Jochen Klepper: Der Vater Roman eines Königs. Jochen KlepperЧитать онлайн книгу.
Sein Friedrich Wilhelm! Man konnte ihn schon recht fest anpacken. Er ließ sich schon streicheln und ein ganz klein wenig drücken. Er brummte dem Kleinen ins Ohr, ob er es sich merken würde – Friedrich Wilhelm! Friedrich Wilhelm! Und was für ein pünktlicher kleiner Soldat – genau am ersten Tage im neuen Lebensjahr des Vaters angetreten! Solche Dinge schwatzte der Kronprinz überglücklich und töricht.
Die Kronprinzessin, vierundzwanzigjährig, lächelte milde und weise. Sie kam sich so viel reifer vor als der dreiundzwanzigjährige Vater. Übersah er denn ganz die großen Aspekte dieser Stunde? Die regierende Königin war zum Eindringling im jungen preußischen Königshause gestempelt! Auch die Kronprinzessin, auf ihre Weise, war sehr glücklich.
Aber das Größte an dieser Stunde des frühen Augustmorgens ging ihr verloren. Sie nahm es nicht wahr, dass Friedrich Wilhelm sie von diesem Tage an unauslöschlich zu lieben begann, sie und den Sohn.
Im Vorzimmer nahm er die kleine Wilhelmine auf den Arm und küsste sie, bis sie zu weinen und von ihm wegzustreben anfing.
* * *
Nichts drang in das Glück seines Herzens, auch das nicht, dass heute aus Ansbach und Hannover Kavaliere eingetroffen waren, zur ansbachisch-hannöverischen Hochzeit einzuladen.
Gott kann wiedergeben, was er nahm. Der Kronprinz dachte es auch hier von den Frauen wie zuvor von seinen Söhnen.
„Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn sei gelobt“, prägte sein Herz in heißen, raschen Schlägen den Taufspruch für den zweiten Sohn, und dem jungen Vater kam nicht der Gedanke, dass dieses Wort an den Gräbern und nicht am Taufbecken gesprochen wird. Aber endlich musste eine Abordnung des Konsistoriums die Hoheit auf den peinlichen Irrtum aufmerksam machen. Da schlug der Kronprinz einen anderen Text, aus dem Evangelium des Johannes, vor: „Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.“
Nun war das Entsetzen noch größer. Die Locken der Amtsperücken wehten, die schwarzen Roben der geistlichen Räte rauschten.
Das Wort stand bei des toten Lazarus Erweckung. Wer wagte es dem jungen Herrn zu sagen?!
Aber er war ganz still. Es war ihm selber eingefallen. Er kannte die Schrift.
* * *
Preußen schritt von Fest zu Fest. Die neue Taufe sollte ein Höhepunkt werden. Friedrich Wilhelm aber wollte über dem Taufbecken des Sohnes die Hand des Vaters gereicht bekommen. Er aß nicht mehr; er trank nicht mehr; er magerte zusehends ab. Die Feiern wurden ihm zur Qual und zum Gericht. Im Festgeläute hörte er das Wimmern der Armesünderglocke von Küstrin. Statt des goldenen Kirchenschmuckes sah er nur den Galgen im Rauschgold, und der Purpur um die Schultern des Täuflings wurde ihm zum Flittermantel des Goldmachers, in dem man ihn zur Richtstätte führte.
Wieder trug ein Sohn den Reichsapfel, das Ordensband, die Krone und das Zepter. Das kleine Antlitz war wächsern; das schwankende Köpfchen wurde gestützt. Aber Predigt und Einsegnung, Namensgebung und Gesang, heroische und sakrale Musik nahmen gerade erst den Anfang.
Friedrich Wilhelm suchte sich aus dem Kreise der Paten und Gäste zu lösen; Schritt für Schritt, dass keiner es bemerkte, wollte er seinem Kinde näherkommen bis an die Stufen des Taufsteins.
Als sie den Knaben über das silberne Becken mit dem geweihten Jordanwasser hielten und die Krone emporhoben, das Haupt des hohen Kindes mit den Tropfen der heiligen Flut zu netzen, sah er den blutenden Riss. Dort, wo der Rand der Krone sich in den bleichen Schläfen breit und dunkel abgezeichnet hatte, war das Wundmal eingegraben. Sie senkten die Krone auf das ungestillte Blut.
Noch schrie der Vater nicht, noch gebot er nicht Einhalt. Aber die um ihn wussten es sofort, dass etwas Furchtbares geschehen würde. Gewaltig, aufgereckt und totenblass stieß der Kronprinz sie zur Seite, mit beiden Armen griff er nach den Pfeilern zur Rechten und Linken, wie Simson einst die Säulen packte.
Aber kein Dachgewölbe, keine Wände stürzten, und die Pfeiler sanken nicht. Die Hände des jungen Vaters waren an den Stein gepresst, sein Mund war stumm geöffnet.
Dann klirrte die Krone auf die Stufen des Altars. Reichsapfel und Zepter rollten auf den Samt der Gänge, in Blumen und seidene Schleppen. Alle, die um den Taufstein standen, umringten entsetzt den Prinzen; die in den Kirchgestühlen neigten sich vor und steckten die Köpfe zueinander. Der Kronprinz schlug den Purpurmantel um sein Kind. Keiner mehr sollte es anrühren, keiner mehr es sehen. Er gab es nicht mehr her. Und aller Sohnesgehorsam war in ihm nun abgetan. Er blickte den Vater und König nicht an, er fragte nach niemand, der ihn halten oder ihm das Kind vom Arme nehmen wollte. Er durcheilte den Dom zum Portal. Am Tor war er allein, denn alle wandten sich voll Sorge nach dem König um. Dem bedeckte kalter Schweiß die Stirn und die Wangen. Zitternd lehnte er in seinem hohen Stuhl. Der Dombischof sprach milde auf ihn ein. Als er das Taufbecken umgestoßen und das Jordanwasser über die Stufen des Altars rinnen sah, erstarben ihm die Worte auf den Lippen.
* * *
Erst als die Ärzte kamen, überließ Friedrich Wilhelm seinen Sohn den Kinderfrauen. Er gab ihn den Ärzten angstvoll und schweigend. Die Ärzte hatten Furcht vor ihm. Was sie nicht verordneten! Was sie nicht erfanden! Welche Krankheiten sie nicht entdeckten!
Das Dreifache Weh hatte gute, gute Tage. Kein Kronprinz störte seine Machenschaften.
Der Kronprinz hielt zwischen seinen Räumen und den Zimmern der Gattin und des Kindes fürchterlichen Umgang, die halbe Nacht hindurch.
Ehe er frühzeitig wiederkam, hatten sie den toten Knaben schon entfernt, den Leichnam zu waschen, zu balsamieren, aufzubahren. Der Vater fand nur noch die leere Wiege. Den Kopf auf den noch nicht erkalteten Kissen seines Kindes, schlief er ein nach einer schlummerlosen Nacht.
Am Abend konnte man wie sonst mit ihm reden; nur der König hielt sich fern. Der Kronprinz stand Rede und Antwort, aber man spürte, wie ihm die Zeit zu langsam verrann, bis sie ihn endlich allein lassen würden. In der zwölften Stunde ging er mit dem Leuchter, ohne Diener, durch das Schloss. Er schritt so rasch, dass alle Kerzen flackerten und wirre Schatten warfen in dem langen, hohen Gang. Vor der Treppe zur Kapelle stellte er den Leuchter ab. Mit beiden Fäusten klopfte er an die Tür, die den Gang zu den Gesindekammern von der Galerie abschloss. Der Kronprinz wollte die Schlüssel zur Kapelle.
Kein Diener ist ihm gern gefolgt. Mitternacht, Leichnam und Kapelle – der Dreiklang ließ auch Männer schaudern. Aber dem Vater war, was die anderen entsetzte, der süße Körper seines Kindes. Er suchte ihn, er leuchtete das Gewölbe ab.
Am Särglein von rohem Holze lehnten zwei wächserne Engel, seinen toten Söhnen nachgebildet, die Arme lieblich gehoben, die Lippen lächelnd geöffnet, die dunklen Augen sinnend aufgeschlagen. Ganz nackt waren sie, umschlungen nur vom Band des Schwarzen Adlerordens. Hochgeschlagene Hüte mit gewaltigen, weißen Straußenfedern hatten sie wie im Spiel auf ihre kleinen Häupter gedrückt.
„Nehmt sie weg!“ schrie der Kronprinz fassungslos die furchtsamen Diener an. Gleich danach gab er ruhige Erklärungen. Sie sollten sich nicht so töricht anstellen; dies seien die vom König dem Hofwachsbossierer für das Trauerlager in Auftrag gegebenen Figuren der verstorbenen Prinzen. Dort liege noch das Gerät des Wachsbildners, den der Abend überraschte, als er das Konterfei des kleinen Leichnams überprüfte.
Die Diener waren befreit und belebt. Neugierig leuchteten sie in den Winkel mit dem Zeichentisch, auf dem die Skizzen für das Trauerprunkbett aufgeheftet waren: auf hohem Katafalk der Sarg mit Totenkopf und Krone, Gebeinen und geflügelten Saturnsköpfen als Zier seiner Wandungen. Die wächsernen Knaben umschwebten ihn als Engel.
Der Kronprinz trat unter die Diener. Er riss die Skizzen vom Tische, warf sie in einen Winkel. Die Wachsfiguren rührte er nicht an; es war überflüssig, dass sich gleich die Diener schützend vor sie stellten. Doch den Sarg hob er auf und trug sein Kind hinweg ins Dunkel. Sie geleiteten ihn mit den Kerzen. Keiner wagte eine Frage. Keiner nahm ihm den Sarg ab. Er trug ihn in sein Schlafgemach; er stellte ihn auf den Tisch. Die Diener wies er an der Schwelle ab. Nur ein Licht ließ er sich noch reichen. Das nahm er auf den Tisch zu dem Sarge. Er rückte sich den Sessel heran. Er zog den Sarg ganz dicht