Der Dieb in der Nacht. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
begeistert sich für Jagd und Golf – und ich fahre gern Auto und spiele Tennis. Ich bin meiner Veranlagung nach zurückhaltend und nicht sehr aktiv, während sie vor Energie nicht weiß, was sie alles unternehmen soll. – Aber warum fragst du eigentlich danach? Hat Willie Barbaras Vorzüge wieder einmal aufgezählt? Er kann sie ja recht gut leiden.«
Lady Widdicombe setzte sich auf die große, breite Couch. »Ich dachte nur im Augenblick daran. Du hast heute morgen doch auch einen Brief von Mrs. Crewe-Sanders erhalten, wie ich gesehen habe. Sie hat mir ebenfalls geschrieben. Hat sie dir mitgeteilt ...«
Diana nickte lächelnd und warf ihrer Kusine einen vielsagenden Blick zu. »Jetzt weiß ich auch, warum du Barbara erwähntest – sie war bei den Crewe-Sanders eingeladen.«
Lady Widdicombe versuchte zu widersprechen, aber ihr Protest war nur schwach.
»Barbara war dort zu Besuch«, fuhr Diana fort. »Sie war auch bei den Colebrooks eingeladen, als Mrs. Carter ihre Brillantnadel verlor. Ebenso war sie bei der Gesellschaft, die die Fairholms gaben. Die Dame des Hauses vermißt seitdem ihre Brillantbrosche.«
»Aber Diana!«
»Ach ja, ich weiß! Aber an den Tatsachen läßt sich doch nichts ändern.« Das Lächeln verschwand aus Miss Wolds Zügen, während sie langsam weitersprach und jedes Wort betonte. »Und sind nicht auch alle diese entsetzlichen anonymen Briefe des ›aufrichtigen Freundes‹ immer nur an Leute gerichtet, die Barbara May persönlich kennt?«
Lady Widdicombe erhob sich und rief empört aus: »Diana, ich hätte niemals geglaubt, daß du so gehässig sein könntest! Ich fürchte, du weißt nicht, was du sagst. Eben hast du die Vermutung ausgesprochen, daß Barbara nicht nur eine Diebin ist, sondern auch ...«
»Ich weiß wohl, daß es eine schwere Anschuldigung ist.« Diana nickte. »Aber wir müssen doch den Tatsachen ins Auge sehen.«
Lady Elsie sah ihre Kusine vorwurfsvoll an.
»Was redest du von Tatsachen! Das ist doch geradezu abscheulich! Wie kannst du Barbara so verdächtigen ... Sie ist doch noch fast ein Kind. Aber jetzt kann ich mir gut vorstellen, wie du sie haßt.«
Diana schüttelte den blonden Kopf und sah Elsie belustigt an.
»Das stimmt nicht. Aber ich kann doch mein logisches Denken nicht ausschalten. Ich bin eben zu diesem Ergebnis gekommen.«
Doch dann warf sie den Kopf zurück, als ob sie die häßlichen Gedanken abschütteln wollte, legte den Arm um ihre Kusine und gab ihr einen Kuss.
»Darling, nimm es nicht so tragisch! Es war wirklich nicht böse gemeint – was kann ich dafür, daß Barbara mir so schrecklich auf die Nerven fällt.«
Lady Widdicombe ließ sich jedoch nicht so leicht beruhigen. Dianas Worte hatten sie tief getroffen – weil ihr schon derselbe Verdacht gekommen war.
2
Inspektor Jack Danton trat in das Büro des Chefinspektors. Er glaubte genau zu wissen, warum ihn sein Vorgesetzter so plötzlich aus Paris zurückgerufen hatte.
Auf der Rückreise hatte er alle Zeitungsmeldungen über den neuesten Juwelendiebstahl gelesen. Die örtliche Polizei war offensichtlich diesem schlauen Kopf nicht gewachsen.
Wenn er – Danton – den Auftrag erhalten würde, diese Verbrechen aufzuklären, so wäre das eine Aufgabe nach seinem Geschmack gewesen. Er hatte nach dem Krieg die Laufbahn eines Kriminalbeamten bei Scotland Yard eingeschlagen. Mit Energie hatte er sich durchgesetzt, aber obgleich er bereits eine große Anzahl von Warenhausdieben hinter Schloß und Riegel gebracht hatte, sehnte er sich jetzt doch nach einem großen Fall, bei dem er einmal zeigen konnte, was wirklich in ihm steckte.
Den Zeitungsmeldungen nach war der letzte Juwelenraub ebenso ausgeführt worden wie alle früheren. Mrs. Crewe-Sanders hatte für mehrere Tage eine Anzahl von Gästen auf ihren Landsitz eingeladen, und in der letzten Nacht war die Brillantnadel gestohlen worden. Der Schmuck war sehr wertvoll, denn um das kostbare Mittelstück waren noch drei große dreieckig geschliffene Smaragde angeordnet.
Danton war darauf gefaßt, daß sein Vorgesetzter über diese Sache mit ihm sprechen würde.
»Nehmen Sie Platz«, sagte der Chefinspektor und nickte ihm freundlich zu. »Ich brauche Sie dringend.«
Jack lächelte. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie mich sprechen wollen. Der letzte Juwelendiebstahl war ja wieder eine raffinierte Sache.« Er sah, daß der Chefinspektor die Stirn runzelte, und wunderte sich.
»Wovon sprechen Sie denn?«
Jack Danton schaute ihn erstaunt an.
»Ich meine den Juwelendiebstahl bei den Crewe-Sanders in Shropshire.«
»Ach so!« Der Chefinspektor zuckte die Schultern. »Ich interessiere mich mehr für den sogenannten ›aufrichtigen Freund‹ als für den Juwelendieb. Außerdem hat die dortige Polizei noch nicht ausdrücklich um unsere Hilfe nachgesucht, wir brauchen uns also deshalb vorläufig keine grauen Haare wachsen zu lassen.«
Jack lachte.
»Ich verstehe wirklich nicht, was Sie meinen. Von welchem ›aufrichtigen Freund‹ sprechen Sie denn eigentlich?«
Der Chefinspektor klopfte mit der Hand auf einige Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen.
»Es handelt sich um einen anonymen Briefschreiber, der stets mit ›Ein aufrichtiger Freund‹ unterschreibt. Er schickt unverschämte Briefe an hochstehende Persönlichkeiten und hat schon viel Unheil damit angerichtet. Offenbar weiß er einiges über diverse Mitglieder der Gesellschaft, das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit dringen darf. Diese Leute sind natürlich überzeugt, daß niemand etwas von ihren Geheimnissen ahnt, und sind jetzt verständlicherweise entsetzt. Offen gestanden glaube ich, daß es sich um eine Frau handelt, denn die Handschrift hat typisch weiblichen Charakter. Natürlich ist sie verstellt, aber selbst unter diesen Umständen kann man erkennen, daß eine Frau die Schreiberin ist. Hier haben Sie einen der Briefe.«
Er reichte Jack einen Bogen über den Tisch.
Der Inspektor las die Zeilen und lachte spöttisch.
»Das kann ja beträchtliches Unheil anrichten«, meinte er. »An wen war denn der Brief adressiert?«
»An Lord Widdicombe. Wie Sie sehen, handelt es sich um eine Verleumdung seiner Frau, die ihm untreu geworden sein soll. Glücklicherweise ist der Lord ein intelligenter, vernünftiger Mann, der zu seiner Frau das größte Vertrauen hat. Er zeigte ihr den Brief und hat ihn dann uns zur Verfügung gestellt. – Ich möchte Sie nun bitten, nach Shropshire zu fahren. Sie haben ja viele Bekannte in diesen Kreisen, und ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht erst lange Empfehlungsschreiben mitzugeben. Sind Sie schon einmal in der Gegend gewesen?«
»Ja, gewiß«, erwiderte Jack und lächelte. »Ich bin schon sehr lange mit den Widdicombes befreundet, und zufälligerweise habe ich gerade eine Einladung von ihnen erhalten, sie auf ihrem Landsitz zu besuchen.«
Zuerst war Jack sehr enttäuscht, daß ihm nicht die Aufklärung der Juwelendiebstähle übertragen wurde, aber schließlich fesselte ihn jede neue Aufgabe, und er war gespannt, was er in Shropshire erleben würde.
Er nahm die Akten, aus denen alle weiteren Einzelheiten hervorgingen, in sein Büro mit und brachte den Vormittag damit zu, die einzelnen Briefe und Handschriften miteinander zu vergleichen. Nach einer Weile lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und dachte angestrengt nach.
»Ausgerechnet Shropshire!« murmelte er vor sich hin und mußte unwillkürlich lächeln. »Barbara May ist doch gerade von Shropshire nach London gekommen.«
Bei dem Gedanken warf er einen Blick auf seine Uhr und erhob sich eilig.
Es war möglich, daß sie heute morgen einen Spazierritt im Hyde Park machte. Schon manchmal war er um diese Zeit dorthin gegangen, um die Reiter zu beobachten, und war enttäuscht gewesen, wenn er sie nicht getroffen hatte.