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Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur. Herbert George WellsЧитать онлайн книгу.

Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur - Herbert George Wells


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der Dämmerung außer Haus gewesen, ein arges Vergehen, vom Standpunkt einer Mutter aus betrachtet, wie ich euch später noch erklären werde.

      Schwer atmend und mit strenger Miene knöpfte mir Mutter die Schuhe zu, und dann zogen wir endlich los. Prue hängte sich an den Vater, der vorausging, Fanny schritt, verächtlich dreinblickend, etwas abseits dahin, und ich bemühte mich unterwegs, meine in weißen Baumwollhandschuhen steckende kleine Hand dem festen Griff meiner Mutter zu entwinden.

      Wir besaßen einen eigenen Platz in der Kirche, eine Bank mit Binsenmatten darauf; an der Rückseite der Bank vor uns war unten eine breit vorspringende Leiste angebracht, auf der wir zum Gebete niederknieten. Wir schoben uns auf unsere Plätze, knieten einen Augenblick nieder, erhoben uns dann und waren nunmehr bereit für den sogenannten Sonntagsmorgen-Gottesdienst.«

      »Dieser Gottesdienst war nun auch etwas sehr Sonderbares. Wir lesen in unseren Geschichtsbüchern über die alten Kirchen und den damaligen Gottesdienst und vereinfachen und idealisieren das Bild, das wir gewinnen. Wir nehmen alles für bare Münze. Wir sind der Meinung, daß die Menschen die absonderlichen Glaubensbekenntnisse der alten Religionen verstanden und wirklich glaubten; daß sie voll einfältiger Inbrunst zu ihrem Gott beteten; daß ihr Herz erfüllt war von geheimnisvollen Tröstungen und Illusionen – Vorstellungen, die mancher von uns heute wieder zu gewinnen strebt. Doch das Leben ist stets komplizierter als ein Bericht darüber, als jedwede Schilderung. Der menschliche Geist dachte damals trüber und verworrener, er vergaß seine primären Betrachtungen über sekundären, nahm häufig wiederholte, gewohnheitsmäßige Handlungen für beabsichtigte und verlor seine ursprünglichen Regungen aus dem Gesicht. Das Leben ist im Laufe der Zeit klarer und deshalb einfacher geworden. Wir damaligen Menschen hatten ein komplizierteres Leben, weil wir selbst verworrener waren. Und so saßen wir am Sonntagmorgen in den Kirchenbänken, fügsam, aber gleichgültig, ohne wirklich an das zu denken, was wir taten, die Vorgänge um uns mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande erfassend – und unsere Gedanken kamen und gingen, wie Wasser durch ein undichtes Gefäß sickert. Wir beobachteten die anderen verstohlen, aber genau und waren uns stets bewußt, daß wir ebenso beobachtet wurden. Wir standen auf, beugten die Knie und setzten uns, wie es die rituellen Gepflogenheiten erforderten. Ich erinnere mich noch lebhaft an das lange andauernde und vielfältige Geräusch, das entstand, so oft die versammelte Gemeinde sich hinsetzte oder erhob.

      Der Vormittagsgottesdienst bestand aus Gebeten der Priester – Vikar und Kurat nannten wir sie – und aus Wechselreden zwischen ihnen und der Gemeinde, ferner wurden Hymnen in Versen gesungen und einzelne Stellen aus der hebräisch-christlichen Bibel gelesen; und schließlich folgte eine Predigt. Von dieser Predigt abgesehen, hatte der Gottesdienst eine genau festgelegte Form, die vorschriftsmäßigen Gebete, Wechselreden und so weiter standen in den Gebetbüchern, doch war die Abfolge nicht immer dieselbe, wir mußten oft Seiten überschlagen oder zurückblättern, und für mich kleinen Jungen, der ich noch dazu zwischen einer übergeschäftigen Mutter und Prue saß, war das Auffinden der richtigen Stellen eine schwere geistige Anstrengung.

      Der Gottesdienst hob traurig an und behielt in der Regel bis zum Ende sein düsteres Wesen. Wir waren allesamt elende Sünder, weit entfernt vom Heile, und wir äußerten eine gelinde Verwunderung darüber, daß unser Gott uns gegenüber nicht zu gewaltsamen Maßregeln griff. In einem umfangreichen Teil des Gottesdienstes, die Litanei genannt, zählte der Priester mit offensichtlichem Wohlbehagen alles erdenkliche Unheil auf, das die Menschheit betreffen kann, Krieg, Pestseuchen, Hungersnot und so weiter, und die Gemeinde rief in gleichmäßigen Abständen ›O Herr, erlöse uns‹ dazwischen. Eigentlich hätte man meinen sollen, daß derlei nicht so sehr das höchste Wesen als vielmehr die Verwalter unserer internationalen Beziehungen sowie unseres Gesundheits- und Ernährungswesens angehe. Dann sprach der den Gottesdienst leitende Priester eine Reihe von Gebeten – für die Königin, die Lenker des Staates, die Ketzer, alle Unglücklichen, Reisende – und schließlich eines, das eine gute Ernte erflehte. Ich schloß daraus, daß die göttliche Vorsehung all die genannten Personen sowie auch die Ernte gefährlich vernachlässige. Die Gemeinde verstärkte die Anstrengungen des Priesters, indem sie immer wieder im Chor dazwischen rief: ›Wir flehen zu dir, o Gott! Erhöre uns.‹ Die Hymnen waren von verschiedener Art, die meisten jedoch brachten ein überschwengliches Lob unseres Schöpfers zum Ausdruck, und eine wie die andere wimmelte von unrichtigen Reimen und falschen Silbenmaßen. Wir dankten dem Himmel für seine Wohltaten, und zwar ohne jedweden ironischen Hintergedanken, doch hätte uns eine allmächtige Gottheit den Dank für den recht unsichern Kohlen- und Gemüsehandel in Cherry Gardens, sowie für all die Arbeit und Sorge meiner Mutter und die Mühe meines Vaters wohl erlassen können.

      Im Grunde schob dieser Gottesdienst bei aller äußerlichen Lobhudelei dem angebeteten göttlichen Wesen die Schuld an jedwedem Unglück auf Erden zu und machte es verantwortlich für den Zustand der Verworrenheit und des Elends, in dem sich die Menschheit befand. Sonntag für Sonntag wurde da dem Geiste junger Menschen, soweit der Gottesdienst ihre instinktive, selbstschützerische Gleichgültigkeit zu durchbrechen vermochte, durch Gesang, Gebet und Gebärde eingeprägt, daß die Menschheit nichtswürdig und hoffnungslos sei, das hilflose Spielzeug eines launischen, reizbaren, eitlen und unwiderstehlichen höheren Wesens. Die Macht dieser Suggestion verdunkelte ihnen die Sonne des Lebens, verbarg das Wunderbare vor ihrem Blick und nahm ihnen allen Mut. So fremd jedoch blieb diese Lehre der Erniedrigung dem Menschenherzen, daß der größte Teil der Gemeinde, in den langen Reihen der Kirchenbänke sitzend, stehend oder kniend, ganz mechanisch nur Sätze hersagte oder Lieder sang und dabei an tausend näherliegende Dinge dachte, die Nachbarn beobachtete, Geschäfte und Vergnügungen plante oder sich in Träumereien erging.

      Manchmal, aber nicht immer, wurden in den Sonntagsmorgen-Gottesdienst Teile einer anderen Kirchenzeremonie, der sogenannten Kommunion, eingeschoben. Die Kommunion war ein zusammengeschrumpftes Überbleibsel der katholischen Messe, die wir aus unsern Geschichtsbüchern kennen. Wie ihr wißt, quälte sich die Christenheit neunzehn Jahrhunderte, nachdem das Christentum angehoben hatte, immer noch vergebens, den eingewurzelten Gedanken eines mystischen Blutopfers loszuwerden, jene Tradition der Opferung eines Gottmenschen zu vergessen, die so alt war wie der Ackerbau und die Seßhaftigkeit des Menschen. Die englische Staatskirche war so sehr ein Gebilde des Kompromisses und der Tradition, daß in den beiden Gotteshäusern, die sie in Cherry Gardens besaß, das Problem jenes Opfers in ganz verschiedener Weise betrachtet wurde. Das eine, die neue und prächtige St. Jude-Kirche, übertrieb die Wichtigkeit der Kommunion, nannte sie Messe, nannte den Tisch, an dem sie zelebriert wurde, Altar, nannte den Geistlichen, Mr. Snapes, Priester und betonte im allgemeinen die altheidnische Auslegung der ganzen Sache. Das andere hingegen, die alte kleine St. Osyth-Kirche, nannte ihren Priester einen Prediger, ihren Altar den Tisch des Herrn und die Kommunion das heilige Abendmahl, leugnete jede mystische Bedeutung dieser Zeremonie und ließ sie nur als eine Erinnerung an das Leben und den Tod Christi gelten. Diese Gegensätze zwischen dem uralten Tempelkult des Menschengeschlechtes und der neuen geistigen Freiheit, die seit drei oder vier Jahrhunderten emporzudämmern begann, gingen zur Zeit, da ich als kleiner Junge in der Kirche saß und bemüht war, mich anständig zu betragen, weit über meinen jungen Verstand. Für mich bedeutete die Zeremonie der Kommunion nichts weiter als eine arge Verlängerung des normalerweise schon sehr beschwerlichen Gottesdienstes. Ich war damals von einem rührenden Glauben an die Kraft des Gebetes erfüllt, und ohne zu bedenken, wie wenig schmeichelhaft der Inhalt meiner Bitte war, pflegte ich während der Eingangsgebete des Gottesdienstes zu flüstern: ›Lieber Gott, laß heute keine Kommunion sein! Lieber Gott, laß heute keine Kommunion sein!‹

      Zum Schluß kam die Predigt. Sie war eine Originalkomposition des Geistlichen, Mr. Snapes, und das einzige im ganzen Gottesdienst, das nicht vorschriftsmäßig festgesetzt und nicht schon tausende Male wiederholt worden war.

      Mr. Snapes war ein rosiger junger Mann, mit rötlichblondem Haar; sein glatt rasiertes Gesicht zeigte rundliche Formen wie ein Büschel Champignons und trug einen Ausdruck glückseliger Selbstzufriedenheit; seine Stimme klang fettig. Er hatte eine Art, den weiten Ärmel seines weißen Priesterrockes zurückzuschlagen, indem er eine gezierte Handbewegung nach oben machte, die in mir eine jener unerklärlichen Abneigungen erweckte, wie Kinder sie zuweilen


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