Der Schrei des Subjekts. Franz Josef HinkelammertЧитать онлайн книгу.
Umwertung aller von Paulus umgewerteten Werte begann. Augustinus ist ein Mann der Herrschenden, der für die Herrschaft Werte zurückgewinnt, die von Paulus, aber ebenso auch von Johannes, als Werte der Unterdrückten herausgestellt wurden. Die Umwertung der Werte bei Nietzsche ist nichts weiter als eine Konsequenz hiervon. Diese Tatsache versteckt Nietzsche. Dabei hängt das neue Sündenbewußtsein und die christliche Legitimation das Tötens ganz eng zusammen und muß immer in Verbindung mit der Christianisierung des Imperiums gesehen werden. Denn ein christianisiertes Imperium braucht ein in sein Gegenteil verwandeltes Christentum. Auf diese Weise entsteht die christliche Orthodoxie. Was dies für Absolutisierung von Gesetz und Autorität bedeeutet hat, kann man heute noch etwa an folgenden Behauptungen von Kardinal Höffner sehen:
“Das Schwertrecht des Staates ist eine eindringliche Anerkennung der Unantastbarkeit höchster menschlicher Güter, besonders des menschlichen Lebens. Die Heiligkeit der Gottesordnung wird durch die Todesstrafe auch in diesem Äon als ‘mächtig‘ erwiesen.”20
“Das Recht des Staates, die Todesstrafe zu verhängen, besagt nicht, daß es dem Staat nicht gestattet sei, auf die Ausübung dieses Rechtes zu verzichten.” (Höffner, a.a.O. S. 231)
“... wobei zu bedenken ist, daß gefährliche Verbrecher nicht selten von ihren Komplizen durch Entführung und Geiselnahme befreit werden und ihr Unwesen fortsetzen.” (Höffner, a.a.O. S. 231)
“Daß es gerechte Kriege geben kann, ist einhellige Lehre der katholisch-theologischen Überlieferung.” (Höffner, a.a.O. S. 231)
Tatasächlich ist die Lehre von den gerechten Kriegen ein Produkt der Christianisierung des Imperiums und mit den Ursprüngen des Christentums völlig unvereinbar. Mit dem achten Kapitel des Johannesevangeliums läßt sie sich schon überhaupt nicht vereinbaren. Dort sind gerechte Kriege eine Erfindung des Vaters der Lüge. Ebensowenig hat die Behauptung Platz, daß die Todesstrafe “eine eindringliche Anerkennung der Unantastbarkeit höchster menschlicher Guter, besonders des menschlichen Lebens” sei. Zu Beginn sagt das Evangelium “Am Anfang war das Wort… in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen”. Es sagt nicht: Am Anfang war das Schwertrecht des Staates.
Es ist sehr sichtbar, daß die Orthodoxie sich gegen ihre Ursprünge gerichtet und diese verurteilt hat. Mit der Verurteilung der Betonung des Lebens durch das Nein zum Töten hindurch, erscheint die Verurteilung der konkreten Körperlichkeit, das universale Sündenbewußtsein und das Töten als eindringliche Anerkennung des Lebens. Die Orthodoxie kehrt zu den “guten Gründen” für das Töten zurück. Es sind genau die gleichen Gründe, die Johannes als die “guten Gründe” für die Verurteilung Jesu zum Tode darstellt und die er als Gründe für den Mord enthüllt.
Es ist offensichtlich, daß diese Orthodoxie eine ganz radikale Uminterpretation ihrer Heiligen Schriften braucht. Dies schließt natürlich eine Uminterpretation des Evangeliums des Johannes ein. Aber es geht ganz spezifisch um die Uminterpretation der Szene des achten Kapitels über den Glauben und die Werke Abrahams. Das Imperium und seine Ideologie, die jetzt durch die christliche Orthodoxie formuliert wird, braucht gute Gründe zum Töten. Es kann aber den Text des Evangeliums nicht ändern, denn dieser ist Teil des bereits festgeschriebenen Kanons der Heiligen Schriften des Neuen Testaments. Daher muß sie seinen Sinn verändern.
Die Realpolitik und die “guten Gründe” zum Töten
Johannes hat eine ganz bestimmte Strategie seiner Argumentation. Er zeigt, daß die Gründe, die Pilatus und die Hohenpriester haben, um Jesus zu töten, die klassischen “guten Gründe” zum Töten sind. Für Johannes ist dies seine zentrale These, die durch das ganze Evangelium hindurch entwickelt wird. Alle “guten Gründe” tauchen als Gründe bei Pilatus und den Hohenpriestern auf und Johannes stimmt zu, daß es gute Gründe sind. Dies führt zu einem Höhepunkt: Sollte es “gute Gründe” zum Töten geben, dann wurde Jesus mit guten Gründe getötet und seine Verurteilung besteht zu Recht. Jesus wurde rechtens verurteilt und hingerichtet, und niemand hat das Recht gebeugt, um ihn töten zu können. Alles was man ihm vorwirft, hat er auch begangen, und das Gesetz verurteilt denjenigen zu Recht zum Tode, der dies alles begeht. Die Verurteilung und Hinrichtung Jesu ist nach Johannes kein Justizmord, sondern geschieht in Erfüllung des Gesetzes. Diese Meinung vertritt ebenfalls Paulus, aber keineswegs die synoptischen Evangelien, die die Tendenz haben, die Verurteilung und Hinrichtung Jesu als Justizmord zu sehen. Johannes aber läßt keinen Zweifel, daß das Gesetz einwandfrei angewendet wird.
Sowohl nach römischem als auch nach mosaischem Gesetz, aber auch gemäß der Weisheit des politischen Realismus, wurde Jesus zu Recht verurteilt und hingerichtet. Für Johannes ist dies völlig entscheidend. Denn gerade diese Tatsache erlaubt ihm, den Skandal des Gesetzes aufzuzeigen. Er ist ein gläubiger Christ. Folglich, wenn Jesus rechtens hingerichtet wurde, ist dasGesetz verurteilt. Das Gesetz, das Jesus verurteilt, wird durch den Tod Jesu selbst verurteilt. Aber Johannes ist auch ein Mann jüdischer Tradition, für den das mosaische Gesetz das von Gott gegebene Gesetz ist. Folglich verurteilt die Verurteilung Jesu auch das mosaische, von Gott gegeben Gesetz. Daraus aber folgt für Johannes, daß die rechtmäßige Verurteilung Jesu jedes Gesetz, welches es auch sei, verurteilt. Gesetz und Gesetzlichkeit selbst stehen unter Anklage, nicht Pilatus oder die Hohenpriester. Niemand wird gerecht durch die Erfüllung des Gesetzes, natürlich auch nicht Pilatus oder die Hohenpriester. Aber es ist der Fluch, der über dem Gesetz liegt und die Sünde, die sich im Rücken des Gesetzes versteckt, die Jesus zum Tode verurteilen. Daher stellt die Verurteilung und Hinrichtung Jesu alles Gesetz in Frage und wird zum zentralen Argument gegenüber der Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. Für Johannes kann es nach dem Tode Jesu kein Gesetz mehr geben, sei es welches Gesetz auch immer, das durch Erfüllung gerecht macht. Dies ist das zentrale Argument, das das ganze Evangelium durchzieht und das die paulinische Gesetzeskritik aufnimmt und weiterführt. Hier wird alle Legitimität durch Legalität in der Wurzel bestritten.
Die entscheidende Strategie der Argumentation des Johannes ist es daher zu zeigen, daß alle nur möglichen guten Gründe zum Töten als Gründe für die Hinrichtung Jesu zutreffen.
Gerade diese Argumentation des Johannes ist für eine imperiale Herrschaftstheologie völlig unannehmbar. Diese kann niemals die “guten Gründe” zum Töten kritisch reflektieren und kann unmöglich akzeptieren, daß Jesus durch diese “guten Gründe” rechtens verurteilt wurde. Es sind ja die guten Gründe zum Töten, die gerade der Herrschaft zugrundeliegen. Die Uminterpretation des Textes muß daher diese guten Gründe in der Verurteilung Jesu zum Verschwinden briengen. Daher klagt sie nicht mehr das Gesetz an, sondern Pilatus und die Hohenpriester. Vor allem die Hohenpriester werden jetzt angeklagt, die angeblich die guten Gründe nur als Vorwand benutzt zu haben, um dadurch ihre wahren Motive zu verstecken. Sie wollen Jesus aus Haß töten und benutzten die guten Gründe zum Töten als Vorwand, der die eigentlichen nicht ausgesprochenen schlechten Gründe versteckt. Bei Johannes findet man nicht die geringste Anspielung dieser Art. Aber die Uminterpretation erfindet jetzt diese “wirklichen” Gründe und zerstört damit das zentrale Argument des Johannes.
Hier ist dann der Grund für die antijudaische und sogar antisemitische Lektüre des Johannesevangeliums. Im Evangelium geht es um das Gesetz und die Gesetzlichkeit. Die Uminterpretation hingegen liest das Evangelium jetzt als einen Angriff auf die Juden. Das Evangelium als Text hat gar nichts davon. Seine Uminterpretation verändert es völlig, ohne auch nur ein Wort zu verändern. Diese Uminterpretation hat durch mehr als ein Jahrtausend hindurch selbst unsere Sprache soweit bedingt, daß wir, wenn wir uns nicht sehr auf die Textbedeutung konzentrieren, solche bedingten Reflexe haben, daß wir wie pavlovsche Hunde in diesem Evangelium, einfach als Text genommen, den Antijudaismus entdecken.
Der Realismus des Johannes und das Nein zum Töten
Das Nein zum Töten schließt ein, daß es niemals gute Gründe zum Töten gibt. Johannes führt dies aus, aber er stellt nie die Frage, wie man im wirklichen Leben handeln kann ohne auch zu töten. Johannes kommt zum Ergebnis, daß es keine guten Gründe zum Töten geben kann. Aber damit endet seine Argumentation. Der Text bleibt völlig offen für die Schlußfolgerungen.