wird mich kennen lernen, mit dem fahre ich Schlitten.“

      Mit Herrn Sanftmut will sich keiner aus der Klasse anlegen. Schweigend stehen alle neben ihrer Bank und starren ausdruckslos vor sich hin.

      In der Pause sagt Wolfgang zu Thomas: „Der Sanftmut hat uns nur zwei Minuten stehen lassen. Ich habe auf meine Uhr geschaut.“

      Nicht mehr lange und die Ferien beginnen. Thomas freut sich auf die Ferien. Nicht nur, weil er da länger im Bett bleiben kann, sondern weil der Tag ihm dann allein gehört. Er kann tun und lassen, was er will. Schon jetzt weiß er, was er will: Er wird die Ferien im Freibad verbringen, wenn die Sonne es gut mit ihm meint.

      Als Thomas auf dem Balkon steht, um zu prüfen, ob er nur im Hemd gehen kann, fährt gerade ein Güterzug vorbei, beladen mit Panzern und Panzerfahrzeugen. In den offenen Güterwaggons stehen dicht bei dicht Soldaten, schauen sich die Landschaft an, winken ihm zu. An ihren kahl geschorenen Köpfen erkennt er sie sofort als Russen, wie die Leute im Viertel sie nennen, in der Schule werden sie Rotarmisten oder die Rote Armee genannt. Er zögert, ob er zurückwinken soll. Die Panzer und die anderen Fahrzeuge ängstigen ihn. Dabei kommen oft Truppentransporte an ihrem Balkon vorbei. Er ist ihren Anblick gewohnt, trotzdem beschleicht ihn jedes Mal eine seltsame Furcht, für die er keine Erklärung hat. Thomas zieht es vor, vom Balkon zu verschwinden. Ihm wird plötzlich kalt. Dabei scheint die Sonne, und es ist Juni, fast schon Sommer.

      Auf dem Weg zur Schule bemerkt er ein emsiges Treiben am Bahnhof. Darüber wundert er sich, denn die Arbeiterzüge nach Borna, Espenhain, Böhlen fahren früh am Morgen, wenn er noch im Bett liegt. Onkel Erich arbeitet auch dort. Früh um vier Uhr verlässt er das Haus. Er hat schon längst seine Arbeit aufgenommen, wenn Thomas noch im Bett liegt und überlegt, ob er bereits aufstehen soll oder noch etwas liegen bleiben kann, bis die Mutter so ungeduldig wird, dass er es nicht mehr aushalten kann und sich aus den Federn schiebt.

      Wie gewöhnlich erscheint Thomas unmittelbar vor dem Stundenklingeln in der Klasse. Erschreckt stellt er fest, dass Herr Sanftmut bereits im Raum ist. Seltsam ruhig klingt die Stimme seines Lehrers. Seine Mitschüler sitzen teilnahmslos in ihren Bänken. Später erfährt Thomas von Wolfgang, der immer über alles informiert ist, dass die Russen aufmarschiert sind.

      „Warum sind die Russen aufmarschiert?“, will Thomas wissen.

      „Es gibt einen Aufstand, vielleicht auch wieder einen Krieg“, berichtet Wolfgang.

      Früher als laut Stundenplan vorgesehen, ist die Schule beendet. Auf dem Heimweg werden die Kinder am Bahnhof von Panzern und Panzerfahrzeugen erwartet. Russen stehen neben den Fahrzeugen oder sitzen in ihnen. Freundlich sind sie zu den Kindern, die sich um die Panzer versammelt haben und neugierig diese Ungetüme aus Stahl betrachten. Die Soldaten erlauben es sogar, dass die Kinder auf den Panzerspähwagen herum klettern, schimpfen nicht einmal, als Wagemutige sich hinter das Maschinengewehr setzen. Ganz Mutige klettern sogar durch die offene Luke eines Panzers.

      Thomas bleibt nur kurz stehen. Unheimlich, irgendwie fremd wirkt der Bahnhofsvorplatz. Ein ungutes Gefühl beschleicht den Jungen. Er spürt, wie die Angst an seinem Körper empor kriecht, ihn dazu zwingt, sich in Bewegung zu setzen. Erst bewegt sich der Junge langsam, dann läuft er, wird immer schneller und schneller. Ihm ist zumute, als renne er um sein Leben.

      Zu Hause angekommen, umarmt ihn seine Mutter. „Ein Glück, dass ihr beide da seid.“ Gisela ist schon vor ihm eingetroffen.

      Am Abendbrottisch unterhalten sich die Eltern. Das ist ungewöhnlich, weil sie höchst selten Worte wechseln im Beisein der Kinder.

      Thomas erfährt, dass einige Männer aus ihrem Viertel verhaftet worden sind.

      Thomas ist erstaunt über das Verhalten seiner großen Schwester. Bei jedem ihrer Besuche hatte er Ärger mit ihr. Schon als kleiner Junge blieb ihm oft nur die Flucht übrig, wenn


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