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Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George WellsЧитать онлайн книгу.

Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells


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war eine unterdrückte Angst vor der Hölle. Die wenigsten Menschen wagten es, diese Furcht ans Tageslicht zu bringen. Es galt als geschmacklos, von solchen Dingen oder überhaupt von irgendwelchen wesentlichen Fragen des Daseins zu sprechen, einerlei ob gläubig oder zweifelnd. Man durfte höchstens versteckt darauf anspielen oder darüber scherzen. Fortschrittliche Äußerungen wurden zumeist unter der Maske der Scherzhaftigkeit gemacht.

      Geistig war die Welt in den Tagen des Mortimer Smith völlig verirrt; wie ein Hund, der sich verlaufen und jede Spur verloren hat. Wohl waren die damaligen Menschen, ihrer Veranlagung nach, den heutigen durchaus ähnlich, aber sie waren krank an Geist und Körper, sie hatten keinen Halt, keinen festen Boden unter den Füßen. Wir, die wir im Licht wandeln und vergleichsweise einfache und gerade Wege gehen, können die Verworrenheit, die verschlungene Vielfältigkeit des damaligen Denkens und Handelns kaum begreifen. Es gibt heute kein geistiges Leben mehr auf der Welt, das sich mit jenem vergleichen ließe.«

      »Ich glaube, ich habe die Hügelkette der Downs bereits erwähnt, die die Welt meiner Kinderzeit gegen Norden hin abschloß. Lange, bevor ich imstande war, hinaufzuklettern, beschäftigte mich der Gedanke, was wohl jenseits dieser Bergkette liegen möge. Im Sommer ging die Sonne hinter ihrem westlichen Ende unter, goldene Pracht über sie verbreitend. In meinen kindlichen Phantasien tauchte die Vorstellung auf, daß das Jüngste Gericht auf jenen Hügeln gehalten werden würde, und daß hinter ihnen jene himmlische Stadt liegen müsse, in die uns Mr. Snapes eines Tages – in einer Prozession selbstverständlich und mit fliegenden Fahnen – führen werde.

      Ich muß acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Male den Kamm jener Schranke meiner Kindheitswelt bestieg. Ich erinnere mich nicht, mit wem ich hinaufging, weiß auch sonst keine Einzelheiten mehr, doch ist mir die Enttäuschung sehr lebhaft im Gedächtnis, die ich empfand, als ich auf der anderen Seite der Hügel einen langen, sanften Abhang erblickte und nichts sah als Felder und Hecken und einzelne Gruppen weidender Schafe. Ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich erwartet hatte. Das erste Mal betrachtete ich übrigens offenbar nur den Vordergrund des Bildes, das sich bot, und erst nach etlichen derartigen Ausflügen nahm ich die weitläufige Mannigfaltigkeit der Gegend nördlich der Downs in mich auf. Man hatte dort oben eine sehr weite Fernsicht, an einem klaren Tag sah man eine blaue Hügelkette, die dreißig bis vierzig Kilometer entfernt war, und der Blick schweifte über Wälder und Wiesen, über braungefurchtes Ackerland, das zur Sommerzeit goldenes Korn trug, über Dorfkirchen zwischen grünen Bäumen und über glitzernde Seen und Teiche. Im Süden hob sich der Horizont, indem man die Hügel emporstieg, und der Meeresgürtel wurde breiter. Darauf machte mein Vater mich aufmerksam, als ich einmal mit ihm über die Downs ging.

      ›Steig so hoch du willst, Harry,‹ sagte er, ›die See steigt mit dir. Da ist sie, siehst du, in gleicher Höhe mit uns, und trotzdem sind wir jetzt viel höher als Cherry Gardens. Dabei überschwemmt sie Cherry Gardens aber nicht. Warum überschwemmt sie es nicht, wenn sie es doch überschwemmen könnte? Sag mir das einmal, Harry.‹

      Ich wußte keine Erklärung.

      ›Die Vorsehung,‹ sagte mein Vater triumphierend, ›die Vorsehung gebietet dem Meer Halt. So weit und nicht weiter. Und da drüben, guck, wie klar man es sehen kann, das ist Frankreich.‹

      Man sah die französische Küste besonders deutlich an jenem Tage.

      ›Manchmal sieht man Frankreich und manchmal sieht man es nicht‹, sagte mein Vater. ›Daraus kann man auch etwas lernen, mein Junge, wenn man nur will.‹

      Mein Vater hatte die Gewohnheit, jeden Sonntag, im Sommer wie im Winter, nach dem Tee über die Downs nach Chessing Hanger zu marschieren, einem Ort, der neun oder zehn Kilometer entfernt war. Er besuchte dort Onkel John, Onkel John Julip, den Bruder meiner Mutter, der bei Lord Bramble of Chessing Hanger Park Gärtner war. Ich wußte das schon als kleines Kind, aber erst später, als Vater mich mitzunehmen begann, wurde mir klar, daß weder schwägerliche Zuneigung den Hauptanlaß zu diesen Ausflügen bildete, noch das Bedürfnis nach Bewegung im Freien, wie es ein Mann, der die ganze Woche in seinem Laden verbringt, wohl haben mochte. Das Wesentliche an diesen Expeditionen waren die Bündel, mit denen beladen wir nach Cherry Gardens zurückkehrten. Wir aßen jedesmal Abendbrot in dem gemütlichen kleinen Gärtnerhäuschen, und wenn wir dann aufbrachen, bepackten wir uns stets mit einer nicht allzu auffälligen Menge von Blumen, Obst oder Gemüse, Sellerie, Erbsen, Pilzen und dergleichen mehr, und marschierten durch die Dämmerung, im Mondschein, durch völlige Dunkelheit oder im Regen, je nach der Jahreszeit und dem Wetter, nach unserem kleinen Laden zurück. Der Vater schwieg oder pfiff leise vor sich hin, manchmal verkürzte er den Weg durch einen Vortrag über die Wunder der Natur und die Güte der Vorsehung gegen den Menschen.

      Einmal, an einem mondhellen Abend, sprach er vom Mond. ›Schau ihn dir an, Harry,‹ sagte er – ›er ist eine tote Welt, wie ein Totenschädel hängt er da droben, seiner Seele beraubt, die sozusagen sein Fleisch war, und aller seiner Bäume, die man, wenn du mich recht verstehst, als seine Haupt- und Barthaare hätte bezeichnen können – kahl und tot für alle Zeit. Ein ausgetrockneter Knochen. Und alle, die da lebten, sind auch dahin, sind Staub und Asche.‹

      ›Wo sind sie denn hingekommen, Vater?‹ fragte ich.

      ›Sie sind gerichtet worden‹, erklärte er mit Wohlbehagen. ›Könige und Krämer, Harry, alle, alle sind gerichtet, und die Guten sind in die ewige Seligkeit, die Bösen zu ewigem Leiden eingegangen. Zu ewigem Leiden infolge ihrer Gottlosigkeit. Sie sind gewogen und zu leicht befunden worden.‹

      Lange Pause.

      ›Schade‹, sagte er.

      ›Wie, Vater?‹

      ›Schade, daß es vorbei ist. Es wär' hübsch, ihnen zuzuschauen, wenn sie da oben noch herumliefen. Gemütlich wär' es. Aber man darf an der Weisheit der Vorsehung nicht zweifeln. Am Ende würden wir immerfort hinaufgucken und dann stolpern ... Weißt du, Harry, wenn du was in der Welt anschaust und meinst, es ist verkehrt, dann mußt du eine Weile darüber nachdenken und du wirst finden, daß es viel weiser ist, als du zuerst geglaubt hast. Man kann die Vorsehung nicht immer ergründen, aber sie ist immer weise. Du, laß nicht die Birnen an dein Knie bammeln, mein Junge, das tut ihnen nicht gut.‹

      Auch über verschiedene merkwürdige Gepflogenheiten der Tiere, besonders der Zugvögel, sprach mein Vater gern.

      ›Du und ich, Harry, wir haben die Vernunft, die uns leitet. Die Tiere aber, Vögel, Würmer und alle, die haben den Instinkt. Sie spüren einfach, daß sie dieses oder jenes tun müssen, und tun es. Der Instinkt hält den Walfisch im Wasser und läßt den Vogel durch die Luft fliegen. Wir dagegen gehen dorthin, wo die Vernunft uns hinführt. Ein Tier kannst du nicht fragen, warum hast du das oder jenes getan, du mußt es hauen. Einen Menschen aber kannst du fragen, und er muß antworten, weil er eben ein vernünftiges Wesen ist. Und darum, Harry, haben wir Gefängnisse und andere Strafen und sind für unsere Sünden verantwortlich. Für jede Sünde, ob sie groß ist oder klein, müssen wir uns verantworten. Ein Tier jedoch ist nicht verantwortlich. Es ist unschuldig. Man haut es, oder man läßt es eben sein, wie es ist ...‹

      Er dachte eine Weile nach. ›Bei Hunden und manchen alten Katzen ist es anders‹, sagte er dann. ›Ich hab' einige sündige Katzen gekannt, Harry.‹

       Über die Wunder des Instinktes ließ er sich weitläufig aus.

      Er erklärte mir, wie Schwalben, Stare, Störche und andere Zugvögel durch den Instinkt Tausende von Meilen weit getrieben werden, und wie unterwegs viele von ihnen ertrinken oder sich an Leuchttürmen zu Tode stoßen. ›Wenn sie hier blieben, würden sie erfrieren oder verhungern‹, sagte er. Und jeder Vogel wisse instinktmäßig, welche Art von Nest er bauen müsse, niemand zeige es ihm. Das Känguruh werde vom Instinkt angewiesen, seine Jungen in seiner Beuteltasche mit sich herumzutragen, der Mensch hingegen mache sich als vernünftiges Geschöpf einen Kinderwagen. Die Küchlein liefen vom Instinkt geführt herum, sobald sie aus dem Ei gekrochen sind; wohingegen Menschenkinder getragen und versorgt werden müßten, bis ihnen die Vernunft kommt. Und es sei ein Glück


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