Der Schrei des Subjekts. Franz Josef HinkelammertЧитать онлайн книгу.
ist Nietzsche der erste Denker, der diese historische Situation erfaßt hat und daher in beiden erwähnten historischen Bewegungen als Klassiker auftaucht. Er sieht bereits das Christentum als den gemeinsamen Nenner aller Moderne bis dahin an, und schließt darin den Liberalismus und den Sozialismus ein. Nietzsche ist dabei ein extremer Antisemit, der den bisherigen Antisemitismus als Antisemitismus des Ressentiments sieht, dessen Quelle das Judentum selbst ist. An seine Stelle setzt er einen Antisemitismus als an die Wurzel gehender universaler Anti-Humanismus. Dieser universale Anti-Humanismus ist nicht, wie Nietzsche zumindest manchmal glaubt, eine romantische Rückkehr zu den alten Barbaren oder zu den Vorsokratikern. Er setzt den Universalismus voraus, um ihn universal zu negieren. Er sagtDies heißt so viel wie: ich verachte alle Menschen gleich, unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrem Rang und ihrer Rasse. Der universale Anti-Humanismus ist die veheerendste Form der Zerstörung des Menschen, die bisher in der Geschichte aufgetaucht ist. Kein liberaler Kapitalismus, kein Sozialismus hat die Verbrechen begangen, zu denen dieser universale Anti-Humanismus fähig ist.
Im Zuge dieses Anti-Humanismus bricht heute die Moderne aus dem universalen kategorialen Rahmen aus, den das Christentum gesetzt hatte. Die Moderne wendet sich jetzt gegen das Christentum, aus dem sie entstand. Sie macht den Aufstand gegen ihren Ursprung. Sie ist nicht postmodern, sondern ist die völlig entfesselte Moderne, die die Grenzen, die in ihrem Ursprung liegen, beiseitedrängt. Diese Moderne kündigt das Ende von Vielem an: Ende der Utopie, Ende der Geschichte, Ende der Ideologie, Ende des Humanismus, Ende der Träume. Hier geht es um das Ende des Christentum in allen Formen des universalen kategorialen Rahmens, die daraus hervorgewachsen sind, einschließlich des imperialen, orthodoxen Christentums selbst, das allen Imperien so große Dienste erwiesen hat: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan; der Mohr kann gehen. Die heutigen christlichen Fundamentalismen und Evangelien der Prosperität sind nur der billige Lukas, der in diesem Prozeß. den Ausverkauf betreibt.
Vor diesem Hintergrund will ich das Evangelium des Johannes interpretieren. Ich halte es für einen der Gründungstexte unserer Kultur, in dem tatsächlich Fundamente gelegt sind. Ich will dabei zeigen, daß unsere heute übliche Lektüre dieses Textes seinen Sinnzusammenhang ins Gegenteil verkehrt und damit seine Aussage verschüttet hat.
Das Interesse, das ich hieran habe, entsteht aus der Überzeugung, daß tatsächlich das orthodoxe Christentum schlechthin zu Ende ist und keinerlei Fähigkeit zeigt, der Herausforderung eines universalen Anti-Humanismus zu widerstehen. Aber ich glaube ganz das Gleiche von seinen Säkularisierungen. Weder die christliche Orthodoxie noch die Aufklärung scheinen mir ein unvollendetes Projekt zu sein, sondern Projekte, die zu Ende sind. Der universale Anti-Humanismus ist etwas Neues, dem gegenüber diese klassischen Projekte hilflos dastehen. Sie haben offensichtlich keine Antwort und ziehen sich dann auf irgendeinen Fundamentalismus zurück.
Andererseits aber glaube ich ebenso, daß es außerhalb des universalen Kategorienrahmens, den das Christentum begründet hat, keinerlei neue Antwort gibt und geben kann. Ich suche sie daher in einem Christentum, das sich der Umkehrung seines Sinnzusammenhangs ins Gegenteil verweigert. An Hand der Lektüre des Evangeliums des Johannes hoffe ich zeigen zu können, was das bedeutet. Es handelt sich natürlich um ein Problem, das weit über das Christentum als Religionsgemeinschaft hinausgeht und sich tatsächlich auf den universalen Kategorienrahmen bezieht, den das Christentum begründet hat und der durchaus ohne das Christentum als Religionsgemeinschaft weiter existieren kann. Aber in jedem Falle muß es sich darum handeln, die Umkehrungen des Sinnzusammenhangs in sein Gegenteil zu verweigern und damit den Armen, den Ausgeschlossenen und den Geopferten als Wahrheitskriterium gegen alle Umkehrungen herauszustellen und darauf die Subjektivität des Menschen zu begründen.
Es gibt eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges, die das Problem zumindest erläutern kann. Ihr Titel ist: Pierre Menard, der Autor des Quijote.3 Pierre Menard, eine von Borges erfundene Figur, schreibt den Quijote des Cervantes völlig neu. Er braucht dazu Jahrzehnte, kann sich dann aber so sehr in das Leben des Cervantes und sein Denken hereinversetzen. daß er in der Lage ist, seinen Roman völlig neu zu schreiben.
Borges zeigt dann, wie es ihm gelingt und zitiert eine Stelle von Cervantes und zeigt, wie altertümlich und letztlich verstaubt sie geschrieben ist. Sie spricht uns nicht mehr an.
Darauf zeigt er uns, wie Pierre Menard diesen Text von Cervantes verarbeitet. Er zitiert dann Pierre Menard. Der Text ist völlig gleich, kein Wort und kein Komma ist verändert. Borges zeigt dann, daß in der Version von Menard alles wie neu klingt. Jetzt spricht der Text uns an, er enthält jetzt das, was in der Geschichte des Denkens nach Cervantes gedacht wurde. Ein neuer Text ist entstanden. Aber kein Wort und kein Komma ist verändert.
Borges geht auf das Problem der Umkehrung des Sinnzusammenhangs ins Gegenteil nicht ein. Sieht man einmal davon ab, so beschreibt er, was, wie ich glaube, mit dem Evangelium des Johannes zu tun ist.
Die Sünde die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird
Während die synoptischen Evangelien eher den Charakter von Geschichtschroniken zum Leben Jesu haben, ist das Evangelium des Johannes anders. Es ist durch ein zentrales Argument geordnet, um das herum die ganze Geschichte Jesu entwickelt wird. Das Evangelium des Johannes kann von einem zentralen Szenarium aus verstanden werden, in bezug auf das alles vorherige Einführung und alles danach Schlußfolgerung ist.
Dieses zentrale Szenarium scheint mir durch zwei Kapital des Evangeliums gegeben zu sein. Das erste ist das Kapitel 8, in dem Jesus mit Leuten, die zum Glauben an ihn gekommen sind, über die Befreiung diskutiert, die Jesus gegen die Freiheit durch Gesetz stellt. Jesus tut dies, indem er die Abstammung von Abraham diskutiert Gesetz der biologischen Abstammung oder dadurch, daß man die und die Frage stellt, ob man von Abraham abstammt durch das Werke Abrahams tut. In diesem Kapitel ergibt sich der wohl schärfste Zusammenstoß mit seinen Zuhörern unter allen von Johannes berichteten Szenen, dem Jesus sich nur durch Flucht entziehen kann. Das zweite zentrale Kapitel ist das Kapitel 10, in dem Jesus die Göttlichkeit des Menschen diskutiert ausgehend von dem Ausruf: Ihr alle seid Götter! Auch diese Szene mündet in einen Zusammenstoß mit seinen Zuhörern ein. Innerhalb des Evangeliums erklärt dieses zentrale Szenarium den tragischen Ausgang des Lebens Jesu. Dieser Ausgang wird in den Kapiteln 18,12 bis 19,22 dargestellt. Es handelt sich um den Prozeß gegen Jesus, den der römische Staathalter Pontius Pilatus durchführt. Er beginnt mit der Verhaftung Jesu, dem der Versuch des Hohen Priesters folgt, selbst Jesus den Prozeß zu machen, worauf dann Pilatus den Prozeß an sich zieht bis zur Verurteilung Jesu und seiner Hinrichtung am Kreuz. Dieser Teil ist ganz besonders gezeichnet durch eine Vielzahl von Verhören und Anklagen, durch die hindurch Johannes die Gründe für den Prozeß und die Verurteilung aufzeigt. Diese Gründe werden behandelt in der Beziehung zwischen Pilatus, den Hohenpriestern und Jesus. Den Verhören folgen Zusammenstöße zwischen den Hohenpriestern und Pilatus, bis schließlich Pilatus das Urteil spricht und Jesus kreuzigen läßt.
Das zentrale Szenarium - die Kapitel acht bis zehn – stellen den Konflikt Jesu innerhalb seines Volkes dar und bringen die Gründe vor, die zu seinem Tod führen. Diese Konflikte und Gründe erscheinen aufs Neue in den Szenen, in die das Evangelium ausmündet und die die Passion erzählen. Die übrigen Szenen des Evangeliums beziehen sich auf diesen zentralen Teil. Häufig scheinen sie so etwas wie Fußnoten zu sein, die uns zu diesem zentralen Szenarium und durch es hindurch zur Passionsgeschichte hinführen. So tauchen in der Passionsgeschichte einige Schlüsselworte nur kurz auf, aber in ihrer Kürze sind sie nur verstehbar, weil sie auf vorhergegangene Szenen anspielen. Dies betrifft, z.B. Schlüsselworte wie das Wort Welt oder Sohn Gottes. Ebenso ergeben sich in der Passionsgeschichte Schlüsselsituationen, die durch vorhergegangene Situationen vorbereitet worden sind. Dies gilt etwa für den letzten Einzug in Jerusalem, in dem die Menge Jesus als König feiert (Joh 12, 12-19) als Vorbereitung für das erste Verhör des Pilatus und schließlich die blutige Königsparadie von seiten der Soldaten und Pilatus (Joh 19, 1-5); oder für die Heilung des Blinden (Joh 9), die ganz eng verknüpft ist mit dem Verhör durch den Hohenpriester (Joh 10, 25-39); oder die Szene in Joh 11,45-53 für die Entscheidung der Hohenpriester, den Tod Jesu zu suchen, die zusammen gesehen muß mit der Diskussion über die Söhne Abrahams. So ist auch der Hintergrund der Anklage der Blasphemie (Joh