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Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George WellsЧитать онлайн книгу.

Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells


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hatte etwa ein Jahr hindurch fast ununterbrochen die subtilen chemischen Reaktionen der Nervenzellen des sympathetischen Systems erforscht. Die ersten Versuche hatten einen Ausblick auf neue, überraschende Möglichkeiten gegeben, die ihn wieder zu noch weiter reichenden und faszinierenden Plänen angeregt hatten. Er arbeitete wohl zu angestrengt; nicht daß Hoffnung und Wissensdrang in ihm dadurch Schaden genommen hätten, aber seine Experimente hatten an Feinheit eingebüßt, und er dachte langsamer und weniger genau. Er brauchte eine Erholungspause. Er hatte ein Kapitel seiner Arbeit abgeschlossen und wünschte sich zu kräftigen, ehe er ein neues anfing. Heliane hoffte seit langem auf eine gemeinsame Ferienreise; auch ihre Arbeit befand sich in einer Phase, die eine Unterbrechung gestattete, und so begaben sich die beiden auf eine Wanderung durch das seenreiche Gebirgsland.

      Ihr Zusammenleben hatte sich sehr glücklich entwickelt. Eine innige Beziehung und Freundschaft verband sie seit langem, sie waren völlig ungezwungen miteinander; trotzdem aber bestand keine allzu große Vertraulichkeit zwischen ihnen, die dem einen das lebhafte Interesse am Tun und Lassen des andern geschmälert hätte. Heliane liebte Sarnac zärtlich und voll Freude, und Sarnac war glücklich und froh erhoben, wenn Heliane bei ihm weilte. Heliane hatte das reichere Herz von den beiden und verstand besser zu lieben. Sie sprachen nun von all und jedem, nur von Sarnacs Arbeit nicht, denn die sollte ruhen und wieder frisch werden. Von ihrer Tätigkeit jedoch sprach Heliane sehr viel. Sie hatte an Schilderungen und Bildern des Glücks und Leids vergangener Zeitalter gearbeitet und war erfüllt von dem Bemühen, Denken und Fühlen entschwundener Geschlechter zu erfassen.

      Sie vergnügten sich einige Tage lang auf den Wassern des großen Sees, segelten, paddelten und landeten ihr Boot im süß duftenden Schilfrohr der Inseln, um zu baden und zu schwimmen. Das Boot brachte sie von einem Gästehaus zum andern, und sie trafen verschiedene interessante und anregende Leute. In einem der Gästehäuser wohnte unter anderen ein achtundneunzigjähriger Greis, der sich in diesem hohen Alter die Zeit mit der Herstellung kleiner Bildwerke vertrieb, kleiner Statuetten voll Anmut und Humor, und es war wunderbar anzusehen, wie der Ton in seinen Händen Gestalt annahm. Überdies verstand er es, die Fische des Sees auf eine sehr wohlschmeckende Art zuzubereiten; er pflegte große Mengen zu kochen, so daß jeder, der im Hause aß, etwas davon bekommen konnte. Auch ein Musiker war da, der Heliane veranlaßte, von längst vergangenen Zeiten zu erzählen, und dann selbst Weisen auf dem Klavier spielte, die die Gefühle jener entschwundenen Menschen zum Ausdruck brachten. Er spielte ein Stück, das, wie er sagte, zweitausend Jahre alt war; es stammte von einem Mann namens Chopin und hieß »Revolutionäre Etüde«. Heliane hätte nie gedacht, daß ein Klavier solch leidenschaftlich grollender Klänge fähig sei. Der Musiker spielte dann noch groteske, böse Kriegsweisen und rohe Märsche aus jenen halbvergessenen Zeiten und schließlich eigene zornige und leidenschaftliche Kompositionen.

      Heliane saß unter einer goldig schimmernden Laterne, lauschte der Musik und beobachtete die flinken Hände des Klavierspielers. Sarnac war tiefer bewegt. Er hatte noch nicht viel Musik gehört, und dieser Spieler öffnete ihm den Blick für wilde, dunkle Abgründe, die der Menschheit seit langem verschlossen waren. Er saß, die Wange in die Hand gelegt, den Ellbogen auf die Gartenmauer gestützt, und blickte über die stahlblaue Wasserfläche des Sees gegen den dunklen Nachthimmel. Das Firmament war sternklar gewesen, doch nun sammelte eine riesige Wolkenbank gleich einer Hand, die sich schließt, die Sterne in ihre dunkle Faust. Der nächste Tag sollte wohl Regen bringen. Die Laternen hingen ruhig, nur dann und wann ließ sie ein sanfter Lufthauch leicht schwingen. Ein großer weißer Nachtfalter kam aus der Dunkelheit hervorgeflattert, flog um die Laternen und verschwand wieder. Bald darauf kehrte er zurück – er oder ein anderer, der ihm glich. Und dann waren plötzlich drei oder vier dieser flüchtigen Phantome da – anscheinend die einzigen Insekten, die in dieser Nacht schwärmten.

      Ein leises Plätschern des Wassers drunten zog Sarnacs Blick auf das Licht eines Bootes, ein rundes, gelbes Licht, einer leuchtenden Orange gleichend, das aus dem dunklen Blau der Nacht bis dicht an die Mauer der Terrasse heranglitt. Man hörte, wie ein Ruder eingezogen und das Geräusch des abtropfenden Wassers schwächer wurde. Die Leute im Boot saßen still und lauschten, bis der Musiker geendigt hatte. Dann kamen sie die Stufen der Terrasse herauf und baten den Leiter des Gästehauses um Zimmer für die Nacht. Sie hatten in einem andern Hause, weiter oben am See, Abendbrot gegessen.

      Vier Menschen waren es: zwei dunkle, schöne Leute südländischer Herkunft, Bruder und Schwester, und zwei blonde Frauen, blauäugig die eine, mit braunen Augen die andere, beide dem Geschwisterpaar offenkundig sehr zugetan. Sie kamen näher, sprachen über das Klavierspiel und erzählten dann von einer Klettertour im Gebirge oberhalb der Seen, die sie unternehmen wollten. Die Geschwister hießen Beryll und Stella; ihre Lebensarbeit, so erzählten sie, sei die Erziehung von Tieren, sie hätten für diese Beschäftigung eine natürliche Begabung. Die beiden blonden Mädchen, Salaha und Iris, waren Elektrikerinnen. Während der letzten Tage hatte Heliane immer wieder sehnsüchtig zu den glitzernden Schneefeldern emporgeblickt; schneebedeckte Berge übten eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Sie beteiligte sich sehr lebhaft an dem Gespräch über das Gebirge, und bald wurde vorgeschlagen, daß sie und Sarnac die neuen Bekannten bei der geplanten Gipfelbesteigung begleiten sollten. Vor einem Ausflug ins Gebirge aber wollten Heliane und Sarnac gewisse Altertümer besichtigen, die man vor kurzem in einem von Osten her gegen den See verlaufenden Tale ausgegraben hatte. Die vier Ankömmlinge waren voll Interesse für Helianes Mitteilungen über jene Ruinen und beschlossen, sich ihr und Sarnac anzuschließen. Nachher wollte man zu sechst in die Berge wandern.

      Jene Ruinen waren gut zweitausend Jahre alt.

      Sie waren die Überreste einer kleinen alten Stadt, die ein Eisenbahnknotenpunkt von einiger Bedeutung gewesen war, und eines Eisenbahntunnels durchs Gebirge. Der Tunnel war eingestürzt, aber man war bei den Ausgrabungen hindurchgedrungen und hatte mehrere zerstörte Züge gefunden, die offenbar dicht von Soldaten und Flüchtlingen besetzt gewesen waren. Die Überreste dieser Menschen, von Ratten und anderm Ungeziefer zernagt, lagen in den Eisenbahnwagen und auf den Schienen. Augenscheinlich war der Tunnel mit Sprengstoffen verbarrikadiert gewesen und hatte die Züge samt den Insassen begraben. Später war die Stadt selbst und alle ihre Einwohner durch ein Giftgas vernichtet worden; welche Art von giftigem Gas man dabei verwendet hatte, sollte von den emsig arbeitenden Forschern erst festgestellt werden. Es hatte eine ungewöhnlich konservierende Wirkung ausgeübt, so daß viele der Leichname mehr Mumien als Skelette waren; und in vielen Häusern fanden sich Bücher, Papiere, Gegenstände aus Papiermaché und Ähnliches recht gut erhalten vor. Sogar wohlfeile Baumwollstoffe waren unversehrt geblieben, nur hatten sie alle Farbe verloren. Nach der Katastrophe war die Gegend offenbar einige Zeit hindurch ganz unbewohnt geblieben, und ein Erdrutsch hatte den tiefer gelegenen Teil des Tales versperrt, das Gewässer abgedämmt und Stadt und Tunnel unter einer Schlammschicht begraben. Nun hatte man die Erd- und Schlammmassen durchbrochen und dem Flußlauf seine ursprüngliche Richtung wiedergegeben, und dabei waren die Spuren eines der charakteristischen Unglücksfälle aus der letzten Kriegsperiode der Menschheitsgeschichte ans Tageslicht gefördert worden.

      Auf die sechs Ferienwanderer machte die Besichtigung des Ortes einen starken, ja fast allzu erschütternden Eindruck. Sarnac besonders, der immer noch an Übermüdung litt, fühlte sich tief ergriffen. Man hatte das in der Stadt gesammelte Material geordnet und in einem aus Glas und Stahl erbauten Museum untergebracht. Viele der Leichname waren vollständig erhalten; eine kranke alte Frau, durch das Gas mumifiziert, war in das Bett zurückgelegt worden, aus dem die Wasserfluten sie herausgeschwemmt hatten; das eingeschrumpfte Körperchen eines Säuglings lag in einer Wiege. Die Bettlaken und Decken waren ausgebleicht und verfärbt, doch konnte man sich ganz gut vorstellen, wie sie einst ausgesehen haben mochten. Die Leute waren offenbar überrascht worden, während sie das Mittagsmahl zubereiteten; in vielen Häusern war eben der Tisch gedeckt gewesen. Nun hatte man die alten maschinengewebten Tischtücher und die plattierten Eßbestecke, die zwei Jahrtausende unter Schlamm, Schilf und Fischen verborgen gelegen hatten, wieder hervorgeholt und auf den Tischen geordnet; es waren große Mengen solchen traurigen, verfärbten Geräts aus dem entschwundenen Leben der Vergangenheit zu sehen.

      Die Ferienwanderer gingen nicht sehr weit in den Tunnel hinein. Der


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