Der Schrei des Subjekts. Franz Josef HinkelammertЧитать онлайн книгу.
aber in einem Sinne tut, in dem alle Menschen, einschließlich seiner Ankläger, Söhne Gottes sind.
Aber auch die Passionsgeschichte dreht sich um ein Zentrum, ohne das ihre Bedeutung nicht verstehbar ist. Es handelt sich um die Anklagen gegen Jesus. Die erste Anklage ist die des Pilatus, wobei diese Anklage nur indirekt ausgedrückt wird und mit einer offensichtlichen Lüge des Pilatus zusammengeht:
“Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? Und nach diesen Worten ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. Es besteht aber bei euch der Brauch, daß ich euch am Osterfest einen freigebe. Wollt ihr nun, daß ich euch den König der Juden freigebe?”(Joh 18,38-39)
Die andere Anklage sprechen die Hohenpriester aus. Sie ist eine offene und direkte Anklage im Namen des Gesetzes:
“Die Juden antworteten ihm: Wir haben ein Gesetz. Und nach diesem Gesetz muß er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat. Als nun Pilatus dieses Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr.” (Joh 19, 7-8)
Pilatus klagt Jesus an, sich zum König der Juden zu machen. Aber er sagt dies nur auf indirekte Art, nie spricht er die Anklage offen aus. Die Hohenpriester hingegen klagen Jesus offen und direkt an, sich zum Sohn Gottes zu machen. Pilatus klagt im Namen des Imperiums und seiner Macht an, die Hohenpriester hingegen klagen im Namen des Gesetzes. Die Anklage des Pilatus ist heuchlerisch. Nachdem er seinen berühmten Ausspruch getan hat “Was ist Wahrheit?”, geht er zu einer offensichtlichen Lüge über: “Ich finde keine Schuld an ihm.” Daß dies eine Lüge ist, zeigt der folgende Satz, in dem er Jesus zur Befreiung anbietet, aber ihn nicht mit seinem Namen anspricht, sondern als “König der Juden”. Dies bedeutet im Munde des höchsten Richters eine Anklage gegen Jesus, die die Anklage des Hochverrats ist und das Todesurteil beinhaltet. Gerade hierin entlarvt sich die Versicherung, keine Schuld an ihm zu finden, als Lüge. Sie wird jetzt zur Drohung gegenüber den Hohen Priester, die, würden sie die Freigabe des Jesus verlangen, selbst Hochverrat begehen würden. Deshalb akzeptiert Pilatus auch später nicht die Interpretation, der gemäß Jesus vorgab, König der Juden zu sein (Joh 19, 21-22). Pilatus besteht darauf, daß Jesus sich zum König der Juden gemacht hat und als solcher zum Tode verurteilt wurde. Damit klagt er alle an, die Jesus unterstützen oder seine Freigabe fordern, obwohl er schließlich nur Jesus exekutiert. Er bedroht folglich durch diese Form seiner Anklage die Hohenpriester selbst. Die Hohenpriester wissen dies.
Die Hohenpriester hingegen klagen Jesus im Namen des Gesetzes an, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat, was die Anklage der Blasphemie impliziert. Aber sie klagen offen an, ohne ihr Anklage zu verstecken. Aber auch ihre Anklage versteckt etwas, das nicht ausgesprochen, aber von Pilatus verstanden wird. Auch die Hohenpriester drohen, wenn sie es auch aus einer abhängigen und schwachen Situation tuen, in der sie diese ihre Drohung niemals verwirklichen können. Sie klagen Jesus im Namen des Gesetzes an, dem gemäß er zu sterben hat, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat. Was Pilatus weiß und versteht, ist was auch die Hohenpriester wissen, ohne es zu sagen: Auch der Cesar-Kaiser, in dessen Namen Pilatus Statthalter ist und von dem er alle seine Macht ableitet, trägt den Titel Sohn Gottes. Selbst wenn sie es nicht wollten, klagen die Hohenpriester im Namen des Gesetzes nicht nur Jesus an, sondern auch den Kaiser. Im Namen des Gesetzes ist nicht nur Jesus des Todes, sondern der Kaiser auch. Pilatus ist sich darüber offensichtlich klar, was der folgende Text auch ausspricht: “Als nun Pilatus dieses Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr”.
Die Bedeutung dieser beiden Anklagen entscheidet über die Bedeutung der gesamten Passionsgeschichte, damit aber auch über die Bedeutung des gesamten Evangeliums des Johannes. Diese Bedeutung kann man daher nur vom Kontext des gesamten Evangeliums her erschließen.
Diese Anklagen weisen auf den zentralen Charakter der Szenen des Kapitels acht und zehn hin. Dort erscheinen mit aller Kraft diese Konflikte über das, was es bedeutet “in der Welt” zu sein und “Sohn Gottes” zu sein. Diese Konflikte münden in die Passion ein, was eben die Passionsgeschichte zeigt. Weder diese Passisonsgeschichte, noch der Prolog des Evangeliums noch die Abschiedsreden sind verständlich, wenn man sie nicht von diesen zentralen Kapiteln her interpretiert. Daher werden wir einen großen Teil der folgenden Analysen diesen beiden Kapiteln zuwenden.
Der Aufbau des Johaannesevangeliums ist dem klassischen Drama ähnlich, in dem der III. Akt den zentralen Konflikt des Dramas entwickelt und der V. Akt den tragischen Ausgang zeigt, soweit es sich um eine Tragödie handelt. Das gesamte Johannesevangelium ist wie ein großes Drama geschrieben, das tatsächlich das Drama unserer Welt entwickelt. In diesem Sinne, können die Kapitel 8-10 als der III. Akt und die Passionsgeschichte als der V. Akt verstanden werden.
Um in diese Analyse eintreten zu können, möchte ich zuerst einige zentrale Ausdrücke in der Argumentation des Johannes untersuchen. Ich werde mit der Analyse des Ausdrucks “Welt” beginnen.
Die Welt: in der Welt sein ohne von der Welt zu sein
In der Sprache des Johannesevangelium hat Jesus die Welt in einem doppelten Sinne als Bezugspunkt. Jesus ist dort das Licht der Welt. Welt bedeutet dann den Kosmos, von dem der Mensch ein Teil und der den lebenden körperlichen Menschen umgibt und die andern Menschen und sogar die Institutionen mit einschließt. Dennoch, innerhalb dieses Kontextes, bezieht sich Jesus in einem ganz anderen Sinne auf die Welt. Jesus besteht dann darauf, daß er nicht von der Welt ist oder nicht von dieser Welt ist. Dann sagt er, daß sein Reich nicht von dieser Welt ist. Er ruft seine Jünger, die in der Welt sind, auf, nicht von dieser Welt zu sein. Dies führt zu Aussage, daß diese Welt diejenigen liebt, die von dieser Welt sind und diejenigen haßt, die nicht von dieser Welt sind.
Wenn diese Welt vom Menschen verlangt, von dieser Welt zu sein, dann kommen aus der Welt Imperative. die Gehorsam verlangen. Diese Welt verlangt etwas und zwingt auf, was sie verlangt. Aus der Sicht Jesu, führen diese Imperative in die Sünde. Obwohl der Mensch in der Welt ist, soll er nicht von der Welt sein. Dies heißt, daß er den Imperativen, die aus der Welt kommen, widerstehen soll.
In dieser Sicht, sind Pilatus und die Hohenpriester Welt, die von dieser Welt ist. Sie folgen den Imperativen dieser Welt. Im Fall der Hohenpriester ist es klar, daß sie von der Welt sind, indem sie sich auf das Gesetz berufen. Pilatus hingegen folgt dem Gesetz der Macht des Imperiums, was einen analogen Sinn ergibt. In beiden Fällen gilt, daß dieses “von der Welt” sein nicht etwa darin besteht, das Gesetz zu verletzen. Man ist von der Welt innerhalb der Gesetze und der Erfüllung von Gesetzen. Die Anklagen gegen Jesus sind in beiden Fällen Anklagen im Namen des Gesetzes und seiner Erfüllung. Jesus wird vorgeworfen, das Gesetz zu brechen. Jesus wird angeklagt im Namen der Erfüllung von Gesetzen, die seine Ankläger einfordern. Sie verteidigen Gesetze: Pilatus das Gesetz der Macht des Imperiums und die Hohenpriester die Legalität des jüdischen Gesetzes. Und Jesus hat tatsächlich diese Gesetze verletzt.
Johannes besteht gerade auf diesem Gesichtspunkt. Der Jesus, den er darstellt, wendet sich nur ganz am Rande gegen Gesetzesverletzungen von seiten der Menschen, zu denen er spricht. Johannes zeigt dies sehr offen im Falle der Auseinandersetzung über eine Ehebrecherin. Die Erzählung ist enthüllend:
“Die Schriftgelehrten aber und die Pharisäer brachten eine Frau herbei, die beim Ehebruch ertappt worden war, stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt worden. Im Gesetz aber hat uns Moses geboten, eine solche zu steinigen. Was sagst du nun? Das sagten sie, um ihn zu versuchen, damit sie eine Anklage gegen ihn hätten. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie jedoch hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Dann bückte er sich wieder nieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber das gehört hatten, gingen sie weg, einer nach dem andern, angefangen von den Ältesten. Und er blieb allein zurück und die Frau, die in der Mitte stand. Da richtete sich Jesus auf und sprach zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat keiner dich verurteilt? Sie aber sprach: Keiner, Herr! Da sprach Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr.” (Joh 8, 3-11)
Die Frau hatte das Gesetz verletzt, obwohl über den Mann, der da beteiligt gewesen sein muß, nichts gesagt wird.