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Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen. Kurt AramЧитать онлайн книгу.

Kurt Aram: Nach Sibirien mit hunderttausend Deutschen - Kurt Aram


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Oder aber man fuhr zu Schiff nach Batum, benutzte von dort die russische Eisenbahn über Tiflis nach Eriwan und hatte dann nur noch dreieinhalb Tage bis Wan, der Weg war also bedeutend kürzer und, da man bis auf die letzten drei Tage die russische Eisenbahn benutzen konnte, auch bedeutend bequemer. Also wählten wir natürlich ihn. Zwar war der österreichisch-serbische Konflikt schon ausgebrochen, das österreichische Ultimatum drohte und hing als schwere Wetterwolke am politischen Horizont, aber in jenen wundervollen Sommertagen dachte niemand daran, dass sich in so kurzer Zeit aus dieser Wetterwolke ein Weltbrand entzünden würde.

       Kurz nach drei Uhr an jenem 25. Juli lichtete die „CARINTA“ die Anker. Eitel Sonne, blaues Meer und blauer Himmel ringsum. Vorbei am Winterpalast des Sultans, vorbei an dem Prinzenpalast, in dem Abdul Hamid gefangen saß, vorbei an Arnautikoi, der Sommerresidenz der österreichischen und amerikanischen Botschaft, wo an jenem Tag die weißen Stationäre der österreichischen, italienischen und englischen Botschaft friedlich beieinander im Wasser lagen, weiß und unschuldig wie drei Lämmlein auf der Wiese. Vorbei an Therapia, der Sommerresidenz der deutschen Botschaft, wo im Hafen die „LORELEY“ sich leise wiegte, der deutsche Stationär, auch ein weißes Lämmlein wie die anderen. Wir zogen den Hut und grüßten hinüber, denn die „LORE“ mit ihrem Kapitän war uns sehr ans Herz gewachsen. In der leichten Brise vom Schwarzen Meere her bauschte sich wohlig die deutsche Flagge. Für fünf Monate sahen wir sie damals zum letzten Mal.

      An Bord der „CARINTIA“ befanden sich fast nur Mohammedaner und Armenier. Meine Frau und ich waren die einzigen Reichsdeutschen. Von Europäern gab es außer der Schiffsbesatzung nur noch ein polnisches Ehepaar aus Lemberg auf der Hochzeitsreise, das über Batum-Tiflis bis nach Täbris in Persien vordringen wollte, um einmal etwas anderes zu sehen als die meisten Hochzeitsreisenden. Er ein kleiner schüchterner Privatdozent mit mächtiger goldener Brille. Sie ein zierliches Persönchen in einem dicken Lodenkostüm, das sicherlich doppelt so schwer war wie sie selbst. Wir hatten vom ersten Augenblick an keine besonderen Sympathien füreinander. Unsere Rettung war der Kapitän, ein Riesenmensch, Montenegriner von Abstammung, aber leidenschaftlicher österreichischer Patriot, ein Labsal in all dem fremdartigen Völkergemisch um uns her, mit dem es nicht viel zu reden gab.

      Als wir in das Schwarze Meer einliefen, änderte sich das bis dahin so liebliche Klima. Rau kam der Wind von Anatolien her über kahle Berge und menschenarme Ebenen.

      Der Kapitän und wir redeten uns in eine immer größere Unruhe hinein. Welches war der Wortlaut des österreichischen Ultimatums, wie würde es aufgenommen werden? Aber das Schiff hatte keinen Marconi-Apparat, und an irgendwelche Telegramme war erst in Samsun zu denken. Unser cholerischer Kapitän wurde jetzt schon fuchsteufelswild bei der Vorstellung, dass es am Ende auch in Samsun keine neuen Telegramme gäbe. Wie es schon im Jahre zuvor während der Balkankriege gewesen war. Damals befuhr er dieselbe Strecke wie jetzt.

      Nun, selbstverständlich erfuhren wir nichts, gar nichts in Samsun und mussten uns auf Trapezunt vertrösten. Hierhin kamen wir am 29. Juli, einem Mittwoch. Es war noch sehr früh am Morgen. Von dem Lloyd-Agenten war nichts zu sehen. Ich ließ mich an Land fahren, um den deutschen Konsul aufzusuchen. Der deutsche Konsul befand sich nicht in der Stadt, sondern irgendwo weit weg auf dem Lande und wurde für den Tag nicht mehr zurück erwartet. Hingegen gab sich ein schwarzhaariger und dunkelhäutiger Sekretär des Konsulats alle Mühe, mir auf Französisch klar zu machen, dass nicht die geringste Gefahr eines Weltkrieges bestände. Er wisse das ganz genau, und er machte allerhand dunkle Andeutungen über derweil eingelaufene Depeschen.

      Als ich auf das Schiff zurückkehrte, nahm mich der Kapitän beiseite. Er war sehr erregt und sagte, es gehe das Gerücht um, die Österreicher beschössen schon Belgrad.

      Um Mitternacht lagen wir stundenlang wartend bei Risa, dem letzten türkischen Hafenstädtchen nahe der russischen Grenze. Aber Nachrichten, die der Kapitän erhoffte, kamen nicht; und so musste er nach Batum weiterdampfen, wo wir in der Frühe des 30. Juli in den Hafen einliefen.

      Der Hafen war wie ausgestorben. Hafenarbeiterstreik. Nur Polizei, Gendarmerie und russische Zollbeamte.

      Endlich konnten wir an Land gehen. Wir taten es zögernd und ungern. Ich kannte Batum schon von früheren Reisen, ich kannte auch Russland ganz gut. Ich litt also keineswegs an den leichten Beklemmungen, wie sie manchen befallen, der zum ersten Mal den Boden eines ihm völlig fremden Landes betritt, und nun gar russischen Boden. Aber die unheimliche Ruhe im Hafen, die Erregung des Kapitäns, all seine kaum verschleierten Hoffnungen, dass es nun endlich losgehe – wir zögerten in der Tat, das Schiff zu verlassen. Am Ende wären wir auch geblieben und am anderen Tag wenigstens bis nach Trapezunt zurückgefahren, um dann doch die Reise über Erzerum zu wagen, worüber wir uns schon mit dem Kapitän unterhalten hatten, hätte er nicht, uns die Hand schüttelnd, den Witz gemacht: „Geben Sie nur acht, dass Sie nicht doch noch nach Sibirien kommen.“ Wir lachten. So schlimm würde es schon nicht werden.

      Nicht weit von der „CARINTIA“ lag denselben Morgen am Batumer Kai noch ein großer Passagierdampfer der Hamburg-Amerika-Linie. Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Wohl aber, dass er als erster Hamburger Dampfer zum ersten Male die neue Strecke Hamburg – New-York – Konstantinopel – Batum zurückgelegt hatte.

      Wir fuhren in das erstbeste Hotel, um uns ein wenig zu erfrischen und mit dem nächsten Zug nach Tiflis weiter zu fahren. Der nächste Zug ging erst am Abend. Es hieß, er würde somit Militär besetzt sein, dass wir kaum noch einen Platz finden würden.

      Schon am Nachmittag begaben wir uns zur Bahn und erwischten gerade noch ein freies Halbcoupé. Das polnische Ehepaar, das erst kurz vor Abfahrt erschien, musste sich mit Stehplätzen im Gang begnügen.

      Ein Riesenzug, vollgestopft von oben bis unten mit russischer Infanterie. Da ich russische Verhältnisse kannte, machte es mich besonders stutzig, dass nicht nur die Fahrkarten, sondern auch die Pässe abverlangt wurden, was sonst auf russischen Eisenbahnen nicht geschieht. Und zwar besichtigten die Papiere nicht nur der Schaffner und der Zugführer, sondern auch ein Infanterieoberstleutnant, der das Halbcoupé neben uns innehatte ... Sehr merkwürdig und ungewöhnlich ... Bald bot sich Gelegenheit, mit unserem Nachbar in Uniform ein Gespräch zu versuchen. Leider sprach er keine europäische Sprache oder tat wenigstens so. Da meine Kenntnis des Russischen mehr als unvollkommen ist, war nicht viel aus ihm herauszubringen. Nur so viel verstand ich, dass er mir klar zu machen suchte, der Militärtransport geschähe der Streiks wegen, und dass ein Offizier die Kontrolle über die Bahnzüge ausübe, sei seit der Revolution von 1904/05 allgemein ... Hm ...

       Der Offizier benahm sich überaus höflich und liebenswürdig, und als wir in der Frühe des 31. Juli in Tiflis ankamen und am Bahnhof wegen Streiks der Kutscher und Trambahnangestellten kein Vehikel aufzutreiben war, das uns in das gut eine halbe Stunde entfernte Hotel bringen sollte, gab der Oberstleutnant keine Ruhe, bis er doch noch einen Wagen für uns aufgetrieben hatte. Das polnische Ehepaar nahmen wir mit und fuhren zum Hotel London, das von einer Mainzerin, Frau Richter, geführt wird. Wer je im Kaukasus war, kennt dies Haus und seine Besitzerin, die sehr energische, überaus auf Reinlichkeit bedachte alte Dame, die, früh verwitwet, seit dreißig Jahren dies beste Hotel der kaukasischen Hauptstadt führte und jedem Deutschen, der zu ihr kam, wie eine Mutter war. Das klingt wie eine Art Grabrede und ist es auch. Denn die Russen haben inzwischen ihre beiden Söhne nach Sibirien verschickt, ihr selbst das Hotel ruiniert und sie dann, als alles ruiniert war, einfach nach Deutschland ausgewiesen.

      An jenem letzten Freitag des Juli 1914 war freilich noch kein Gedanke an derlei. Das Hotel war voll besetzt mit hohen russischen Offizieren, so dass wir kaum noch Unterkunft finden konnten.

      Ich gab sofort meine Pässe dem Portier und schärfte ihm ein, alles zu tun, damit ich die Pässe womöglich morgen wieder in Händen hätte. Er meinte aber gleich, es würde damit wohl bis Montag dauern. Ich musste die Pässe, da ich russisches Gebiet ja schon am Montag wieder verlassen wollte, abvisieren lassen, um ungestörten Austritt aus dem Lande zu erhalten. Zwar hätte ich das auch noch in Eriwan besorgen lassen können, aber hier, in der Hauptstadt, würden die Formalitäten sicher schneller erledigt als in einer kleineren Stadt.

      Von Deutschen waren damals in dem Hotel die beiden Söhne der Frau Richter mit ihren Frauen, die Hotelbesitzerin selbst und ein bayrischer Ingenieur


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