Der Redner. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
nicht gerade sehr erfreut sein würden.
Wenn er auf Urlaub war, las er gewöhnlich keine Zeitung. Aber nachdem er im Hippodrom eine kurze Unterhaltung gehört hatte, ließ er sich sofort die neuesten Londoner Blätter geben und fand auch kurz darauf, was er suchte. Es war nur eine kleine Notiz.
Zu unserem größten Bedauern müssen wir den Tod von Lord Eustace Lightley melden. Seit einigen Wochen lag er krank darnieder und starb in der vorigen Nacht plötzlich in seiner Stadtwohnung in der Hart Street, Mayfair.
»So, so!« murmelte der Redner nachdenklich vor sich hin.
Wenn er seiner eigenen Neigung hätte folgen dürfen, hätte er der Witwe ein Glückwunschtelegramm geschickt. Die Todesanzeige erinnerte ihn wieder an die Unterredung, die er damals mit dem jungen Mann aus der Apotheke hatte, und er machte sich eine Notiz in sein Tagebuch, um später darauf zurückzukommen. Da ihn aber in den nächsten Tagen eingehende Konferenzen mit den Ostender Polizeibehörden vollauf in Anspruch nahmen, vergaß er die Angelegenheit. Es waren nämlich mehrere Juwelendiebstähle in den großen Hotels begangen worden, während die Gäste beim Diner saßen oder sich im Kasino aufhielten.
Mr. Rater unterbrach seine Untätigkeit und sah sich unter seinen verdächtigen Landsleuten um, die sich zur Zeit in dem belgischen Seebad aufhielten.
Soweit er feststellen konnte, kamen fünf Individuen zweifelhaften Charakters in Frage, aber der Mann, nach dem er vor allem ausschaute, befand sich nicht in Ostende. Nach allen Nebenumständen zu urteilen, waren die Einbrüche typisch für einen gewissen Bill Osawold. Der Redner telefonierte mit Scotland Yard und hörte zu seiner großen Enttäuschung, daß sich der Mann zur Zeit in London aufhielt, wo ihn die Polizei schon seit einem Monat beobachtet hatte.
»Beinahe hätten wir ihn hier an dem Tag verhaftet, an dem die großen Diebstähle in Ostende begangen wurden«, sagte der Beamte am Apparat. »Ein Schutzmann sah ihn mitten in der Nacht aus einem Haus im Westen herauskommen und erkannte ihn. Aber anscheinend hat ihn tatsächlich eine Dame zu Hilfe gerufen, weil ihr Mann plötzlich schwer erkrankte. Ihr Telefon funktionierte nicht, und deshalb rief sie ihn von der Straße herein und bat ihn, einen Arzt zu holen.«
»Pech!« erwiderte der Redner.
Am nächsten Tag wurde der richtige Dieb gefaßt, und damit war das Geheimnis gelöst.
Mr. Rater kehrte gestärkt und gekräftigt von seinem Urlaub nach London zurück und war in so freundlicher Stimmung, daß er sogar einem Mitreisenden antwortete, der mit ihm über das Wetter sprach.
In London stürzte er sich sofort wieder auf die Arbeit, und es warteten auch bereits zahlreiche Aufgaben auf ihn.
Eines Tages ging er durch den Hyde Park, als ihn plötzlich eine raue Stimme anrief.
»Hallo, Inspektor! Wollen Sie nicht eine kleine Spazierfahrt mit mir machen?«
Der Redner wandte sich langsam um und war erstaunt über den Anblick, der sich ihm bot. In einer prachtvollen, teuren Limousine saß ein elegant gekleideter Herr. Diamantringe mit großen Steinen glänzten an seinen Fingern.
»Steigen Sie doch bitte ein, Inspektor«, sagte Bill Osawold vergnügt.
Offenbar glaubte er nicht, daß seine Einladung angenommen würde, denn als der Redner die Tür des Wagens tatsächlich öffnete und einstieg, zeigte sich Bestürzung in Bills Gesicht, und er kniff die Augen zusammen. Der Tätigkeit des Chefinspektors hatte er es zu danken, daß er schon dreimal für empfindlich lange Zeit ins Gefängnis gewandert war.
»Nun, geschäftlich scheint es Ihnen nicht schlecht zu gehen«, meinte Mr. Rater und sah ihn scharf an.
Osawold räusperte sich verlegen und machte eine unruhige Bewegung.
»Habe selten jemanden gesehen, der einen so kompletten Eindruck machte wie Sie«, fuhr der Redner fort.
Bill Osawold sah auch wirklich tadellos aus. Er trug einen schwarzweiß karierten Anzug, der ihm vorzüglich stand, dazu ein seidenes Hemd mit passendem, weichem Kragen. Die Brillantnadel in seinem Schlips war allerdings etwas zu groß.
»Ich lasse mir jetzt nichts mehr zuschulden kommen, Inspektor«, erwiderte Bill mit etwas belegter Stimme. »Eine Tante von mir ist gestorben und hat mir eine Menge Geld hinterlassen. Sie müssen einmal zu mir kommen und sehen, wie schön ich es habe.«
Mr. Rater betrachtete ihn so eingehend vom Kopf bis zum Fuß, als ob seine Augen Staubsauger wären, die gründlich und sorgfältig auch das letzte Stäubchen erfassen wollten.
»So? Eine Tante? Na, die wird ja sehr zufrieden mit ihrem Neffen sein, wenn sie jetzt durch ein Himmelsfenster herunterguckt und den eleganten Wagen und den schönen Anzug bewundern kann. Sie wohnte wohl früher in Australien?«
»Nein, in Amerika.« Bill grinste. »Wenn Sie einmal durstig sind und gern etwas trinken wollen, dann kommen Sie doch zu mir – ich wohne Bloomsbury Mansions, Nr. 107.«
»Danke schön, wenn ich etwas trinken will, gehe ich lieber in ein Lokal«, entgegnete der Redner freundlich.
Die Verwunderung, die sich in seinen Zügen spiegelte, war nicht erheuchelt, sondern echt.
»Es ist doch kaum zu glauben«, sagte er nachdenklich. »Bei unserer letzten Begegnung habe ich Sie auf frischer Tat oben auf dem Dach von Albemarle Mansions erwischt. Fünf Jahre haben Sie brummen müssen, weil Sie eine Schusswaffe bei sich trugen!«
Bill ließ sich nicht gern an die Vergangenheit erinnern.
»Das hat nun alles aufgehört«, erwiderte er mit einer abwehrenden Handbewegung. »Seitdem mein Onkel gestorben ist –«
»Ach, ich dachte, es wäre eine Tante gewesen!«
»Natürlich war es eine Tante! Also, seit der Zeit habe ich nichts Unrechtes mehr getan. Ich komme auch nicht mehr mit der schlechten Gesellschaft zusammen, mit der ich früher verkehrte.
Der Redner betrachtete Bill wie ein Kassierer einen gefälschten Scheck, und er war in mancher Beziehung nicht zufrieden. Mr. William Osawold hatte auch noch andere Verbrechen begangen als Einbrüche. Er war ein wilder und leidenschaftlicher Bursche. Der Chefinspektor erinnerte sich daran, daß Bill einmal wegen Vergewaltigung und Notzucht auf mehr als vier Jahre von der Bildfläche verschwinden mußte, und sprach auch von dieser Angelegenheit.
»Ich muß damals direkt verrückt gewesen sein«, entgegnete Mr. Osawold und schüttelte den Kopf. »Aber das Mädel hat das Blaue vom Himmel heruntergelogen, und Sie haben es mir auch ordentlich eingetränkt.«
»Das tue ich immer.«
Der Wagen war inzwischen am Marble Arch angekommen, und Osawold klopfte dem Chauffeur.
»Hier muß ich Sie leider absetzen, Inspektor. Ich habe nämlich eine Verabredung mit einer Freundin«, sagte er und atmete erleichtert auf, als sein Feind außer Sicht war.
Er hatte tatsächlich eine Verabredung, und zwar mit einer hübschen Verkäuferin, die unvorsichtigerweise eine Einladung zum Lunch in seiner Wohnung angenommen hatte.
Um fünf Uhr nachmittags wurde Mr. Rater von einem Bezirk aus angerufen – es handelte sich um Bill Osawold. Die junge Verkäuferin war verstört und entsetzt zur Polizeiwache gekommen. Sie war kaum vernehmungsfähig, aber sie beschuldigte den Mann schwerer sittlicher Vergehen.
»Gut, ich komme«, erwiderte der Redner freundlich.
Als er von Scotland Yard nach Whitehall ging, war der erste, dem er begegnete, Bill Osawold. Der Verbrecher wollte gerade zum Bahnhof fahren und hatte allem Anschein nach die Absicht, das Land für immer zu verlassen, denn auf dem Dach des Autos lagen ein großer Kabinen- und zwei riesige Lederkoffer. Der Wagen fuhr an Mr. Rater vorbei, wurde aber gleich gegenüber dem Parlamentsgebäude an einer Straßenkreuzung aufgehalten. Bevor der etwas phlegmatische Verkehrspolizist dem wartenden Wagen das Zeichen zur Weiterfahrt gab, war der Redner herangekommen und öffnete die Tür.
»Steigen Sie aus«, sagte er. »Und etwas lebhaft, bitte!«
Bill