Der Redner. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
sich als gestohlenes Gut erwiesen hatte. Daß Osawold der Dieb war, hatte der Redner keinen Augenblick geglaubt, und die Aussage des Mannes, wie er in den Besitz des Stücks gekommen war, klang auch vollkommen überzeugend.
»Ich habe ihn von Louis Rapover. Dreiundvierzig Pfund habe ich dafür bezahlt. Wenn er gestohlen ist, kann ich nichts dazu. Ich weiß nichts davon. Deshalb können Sie mich doch wohl nicht vor Gericht stellen lassen, Mr. Rater.«
»Na, da sind Sie ja diesmal ein Unschuldslämmchen«, meinte der Chefinspektor etwas ironisch. »Wollen Sie übrigens gegen das letzte Urteil Berufung einlegen?«
Bill nickte.
»Machen Sie sich darüber nur keine Sorgen, ich komme schon damit durch. Meine Freunde müssen dafür sorgen, sonst geht es ihnen schlecht. Mir zwölf Jahre aufzuknallen ..., das alte Schwein! Legen Sie doch ein gutes Wort für mich ein, wenn ich wieder vor die Geschworenen komme. Ich gebe Ihnen auch ein schönes Stück Geld ab.«
»Kommt für mich nicht in Frage, Bill«, erwiderte der Redner.
Die Berufung wurde vor dem Königlichen Gerichtshof im Strand verhandelt. Zwei Stunden vor Beginn der Sitzung brachte man Bill Osawold in das Gerichtsgebäude. Er kam in einem Auto, begleitet von drei Gefangenenwärtern, und wurde in einen kleinen, zellenartigen Raum geführt, der unter den Verhandlungssälen lag. Um zehn Uhr erschien ein junges Mädchen aus dem Restaurationsraum, um ihm das Frühstück zu bringen.
Ein Polizist begleitete sie und ging vor ihr die enge Treppe hinunter. Er war bereits außer Sicht, bevor sie das erste Podest erreicht hatte.
»Ach, entschuldigen Sie einen Augenblick.«
Die Kellnerin wandte sich um und sah eine Dame hinter sich, die ein kostbares Trauerkleid französischer Machart trug. Ein dichter, schwarzer Schleier fiel über den Rand ihres Hutes und verdeckte ihr Gesicht.
»Bringen Sie das Frühstück für Mr. Osawold?« fragte sie in gebrochenem Englisch.
»Ja.«
»Gehört der Polizist zu Ihnen?« fragte die Dame weiter und zeigte die Treppe hinunter.
Die Kellnerin schaute in die Richtung, konnte aber niemand bemerken.
»Wen meinen Sie denn?«
»Ach, ich dachte, ich hätte eben noch einen Polizisten gesehen.«
Mehr wurde nicht gesprochen. Die Dame drehte sich um und wäre beinahe mit Chefinspektor Rater zusammengestoßen, der von einem höheren Treppenabsatz aus die Szene interessiert beobachtet hatte. Mit einer Entschuldigung eilte sie an ihm vorbei, ohne aufzublicken. Sie stieg die Treppe so schnell hinauf, als ob sie fürchtete, verfolgt zu werden.
Mr. Rater sah ihr eine Sekunde nach, ging dann aber rasch hinter der Kellnerin her. Dicht vor der Zellentür erreichte er sie, nahm die Kaffeetasse vom Tablett, betrachtete sie einen Moment zerstreut und ließ sie dann plötzlich zu Boden fallen, wo sie in tausend Stücke zerschellte.
»Es tut mir leid, ich bin heute morgen etwas nervös«, sagte er. »Ich werde dafür sorgen, daß die Scherben aufgekehrt werden. Gehen Sie gleich zurück und holen Sie eine andere Tasse Kaffee. Und sagen Sie in der Wirtschaft, daß Chefinspektor Rater für den Schaden aufkommt.«
Er wartete bei dem Gefangenenwärter, bis das Mädchen zurückkam, dann stieg er die Treppe zur Halle hinauf.
Später war er bei der Verhandlung zugegen, als die drei Richter die Berufung verwarfen und die außerordentlich lange Zuchthausstrafe bestätigten, die fast einem Todesurteil gleichkam.
Um vier Uhr nachmittags wurde Lady Angela der Besuch gemeldet, den sie im stillen schon erwartet hatte. Mit düsterem Gesicht saß sie in ihrem Wohnzimmer. Rings um sie her lagen viele Zeitungen auf dem Boden verstreut.
»Lassen Sie Mr. Rater eintreten«, sagte sie so leise, daß sie den Auftrag wiederholen mußte.
Bei dieser Gelegenheit war der Redner wirklich einmal gesprächig. Er unterhielt sich mit Lady Angela über das Wetter, über den Lärm des Straßenverkehrs und über die hohen Kosten des Hotellebens. Dann kam er schließlich auf die Sache zu sprechen, die ihn zu ihr geführt hatte.
»Die Berufung Ihres Freundes ist nicht durchgegangen.«
»Warum nennen Sie denn diesen. entsetzlichen Menschen meinen Freund?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.
»Ach ja, man kann ihn eigentlich kaum so bezeichnen.« Er lächelte liebenswürdig. »Auf jeden Fall ist er nicht mein Freund. Ich hatte ihn wegen einer Reihe von Juwelendiebstählen in Ostende in Verdacht, telefonierte von dort nach Scotland Yard und erfuhr dabei etwas sehr Merkwürdiges. Der Beamte erzählte mir nämlich, daß man Osawold an demselben Morgen aus Ihrem Haus kommen sah, an dem Ihr Mann starb.«
Sie erwiderte nichts darauf.
»Nun ist es insofern schlimm mit mir«, fuhr der Redner fort, »als ich mir immer gleich Theorien bilden muß. Ich denke darüber nach, was sich wohl hinter verschlossenen Türen abgespielt haben mag, bis ich schließlich einen Zusammenhang entdeckte. Deshalb habe ich auch versucht, eine Erklärung für Ihr großes Interesse an Bill Osawold zu finden, und ich glaube, das ist mir gelungen.
Manches bringt man allerdings nicht bloß durch Nachdenken heraus.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Was schüttete zum Beispiel heute morgen die französische Dame in den Kaffee, der Bill Osawold gebracht wurde? Ich sah, wie sie den Inhalt eines Fläschchens hineingoß, als die Kellnerin einen Augenblick wegschaute. Vielleicht war die Dame überhaupt keine Französin? Auf jeden Fall war sie aber wahnsinnig vor Furcht. Das ist nicht der richtige Weg, einen Mann vom Sprechen abzuhalten. Wenn Sie mit der Psyche der Verbrecher so vertraut wären wie ich, Lady Angela, wüßten Sie auch, daß die Drohungen solcher Menschen nicht zu fürchten sind. Bill Osawold erreicht auch nichts, wenn er eine Dame verrät, die ihm geholfen hat. Außerdem wird er nicht mehr lange leben, wenn der Gefängnisarzt seinen Zustand richtig beurteilt. Sollte er Ihnen jemals schreiben, schicken Sie mir seine Briefe nur zu. Aber ich glaube nicht, daß Sie noch etwas von ihm hören werden.«
Der Chefinspektor nahm seinen Hut und schaute ein paar Sekunden nachdenklich aus dem Fenster.
»Ich gehe jetzt, Lady Angela«, sagte er dann. »Vielleicht schreiben Sie mir an einem der nächsten Tage einmal, wie Ihr verstorbener Mann, der soviel Arsen zu sich nahm, Sie in eine schwierige Lage gebracht hat.«
Sie sprang auf und stand bleich und zitternd vor ihm.
»Sprachen Sie nicht eben von Arsen ... Woher wußten Sie denn das?«
»Er hat ein paar Jahre in Syrien zugebracht, und ich weiß, daß auch andere Europäer dort dieser Schwäche verfallen sind. An Ihrem Hochzeitstage traf ich einen jungen Mann aus der Apotheke, der ein Paket Arsen für ihn abgeben sollte. Die Leute fangen erst mit kleinen Dosen an und nehmen schließlich so viel von dem Gift zu sich, daß man ein ganzes Regiment Soldaten damit unter die Erde bringen könnte, und bei diesem Stadium war Ihr Mann angelangt.«
Erst drei Monate später erhielt Mr. Rater einen Brief von Lady Angela.
... ich war entsetzt, als ich diese schreckliche Angewohnheit entdeckte. Ich hatte das nicht für möglich gehalten ... Unser Zusammenleben war sehr unglücklich. Er war schrecklich nervös, gereizt, niederträchtig und grausam. Zweimal hat er mich in seiner kindischen Wut geschlagen. Ich wollte es damals dem Doktor sagen, aber er drohte mir, dann abzustreiten, daß er jemals Arsen genommen hätte, und dem Arzt zu erklären, daß ich ihn vergiften wollte.
Später litt er an sehr schwerer Bronchitis, so daß er nicht mehr ausgehen konnte und ich das Arsen für ihn beschaffen mußte. Schließlich weigerte sich sein Apotheker, ihm weitere Mengen zu liefern. Eines Nachts gab ich ihm das Gift nicht. Ein schrecklicher Auftritt war die Folge. Ich gab ihm dann etwas, aber er wollte mehr und schrie vom Bett aus: ›Ich werde den Leuten schon sagen, daß du mich vergiften willst! Du willst ja nur mein Geld haben – deshalb bringst du mich um!‹ Im selben Augenblick hörte ich ein Geräusch, sah mich um und entdeckte einen brutal aussehenden Menschen, der mir vollkommen fremd war. Er stand in der offenen Tür,