... der kann nicht mein Jünger sein. Ralph ArdnassakЧитать онлайн книгу.
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Ralph Ardnassak
... der kann nicht mein Jünger sein
Erster Band
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Inhaltsverzeichnis
I
So jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Weib,
Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann
nicht mein Jünger sein.
Lukas 14, 26
Sie brachten es bereits am Mittag des 27. April 1986 in den Nachrichten, zuerst im Radio, was große Aufregung unter all den Nachbarn auslöste.
Es war lediglich eine kurze Nachricht, die die Älteren der Einwohner, die den Krieg noch mit erlebt hatten, an jene Tage erinnerte. Man musste ihnen einfach vertrauen, jenen Leuten im Gebietskomitee der Partei, die schon wissen würden, was sie taten. Schon immer hatten sie dies schließlich gewusst. Seit jenen Tagen im späten Herbst des Jahres 1917. Auch während des gesamten Krieges hatten sie es gewusst und die Heimat am Ende zum Sieg über den Faschismus geführt. Und auch in den Jahren danach, als sowjetische Menschen die ersten Menschen im Kosmos waren!
Es war nur eine kurze Nachricht im Radio, wonach sich alle Einwohner der Stadt vorbereiten und auf eine dreitägige Abwesenheit einstellen sollten.
Es war nur eine kurze Nachricht. Aber jede brachte sie sogleich mit dem nahen Kraftwerk in Verbindung, dessen Silhouette man von den Dächern mancher der erst unlängst errichteten Wohnhäuser deutlich am Horizont erkennen konnte. Mit allerhand Gerüchten, die nur hinter vorgehaltener Hand kursierten, wonach in den letzten Tagen dort etwas Unerhörtes geschehen sei. Etwas, das die hektische Betriebsamkeit und den ungewöhnlich regen Verkehr auf den Straßen und all die lärmenden Hubschrauber, die eine geheimnisvolle Last unter ihrem Bauch trugen, über der Gegend erklären könnte. Wie ein Schwarm wütender lärmender Hornissen, der den Leib eines schlummernden Riesen attackierte, so waren die Hubschrauber über die Gebäude des Kraftwerkes regelrecht hergefallen, welche fern in der Palessjeniederung lagen, jenem Tieflandstreifen zwischen den beiden Flüssen Bug und Prypjat, an den sich schließlich der Kiewer Stausee anschloss.
Immer wieder schwärmten diese Hubschrauber hornissengleich über den Gebäuden und Schornsteinen des Kraftwerkes. Verharrten bewegungslos in der Luft jener ausgedehnten und waldreichen Flussniederung, die den Standort des Kraftwerkes bildete.
Ein Gebiet, das die Schneeschmelze in jedem Frühjahr von einer sumpfigen und von zahlreichen Waldinseln durchzogenen Niederung in eine überschwemmte Wildnis verwandelte, die nur noch aus uferlosen Seen zu bestehen schien.
Etwas Unheimliches und Unfassbares musste all die Menschen, die in den fernen und geheimnisumwitterten Katakomben und Schaltzentralen jener Gebäude Tag und Nacht arbeiteten, um Strom für das Land zu erzeugen, jedoch in den vergangenen Stunden betroffen haben. Etwas, das die fast 50.000 Menschen, unter denen es beinahe 15.000 Kinder gab, bisher allerdings nicht beunruhigte.
Wenn sie es fertig gebracht hatten, Menschen in den Kosmos zu schießen und Atomeisbrecher zu bauen, die durch das Eis bis zum Nordpol fuhren, dann würden sie wohl erst recht ein einfaches Kraftwerk beherrschen. All die Techniker und Ingenieure, die in ihren weißen Kitteln und ihren weißen Hauben, die sie auf ihren Köpfen trugen, aussahen, wie veritable Chirurgen, die Menschen am offenen Herzen operierten.
Doch: War es nicht schon immer so gewesen, dass Menschen ihren Regierungen vertrauten und von ihnen nach Strich und Faden betrogen wurden? War jedes politische Amt nicht zu aller erst nur ein Sprungbrett zu persönlicher Macht und zu individuellem Wohlstand gewesen? Hatten Menschen nicht seit je her einander vertraut und waren daran sehr oft zugrunde gegangen?
Was ist eine Regierung? Was ist eine Partei? Eine Bündelung von Menschen, um ganz bestimmte Interessen zu vertreten! Ganz bestimmte Interessen, nicht aber die Interessen aller! Was ist eine Regierung, was ist eine Partei damit aber letztendlich anderes, als lediglich eine institutionalisierte Form des Betruges?
In den üblichen dürren Worten war daher die offizielle Radiomeldung abgefasst, die im Namen des Ministerrates der UdSSR verlesen wurde und die, wie immer in solchen Fällen, alles oder nichts zugleich bedeuten konnte:
„Im Atomkraftwerk Tschernobyl hat sich ein Unfall ereignet. Ein Reaktor wurde beschädigt. Maßnahmen zur Beseitigung der Unfallfolgen werden ergriffen. Den Geschädigten wird Hilfe geleistet. Eine Regierungskommission ist gebildet worden.“
(Quelle: http://www.lpb-bw.de/tschernobyl.html)
Den alten Mann mit dem weißen Bart und dem langen ergrauten Haar, Attribute, die an Tolstoi erinnern, beunruhigt diese Meldung nicht mehr, als andere Mitteilungen dieser Art.
Viele Nachrichten hat er in den letzten Jahrzehnten gehört. Gute und schlechte. Dramatische und nichtssagende Meldungen. Meldungen, die sich wie chirurgische Einschnitte in sein Leben pressten. Meldungen, die nichts hinterließen, als den Klang ihrer Worte und die Bedeutung ihres Inhaltes in seinem Bewusstsein.
Er war zu alt, um sich von all den Sorgen der Jugend anstecken zu lassen. Von ihren Hoffnungen, Ängsten, Erwartungen und Enttäuschungen.
Seine Jugend hatte er auf den Schlachtfeldern des Großen Vaterländischen Krieges verbracht. Auf den Schlachtfeldern des Aufbaus einer Gesellschaftsordnung, von der Lenin und seine Nachfolger nie müde wurden, zu behaupten, sie sei die einzige gerechte Form des organisierten Zusammenlebens der Menschen überhaupt.
Sergej Antonowitsch Mentow hatte das siebzigste Lebensjahr schon lange hinter sich gelassen.
Seitdem er nicht mehr arbeitete, er hatte an der Planung und Errichtung dieser Stadt in den 1970er Jahren mitgewirkt, betrachtete er die ganze Welt aus einer seltsam entrückten Distanz und war dazu über gegangen, sich aus dieser Distanz Gedanken über den Sinn des menschlichen Daseins zu machen, während er seine ganz normalen und alltäglichen Verrichtungen erfüllte. Er las die Zeitung und er hielt seine kleine Wohnung gewissenhaft sauber. Er hörte die Nachrichten und ging in das nahe Magazin, um seine notwendigen Einkäufe zu erledigen. Manchmal ging er sogar sonntags zum Schwimmen in die große helle Schwimmhalle, die er am Reißbrett gebaut und deren Bau er mit Argusaugen überwacht hatte. Einmal in der Woche ging er zum Schachspielen in den Klub und manchmal ging er in das nahe Theater.
Er war ein Mensch mit geringen Ansprüchen. Und zu seiner großen Freude sah er, dass jene Stadt Prypjat, die er geplant und deren Bau er überwacht hatte, nicht nur ein Paradies für die Jugend war, sondern auch seinesgleichen, einen bequemen Lebensabend bot.
Dazu zählte seine kleine, aber moderne Einraumwohnung, in er es Fernwärme und fließendes warmes und kaltes Wasser gab sowie einen Gasherd. Er brauchte kein Holz zu hacken und zu schleppen und das Wasser nicht umständlich