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Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George WellsЧитать онлайн книгу.

Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells


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später und heilte nicht schnell genug. Offenbar war irgend ein Gift in sie gedrungen, und sie ließ ihn nachts nicht schlafen.

      Den ganzen Tag sprachen die sechs von den Schrecken der letzten Kriege, die die Welt gesehen hatte, und von dem Elend des Daseins in jenem Zeitalter. Iris und Stella meinten, das Leben damals müsse kaum zu ertragen gewesen sein, müsse von der Wiege bis zum Grabe aus nichts als Haß, Schrecken, Mangel und Unbehagen bestanden haben. Beryll hingegen vertrat die Ansicht, daß die Menschen damals nicht unglücklicher und nicht glücklicher gewesen seien als er selbst. Es gebe, behauptete er, in jedem Zeitalter einen Normalzustand; jede Erhebung des Gefühls oder der Hoffnung darüber hinaus bedeute Glück, jedes Hinabsinken unter das Durchschnittsmaß Unglück; es komme dabei nicht darauf an, wie der Normalzustand beschaffen sei. »Jene Menschen erfuhren in der einen wie in der andern Hinsicht starke Erschütterungen«, sagte er. Wohl habe es in ihrem Leben mehr Dunkelheit und mehr Schmerz gegeben, trotzdem seien sie alles in allem nicht unglücklicher gewesen. Heliane neigte zur gleichen Ansicht.

       Salaha jedoch erhob Einwände gegen Berylls psychologische Betrachtung. Sie sagte, ein kranker Körper oder ein Leben unter verhaßtem Zwang könne ein andauerndes Niedergedrücktsein des Gemüts verursachen. Es könne vorwiegend unglückliche Geschöpfe geben, so wie es vorwiegend glückliche gebe.

      »Gewiß,« warf Sarnac dazwischen, »sobald sie nämlich einen Idealzustand zu erstreben beginnen.«

      »Warum nur führten sie solche Kriege?« rief Iris. »Warum taten sie einander so Schreckliches an? Sie waren doch Menschen wie wir.«

      »Nicht besser«, sagte Beryll, »und nicht schlechter. So weit es sich um die natürliche Veranlagung handelt. Keine hundert Generationen trennen uns von ihnen.«

      »Sie hatten einen ebenso großen und ebenso wohlgeformten Schädel wie wir.«

      »Die Ärmsten in dem Tunnel!« sagte Sarnac. »Wie schrecklich, auf solche Weise in einem Tunnel eingeschlossen zugrunde zu gehen! Dabei scheint mir, es müsse sich damals jeder dauernd so gefühlt haben, als sei er in einem Tunnel eingeschlossen.«

      Inzwischen war ein Gewitter heraufgezogen, das ihr Gespräch unterbrach. Sie wollten über einen nicht sehr hohen Gebirgspaß zu einem Gästehaus am oberen Ende des Sees und gerieten unweit der Paßhöhe in das Unwetter. Es gab einige heftige Donnerschläge, und keine hundert Schritt von ihnen entfernt wurde eine Tanne vom Blitz getroffen. Sie jubelten bei dem herrlichen Anblick. Der tosende Aufruhr der Elemente erfüllte sie mit Freude. Der Regen peitschte ihre kräftigen, nackten Körper, ein Windstoß um den andern machte sie taumeln, lachend und atemlos waren sie immer wieder genötigt, stehen zu bleiben. Es war nicht leicht, den Weg zu finden; eine Zeitlang hatten sie die an Bäumen und Felsen angebrachte Markierung verloren. Das Unwetter ging schließlich in einen gleichmäßigen Regenguß über, und sie platschten stolpernd den von Gischt bedeckten Felsenpfad hinunter, ihrem Ziel entgegen. Erhitzt und naß, als ob sie eben aus dem Bade gestiegen wären, langten sie an; nur Sarnac, der mit Heliane hinter den andern zurückgeblieben war, fühlte sich müde und fror. Der Leiter des Gästehauses schloß die Fensterladen, machte ihnen mit Holz und Tannenzapfen ein Feuer an und bereitete ein warmes Nachtessen.

      Bald kam das Gespräch wieder auf die ausgegrabene Stadt und die eingeschrumpften Leichname, die nun im Scheine des elektrischen Lichtes innerhalb der Glaswände des stillen Museums lagen, gleichgültig fortan gegen den Sonnenschein wie gegen die Stürme des Lebens.

      »Ob sie jemals lachten wie wir?« fragte Salaha. »Einfach aus Freude zu leben?«

      Sarnac sprach wenig. Er saß dicht am Feuer, warf von Zeit zu Zeit Tannenzapfen in die Glut und betrachtete sie, wie sie aufflammten und knisternd verbrannten. Nach einer Weile erhob er sich, sagte, er sei müde, und ging zu Bett.

      Es regnete die ganze Nacht und auch den nächsten Morgen bis gegen Mittag, dann heiterte sich das Wetter auf. Am Nachmittag wanderte die kleine Gesellschaft weiter, das Tal aufwärts gegen die Berge, die bestiegen werden sollten. Man ging gemächlich und gönnte sich einen und einen halben Tag für eine Strecke, die eigentlich leicht an einem Tag zurückgelegt werden konnte. Der Regen hatte alles erfrischt, und eine Fülle von Blumen war aufgeblüht.

      Der folgende Tag war heiter und sonnig.

      Am frühen Nachmittag gelangten sie zu einer von Asphodillen besäten Wiese auf einem Plateau und lagerten sich dort, um den mitgebrachten Proviant zu verzehren. Sie waren nur zwei Stunden von dem Schutzhaus entfernt, in dem sie die Nacht verbringen wollten, es bestand darum kein Grund, gleich weiter zu wandern. Sarnac war träge und gestand, daß er Lust verspüre, zu schlafen. Er hatte in der Nacht etwas Fieber gehabt, und Träume von verschütteten und durch Giftgas getöteten Menschen hatten ihn gequält. Die anderen waren belustigt über den Einfall, am hellen Tag schlafen zu wollen, Heliane aber sagte, sie werde seinen Schlummer behüten. Sie suchte ihm einen Platz im Gras, Sarnac legte sich neben ihr nieder und schlief, an sie gelehnt, so plötzlich und vertrauensvoll ein wie ein Kind. Und wie die Wärterin eines Kindes saß sie an seiner Seite und bedeutete den anderen, keinen Lärm zu machen.

      »Nach diesem Schlaf wird er gesundet sein«, sagte Beryll lächelnd und stahl sich mit Iris davon, während Salaha und Stella in die andere Richtung gingen, um einen nahegelegenen Felsvorsprung zu erklettern, von wo aus sie einen umfassenden und vielleicht sehr schönen Ausblick auf die Seen unten zu gewinnen hofften.

      Einige Zeit lag Sarnac ganz still, dann begann er sich im Schlafe unruhig hin und her zu bewegen. Heliane neigte ihr warmes Antlitz aufmerksam zu dem seinen hinab. Er wurde wieder ruhig, bewegte sich aber bald aufs neue und murmelte etwas, doch waren keine Worte zu unterscheiden. Dann warf er sich heftig herum, schlug mit den Armen um sich und sagte: »Ich kann es nicht ertragen. Nein, ich kann nicht! Es ist aber nicht mehr zu ändern. Du bist beschmutzt und entehrt für alle Zeit.« Heliane faßte ihn sanft und legte ihn wieder bequem zurecht, wie eine Mutter ihr Kind. »Liebste«, flüsterte er und griff im Schlafe nach ihrer Hand ...

      Als die anderen zurückkamen, war er eben erwacht.

      Er saß aufrecht mit verschlafenem Gesicht, und Heliane kniete neben ihm, die Hand auf seiner Schulter. »Wach auf!« sagte sie.

      Er sah sie an, als ob er sie nicht kennte, dann blickte er verdutzt auf Beryll. »Es gibt also noch ein Leben!« sagte er schließlich.

      »Sarnac!« rief Heliane und schüttelte ihn. »Kennst du mich denn nicht?«

      Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ja«, sagte er zögernd. »Dein Name ist Heliane. Ich weiß schon. Heliane ... nicht Hetty – – nein. Obgleich du Hetty sehr ähnlich bist. Sonderbar! Und ich – ich heiße Sarnac.

      Ja, gewiß! Ich bin Sarnac.« Er lächelte Salaha zu. »Ich meinte aber, ich sei Harry Mortimer Smith. Wahrhaftig! Vor einem Augenblick noch war ich Harry Mortimer Smith ... Harry Mortimer Smith.«

      Er blickte um sich. »Berge,« sagte er, »Sonnenschein und weiße Narzissen. Jawohl – wir gingen heute vormittag hier herauf. Bei einem Wasserfall spritzte Clelia mich an ... Ich erinnere mich ganz genau ... Trotzdem lag ich eben in einem Bett – erschossen. Ich lag in einem Bett ... Ein Traum? ... Dann habe ich ein ganzes Menschenleben geträumt, ein Leben, das sich vor zweitausend Jahren abspielte!«

      »Was meinst du nur?« fragte Heliane.

      »Ein ganzes Leben – Kindheit, Jugend, Mannesalter. Und Tod. Er tötete mich. Der arme Teufel! – Er tötete mich!«

      »Ein Traum?«

      »Ja, ein Traum – aber ein äußerst lebendiger Traum. Der wirklichste der Träume, den man sich denken kann. Wenn es ein Traum war ... Nun kann ich alle deine Fragen beantworten, Heliane. Ich habe ein ganzes Leben durchlebt in jener alten Welt. Ich weiß ...

      Es ist mir immer noch so, als wäre jenes Leben die Wirklichkeit und dieses hier nur ein Traum ... Ich lag im Bett. Vor fünf Minuten noch befand ich mich in einem Bett. Ich lag im Sterben ... Der Arzt sagte: ›Es geht zu Ende.‹ Und ich hörte noch, wie meine Frau durchs


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