Frühlings Erwachen. Markus OrthsЧитать онлайн книгу.
Wendla
Die Gedanken kommen nachts. Wenn ich nicht schlafen kann. Dann sehe ich plötzlich einen Atemzug vor mir und weiß, das ist der letzte. Mir zerfallen die Zähne im Mund. Es ist alles leer. (schreibt den Aguilera-Satz ins Vokabelheft) Trying hard to fill the emptiness. Aber ich weiß dann: Ich muss jeden Zug, der mir noch bleibt, auf der Zunge zergehen lassen. Das ist alles, was zählt. Ich weiß auch schon wie, Mutter. Da ist noch etwas in mir, das sich...
Frau Bergmann
Das ist nur das Alter.
Wendla
Was?
Frau Bergmann
Das geht vorbei, Wendla, das geht vorbei.
Wendla (nachdenklich)
Was geht sonst noch vorbei, Mutter?
Frau Bergmann
In Zukunft will ich keine nackte Haut mehr sehen, wenn du in die Schule gehst. Ist das klar?
Wendla
Was geht sonst noch vorbei, Mutter?
Frau Bergmann
Genug geredet. Lern jetzt weiter, Wendla, lern weiter! Ab
Wendla (allein)
Was geht sonst noch vorbei?
Zweite Szene
Die Jungen (Ernst, Hänschen, Georg, Melchior, Moritz) beim Basketballspielen. Letzter Korb.
Hänschen
Was soll das?
Melchior
Das ist mir zu langweilig. Ich mach nicht mehr mit.
Hänschen
Okay, Moritz und Georg.
Georg
Hast Du schon Latein gelernt?
Melchior
Spielt ruhig weiter.
Moritz
Wohin gehst du?
Melchior
Spazieren.
Ernst
Es wird ja dunkel.
Melchior
Warum soll ich nicht im Dunkeln spazieren gehen?
Georg
Gerundium! - Plusquamperfekt! - Übersetzung! - ACI!
Moritz
An nichts kann man denken, ohne dass einem die Schule dazwischenkommt!
Hänschen
Ich geh nach Hause.
Ernst
Ich auch.
Georg
Gute Nacht.
Melchior
Gute Nacht.
Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.
Melchior
Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!
Moritz
Und wozu wir in die Schule gehen! – Ich kann’s dir sagen: (zeigt auf seinen Kopf) Damit sie uns vollstopfen können! – Und warum stopfen sie uns voll? – Damit sie uns prüfen können! – Und warum prüfen sie uns? – Damit wir durchfallen.
Melchior
Kennst du die Gauß’sche Normalverteilung?
Moritz
Was?
Melchior
Die Gauß’sche Normalverteilung. Die Notenkurve sieht immer aus wie ein ... wie ein Grabhügel. Wenig gute Noten, wenig schlechte, viel Durchschnitt. Das heißt, ein paar von uns werden immer durchfallen.
Moritz
Wenn mein Vater nicht wär, ich wär schon längst über alle Berge. – – – Mir ist so komisch zu Mute. Siehst du die schwarze Katze?
Melchior
Glaubst du an so was?
Moritz
Ich weiß nicht. – Es hat nichts zu sagen.
Melchior
„Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen.“
Moritz
Wer sagt das?
Melchior
Wedekind, Frühlings Erwachen.
Moritz
In Deutsch bin ich genauso schlecht wie in Latein.
Melchior (dozierend)
mens sana in corpore sano.
Moritz
Was machst du?
Melchior
Ich ziehe mein T-Shirt aus. Es ist klatschnass. Wenn der Schweiß trocknet, wird er kalt. Na los! Oder traust du dich nicht?
Moritz (zieht sein T-Shirt aus)
Glaubst du an so etwas wie Schamgefühl?
Melchior
Schamgefühl? Das war nur ein T-Shirt, mein Freund. Stell dir vor, du musst dich GANZ ausziehen. Hier. Jetzt. Sofort. Würdest du es tun?
Moritz
Nein.
Melchior
Angsthase.
Moritz
Als ob DU dich trauen würdest!
Melchior
Sag so was nicht, Moritz. Ich würde es tun, aber nur, wenn du es auch tust!
Moritz
Angeber!
Melchior
Eigentlich ist es einfach. (Zieht sich Schuhe und Strümpfe aus.)
Moritz (wird unruhiger)
Komm, hör doch auf damit!
Melchior
Was denn? Das sind doch nur Schuhe, und das hier Strümpfe. Es ist nichts dabei. Auch Füße brauchen Luft und Bewegungsfreiheit. Sie wollen atmen, siehst du die Zehen, wie sie sich