Nana. Emile ZolaЧитать онлайн книгу.
Mannsleuten. Die beiden Weiber umarmten und küßten sich nochmals. Aber Nana schien mitten in ihrer Freude, als die Unterredung wieder auf den kleinen Louis geriet, von einer plötzlichen Erinnerung unangenehm berührt zu werden. »Ist das abscheulich, daß ich um drei Uhr weggehen muß!« sprach sie. »Und wieder zu einem solchen Frondienst!«
In diesem Augenblick gerade trat Zoé ein, um zu melden, daß der Tisch gedeckt sei. Man begab sich nach dem Eßzimmer, wo bereits eine ältere Dame am Tisch saß, die ihren Hut auf dem Kopf behalten hatte; sie trug ein dunkles Kleid von unbestimmter Farbe, ein Mittelding zwischen verdächtigem Braun und Grün. Nana schien über die Gegenwart der Frau nicht im geringsten erstaunt. Sie fragte sie nur, warum sie nicht ins Schlafzimmer gekommen sei.
»Ich hörte Stimmen«, gab die Alte zur Antwort, »und dachte, Sie hätten vielleicht Gesellschaft.«
Madame Maloir, die ein respektables Äußeres und feine Manieren hatte, diente Nana als »Anstandsdame«, leistete ihr Gesellschaft und begleitete sie auf ihren Ausgängen. Die Anwesenheit der Madame Lerat schien sie anfangs zu beunruhigen. Aber nachdem sie erfahren hatte, daß sie eine Tante von Nana sei, betrachtete sie sie mit einer freundlichen Miene, einem matten Lächeln. Nana machte sich unterdessen, indem sie erklärte, daß ihr der Magen herausfalle, über die Radieschen her, die sie ohne Brot verspeiste. Madame Lerat, die wieder zeremoniell wurde, mochte keine Radieschen, sie verursachten ihr Magenkatarrh. Als nachher Zoé die Koteletts hereinbrachte, schnitt Nana die Fleischstücke für ihre Gäste ab und begnügte sich damit, die Knochen zu benagen. Bisweilen betrachtete sie von der Seite den Hut ihrer alten Anstandsdame.
»Ist das der neue Hut, den ich Ihnen gegeben habe?« fragte sie endlich.
»Ja, ich habe verschiedenes an ihm geändert«, antwortete Madame Maloir mit vollem Munde.
Der Hut hatte eine höchst überspannte Fasson, über der Stirn war er weit ausgebogen und mit einer mächtigen Feder bedeckt. Madame Maloir hatte die Gewohnheit, alle ihre Hüte umzuändern; sie allein wußte, was ihr stand, und im Handumdrehen machte sie aus dem elegantesten Kopfputz eine Schlafhaube. Nana, die ihr eben erst diesen Hut gekauft hatte, um sich ihrer auf ihren gemeinschaftlichen Ausgängen nicht schämen zu müssen, wurde beinahe ärgerlich und rief: »So nehmen Sie ihn doch wenigstens ab!«
»Nein, ich danke«, gab die Alte bedächtig zur Antwort, »er hindert mich durchaus nicht, ich esse sehr gern mit dem Hut auf dem Kopf.«
Das Dessert zog sich in die Länge. Zoé trug das Gedeck nicht fort, um den Kaffee zu servieren; die Damen schoben einfach ihre Teller beiseite. Man sprach von nichts anderem als von dem herrlichen Erfolg des gestrigen Abends. Nana drehte Zigaretten; sie rauchte, schaukelte, verkehrt auf dem Stuhl sitzend, und da Zoé im Zimmer blieb und sich, mit den Händen schlenkernd, an den Büfettschrank lehnte, entschloß man sich, ihre Lebensgeschichte anzuhören. Sie war die Tochter einer Hebamme aus Bercy, die sich schlimme Dinge auf den Hals geladen hatte. Anfangs war sie bei einem Zahnarzt, dann bei einem Versicherungsagenten in Dienst gewesen, aber das habe ihr nicht gepaßt; und dann zählte sie mit einem Anflug von Stolz die Namen all der Damen her, denen sie als Zofe Dienste getan. Zoé sprach von diesen Damen wie jemand, der über ihr Glück zu gebieten vermag. Gewiß hätte eine jede von ihnen ohne sie die schönsten Geschichten an den Hals bekommen. So sei zum Beispiel eines Tages Madame Blanche mit Herrn Octave zusammengewesen, als plözlich der »alte Onkel« sich eingefunden habe; und wie hatte Zoé sich da benommen? Sie hatte getan, als sei sie beim Durchschreiten des Salons ausgeglitten, Onkelchen war zu ihr gestürzt, hatte ihr besorgt ein Glas Wasser aus der Küche geholt, und währenddessen war Herr Octave entschlüpft.
»O ja, sie ist wirklich ein gutes Geschöpf!« meinte Nana, die ihr halb mit Interesse, halb mit unterdrückter Bewunderung zuhörte.
»Ich dagegen muß sagen, daß ich recht viel Malheur gehabt habe«, fing Madame Lerat an.
Und indem sie näher zu Madame Maloir heranrückte, machte sie ihr allerhand vertrauliche Mitteilungen. Sie lutschten zum Zeitvertreib an einem Stück Zucker, das sie in Kognak tauchten. Aber Madame Maloir hörte sich wohl die Geheimnisse der anderen an, ohne indessen jemals über sich selbst etwas auszuplaudern. Man erzählte sich, daß sie ihr Leben von einer mysteriösen Pension in einem Zimmer friste, in das noch niemand Zutritt erhalten hatte.
Plötzlich geriet Nana in Zorn.
»Aber Tante, so spiel' doch nicht mit den Messern … Du weißt, das bringt mich außer Rand und Band!«
Ohne sich dabei etwas zu denken, hatte Madame Lerat eben zwei Messer kreuzweise auf den Tisch gelegt. Übrigens verwahrte sich Nana entschieden dagegen, daß sie abergläubisch sei; sie legte zum Beispiel keinen Wert darauf, ob Salz umgeschüttet wurde, und auch der Freitag galt ihr wie jeder andere Tag der Woche; aber Messer hatten sie noch nie belogen, gegen diese blieb sie voreingenommen. Ganz gewiß würde ihr nun etwas Widerwärtiges zustoßen. Sie gähnte und sagte dann, aufs äußerste gelangweilt:
»Schon zwei Uhr … Ich muß jetzt gehen. Nein, wie zuwider mir das ist!«
Die beiden Alten schauten erst einander, dann Zoé an. Alle drei schüttelten, ohne zu sprechen, mißbilligend den Kopf. Ganz sicher war das nicht immer amüsant … Nana hatte sich abermals in ihren Stuhl zurückgelehnt und steckte sich eine neue Zigarette an, während die beiden anderen diskret, unter philosophischen Betrachtungen, die Lippen zusammenkniffen.
»Während wir auf Sie warten, wollen wir eine Partie ,Mariage' spielen«, meinte Madame Maloir nach einer kurzen Pause des Schweigens. »Sie spielen doch Mariage, Madame?«
Gewiß, Madame Lerat spielte Mariage und noch dazu sehr gut. Es sei völlig unnütz, Zoé zu inkommodieren, die sich bereits entfernt hatte; ein Tischeckchen genüge vollauf, und man schlug die Tischdecke über die noch mit Speiseresten gefüllten Teller zurück. Aber als Madame Maloir jetzt die Karten aus einer Schublade des Büffets hervorlangte, meinte Nana, daß sie vielleicht so freundlich wäre, ihr, bevor sie sich zum Spiel setzte, einen Brief zu schreiben. Nana selbst schrieb nicht gern Briefe, es war ihr einerseits zu langweilig, andererseits war sie in der Orthographie nicht ganz sicher, während ihre alte Freundin seelenvolle Briefe zu schreiben verstand. Sie eilte nach ihrem Schlafzimmer, einen schönen Briefbogen zu holen. Ein Tintenfaß, ein Fläschchen Tinte für drei Sou nebst einer halbverrosteten Feder lagen auf einem Schrank herum. Der Brief war für Daguenet bestimmt. Madame Maloir schrieb mit ihren hübschen, englischen Schriftzügen: »Mein holder kleiner Schatz!« und gab ihm hierauf Nachricht, daß er am nächsten Tage nicht kommen solle, weil »es nicht angeht«, aber »ob fern, ob nah, zu allen Zeiten weile ich in Gedanken bei Dir«.
»Und mit ›tausend Grüße und Küsse‹ werde ich schließen«, murmelte die Alte.
Madame Lerat hatte einen jeden Satz mit einem Nicken ihres Kopfes gebilligt. Ihre Blicke flammten, sie bewegte sich mit ungeheurer Vorliebe in Herzensaffären. Sie wollte auch von ihrem Senf etwas dem Brief anfügen und gluckste, indem sie eine schmachtende Miene aufsetzte:
»Tausend Küsse auf deine schönen Augen!«
»So ist's recht: Tausend Küsse auf deine schönen Augen!« wiederholte Nana, während ein glückseliger Ausdruck über die Gesichter der beiden Alten glitt.
Man klingelte der Zofe, die den Brief einem Dienstmann zur Besorgung übergeben sollte; sie plauderte eben mit einem Theaterdiener, der für Madame eine am Vormittag vergessene Bestellung gebracht hatte. Nana ließ den Mann hereinkommen und bat ihn, auf dem Rückweg den Brief an Daguenet zu besorgen, richtete auch noch mancherlei Fragen an ihn. Oh, Monsieur Bordenave sei überaus zufrieden, das Theater sei schon auf acht volle Tage ausverkauft; Madame könne sich gar nicht denken, wie groß die Zahl der Herren sei, die seit heute morgen sich nach ihrer Wohnung erkundigt hätten. Als der Diener fortgegangen war, meinte Nana, daß sie höchstens eine halbe Stunde ausbleiben werde. Wenn Besucher kämen, sollte Zoé sie bitten, ein Weilchen zu warten. Während sie noch sprach, läutete die elektrische Glocke. Gläubiger Numero eins: der Wagenverleiher pflanzte sich im Vorzimmer auf eine Bank. Der mochte ruhig bis zum Abend seine Daumen drehen, mit dem war's nicht eilig.
»Vorwärts, Nana! Courage!« sprach Nana, die sich träge reckte und gähnte,