Briefe an die Geliebte. Gunter PreußЧитать онлайн книгу.
rannten durch die labyrinthisch verzweigten engen Gänge, bis wir einen Platz erreichten, in dessen Mitte auf einem hölzernen Podest die Musikanten standen und ihre goldglänzenden Instrumente an den Mund pressten und in Richtung Himmel hielten. Aus Brettern und Kisten waren Buden erbaut, aus denen Streuselkuchen, vom Onkel hergestellte Bockwürste und bunte Luftballons mit aufgemalten weißen Tauben verkauft wurden. Mit Stoffbällen konnte nach einer Pyramide aus Blechbüchsen geworfen werden, über einem schwarzen Vorhang hämmerten Kasper und Teufel mit Pritschen aufeinander ein, von einem wuchtigen Tisch waren die Aufschläge lederner Becher und das Rollen der Würfel zu hören. Die alten Weiber, schwarz gekleidet, die Gesichter fast versteckt hinter schwarzwollenen Tüchern, standen vor einem offenen Feuer, dem sie ihre knochigen Hände entgegenstreckten, als frören sie an diesem heißen Hochsommertag. Eine von ihnen brannte Malzbonbons, die dem satten Duft nach warmer Erde und trockenen Gräsern eine Süße gaben, dass man meinte, jedes Ding sei zu essen. Etwa fünf Meter hoch ragte ein Mast, an dessen Ende ein Strohkranz angebracht war, von dem an bunten Bändern befestigte Würstchen und kleine Kuchen herabhingen. Jungen und Mädchen waren aufgefordert, am Mast hochzuklettern. Ein Mann ließ mit einem Seil den Kranz herunter - und griff die Hand des Kletterers nach dem begehrten Ding, zog er ihn ruckartig wieder hoch. Das Seil wurde so betätigt, dass auch der Schwächste, wenn er sein Bestes gegeben hatte, sich ein Stück Kuchen greifen konnte. Der stärkste und mutigste Junge kletterte dann bis zum Mastende und zog unter dem Geschrei der Kinder und dem Beifall der Erwachsenen den geplünderten Kranz herunter. Polternd rollte die Kegelkugel, Bier und Waldmeisterlimonade wurden ausgeschenkt, die älteren Jungen und Mädchen fanden sich zum Tanz, die Alten saßen im Gras und auf mitgebrachten Stühlen, die Gesichter der Frauen und Männer zeigten Beständigkeit und Gelassenheit, sie bewegten sich wohlig-schläfrig wie starke Tiere, und wir Kinder konnten unter ihrem Schutz um so ausgelassener rennen und springen.
Wäre ich während meines Aufenthalts in D. gefragt worden, was mir fehlte, ich hätte nichts nennen können. Ich erfuhr es in dem Augenblick, als ich Dich sah. Ich weiß nicht, ob ich Dir schon vorher im Dorf begegnet bin; aber erst in dieser Stunde in den Gärten - es war Abend geworden - erkannte ich Dich. Mitten im Spiel standest Du vor mir - ich hatte Dich oder Du hattest mich fangen wollen -, unsere Hände hielten einander fest, und wir sahen uns in die Augen, überrascht, erstaunt und auch ein wenig erschrocken. Du warst etwas kleiner als ich, hattest dünne Arme und Beine, die aus einem weißen Kleid, das über der Brust fleckig war von verschütteter Limonade, hervorschauten. Deine Haare, schwer und kornfarben, waren zu zwei Zöpfen geflochten, an deren Ende weiße Schleifen wie große Falter saßen. Deine Augen waren hell und blickten freundlich und misstrauisch zugleich. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten habe, es war in mir etwas von Dir angerührt, von dem ich nichts wusste, aber manchmal doch etwas geahnt hatte. Irgendjemand aus der Kinderschar, die uns umstand, lachte. Da sagtest Du: "Pah!", zogst Deine Hände weg, lachtest, schlugst mich an den Arm, riefst: "Du bist's!", und liefst weg. Bis zum späten Abend, als die Kinder nach Hause geschickt wurden, sind wir uns abwechselnd davongerannt, um uns fangen zu können. Mit den Kindern, Du mit denen, ich mit jenen, gingen wir mitten auf der Straße zum Dorf. Es hieß, dass sich in der Gegend ein Kindermörder herumtreiben würde. Wir Jungen, mit Knüppeln und Taschenmessern bewaffnet, riefen ins Dunkel: "Wer da?", und ließen unsere Taschenlampen aufleuchten. Die Mädchen schrien, wenn ein Junge rief und auf einen Baum oder den Straßengraben zusprang. Die Jungen versuchten tief zu lachen wie ihre Väter oder Onkel, und sie sagten, dass sie es jedem, der einem der Ihren zu nahe käme, schon geben würden. Auch ich prahlte, auch Du schriest begierig auf. Ich war nur für Dich da, in jedem Atemzug, jedem Blick, jeder Bewegung. Es war mir, als hättest Du mir im Spiel ein Geheimnis zugeflüstert, woran ich, wenn ich es nicht für mich behielt, sterben würde. Am Ortseingang warst Du verschwunden. Ich warf den Stock weg und trottete meinem Cousin hinterher. Das war meine erste Nacht, in der ich nicht schlafen konnte. Durch das Dachfenster sah ich einen grünen Mond. Mir war sonderbar heiß hinter der Stirn, und etwas quälte mich. Mir fiel Dein Name nicht ein.
In den folgenden Tagen begegneten wir uns oft, und obwohl wir uns nie verabredeten, war es kein Zufall. Es war wohl eine Art Instinkt, der uns zueinander leitete. Wir sahen uns im Laden des Drogisten, in der Sonnenglut auf einem Feld, in einem von Straßenbauern ausgehobenen, sich durchs Dorf ziehenden Graben, in der Turnhalle und im Dachgestühl der Kirche, wo sich an den Sonntagvormittagen die Jungen darum balgten, wer an den Seilen ziehen und die schweren Glocken läuten durfte. Und oft begegneten wir uns auf dem Friedhof im dichten Laub einer Kastanie. Jedes Mal, wenn ich Dich sah, durchfuhr es mich heiß, ich spürte einen Schmerz, der mir Lust machte, und es war ein Schrei in mir, den ich mit Mühe zurückhielt. Wenn ich mich dann etwas beruhigte, hätte ich singen wollen, die Melodie hatte ich, aber die Worte fehlten mir.
Nie sprachen wir miteinander. Oder ich erinnere mich nicht. Und ich hatte Zeit, unendlich viel Zeit. Manchmal stieg ich nachts aus dem Dachkammerfenster, kletterte am Gerüst für den Wein nach unten, rannte zum Dorfrand, wo in barackenähnlichen Häusern die Pommerschen wohnten, meist Mütter mit ihren Kindern, die es nach dem Krieg hierher verschlagen hatte. Du wohntest in der ersten Baracke. Ich kannte das Fenster, hinter dem Du mit drei Geschwistern schliefst. Ich wollte Dich rufen, Dir sagen, dass wir jetzt aufbrechen könnten, losgehen, Du wüsstest, wohin. Aber mir fiel Dein Name nicht ein. Keiner der Namen, die ich kannte, wollte zu Dir passen. Mein Cousin behauptete, Du heißt Anne, da musste ich lachen. Du hast einen anderen Namen. Ich wusste, eines Tages würde ich ihn von Dir erfahren.
Als die Sommerferien zu Ende waren, ging ich ohne Abschied von Dir. Ich wusste, wir würden uns bald wiedersehen. Als ich in den nächsten Sommerferien nach D. kam, warst Du in einem Ferienlager an der Ostsee. Ich war enttäuscht, aber nicht beunruhigt. Auch im übernächsten und dem darauffolgenden Jahr sahen wir uns nicht. Die Pommerschen waren aus den Baracken ausgezogen, sie hatten Wohnungen bekommen in anderen Dörfern und in Städten. Dein Verschwinden nahm mir nicht den Mut, ich war voller Vertrauen auf uns, und Du warst mir nahe wie am ersten Tag unserer Begegnung.
Ich hatte keine Ahnung, in welche andere Welt mich das Erwachsensein bringen würde. Die Welt war zugleich größer und enger geworden. Die Flügel, die ich vor Kurzem noch zum Fliegen benutzt hatte, waren mir beschnitten worden, ich musste mich auf der Erde zurechtfinden. Jedes Ding bekam seinen Namen und verlor damit seine Sprache. Fast alles, mit dem ich in Berührung kam, hatte einen Wert, der in Geld ausgedrückt wurde. Ich hatte plötzlich Wünsche, die mir unerfüllbar erschienen und die mich quälten, ein Kofferradio, ein Motorrad ... Wer sollte das bezahlen? Ich lernte noch, und das Lehrgeld verlangte meine Mutter als Zuschuss zum Wirtschaftsgeld.
Zum ersten Mal fühlte ich Angst, Dich zu verlieren, bevor ich Dich gewonnen hatte. Jetzt musste ich Deinen Namen wissen. Ich schrieb Dir nach D.; aber alle meine Briefe kamen zurück. Niemand kannte Dich. Mein Cousin, der bei seinem Vater das Fleischerhandwerk erlernte, lachte und meinte, so ein Mädchen, wie ich es beschriebe, hätte es in D. nie gegeben.
Ich weiß nicht, wo und wie Du heute lebst; aber in der Welt musst Du sein. Du könntest mir Sentimentalität vorwerfen, die sich in Melancholie wohlfühlt. Vielleicht idyllisiere ich meine Kindheit, weil ich mein Erwachsensein nur schwer bewältige. Wer die Gegenwart nicht meistert, flieht in die Erinnerung. Wer kein Dach über dem Kopf hat, erbaut sich ein Traumschloss. Millionen Menschen sind mit mir den Weg aus der Kindheit ins Erwachsensein gegangen, und sie scheinen nichts zu vermissen außer Dingen.
Inzwischen ist es mein Beruf geworden, Geschichten zu schreiben. Ich habe eine Familie, besitze ein kleines Haus mit Garten, lebe ohne materielle Not. Für das alles, für Familie, Arbeit und Haus, habe ich gekämpft. In all den Jahren ist mir etwas Wichtiges verloren gegangen, und ich hoffe, Du kannst es mir wiedergeben. Vielleicht stellt sich meine Arbeit, das Schreiben, meinem Naturell entgegen. Früher musste ich mich viel bewegen, jetzt verbringe ich die meiste Zeit des Tages sitzend vor meinem Schreibtisch. Das Alleinsein mit meinen Gedanken fällt mir oft sehr schwer. Wenn ich an einer Geschichte schreibe, bleibt mir zu wenig Zeit, mit lebendigen Menschen in Berührung zu kommen, die Dinge anzufassen und zu bewegen. Das geschieht in meinen Gedanken, und ich habe Gottes Stellung, Welt zu erschaffen, Menschen sich begegnen oder entzweien, sich lieben oder hassen zu lassen. Tatsächlich bin ich nur dem Gesetz der Literatur unterworfen, den drei Schwestern Fantasie, Wirklichkeit und Wahrheit, die den, der sich mit ihnen einlässt, ganz verlangen.
Ich