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Nesthäkchen im weißen Haar. Else UryЧитать онлайн книгу.

Nesthäkchen im weißen Haar - Else Ury


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»Fräulein Tavares, Sie brauchen nicht solche bangen Augen zu machen. Das hört sich für den Neuling schlimmer an, als es ist. Das Labyrinth der Ihnen fremden Sozialgebiete wird Ihnen allmählich schon vertraut werden. In einem Tag ist auch Rom nicht erbaut worden. Nur guten Willen, ernstes Pflichtbewusstsein müssen Sie als Wanderstab mitbringen. Aber auch des Jugendfrohsinnes, frischen fröhlichen Muts bedarf es zu Ihrer Aufgabe, die Sie vor Verflachung schützt, Sie über persönliche Interessen hinaus Gemeinschaftszielen zum Wohle Ihrer Mitmenschen entgegenführt. Wer einen Teil seines Lebens wahrhaft hingibt, wird ungeahnte Schätze dabei heimtragen. Lassen Sie mich zum Schluß Ihnen als Weggeleit ein Wort Marie von Ebner-Eschenbachs mitgeben: ›Wenn uns auf Erden etwas mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt wird, so ist es unsere Menschenliebe.‹« Die Leiterin der sozialen Frauenschule neigte leicht grüßend den Kopf und verließ den Klassenraum.

      »Eine wundervolle Frau!« Man wußte nicht, wer es gesagt, wer das ausgesprochen, was eine jede der Schülerinnen empfand.

      Die beiden aus der vorletzten Reihe schritten Arm in Arm durch das schmiedeeiserne Gittertor hinaus in den herbstelnden Vorgarten. Die eine, groß und überschlank, ging fest und sicher, die blaugrauen Augen geradeaus auf ein unsichtbares Ziel gerichtet. Die andere, fast um einen Kopf kleiner, von elfenhafter Anmut, blickte noch immer zaghaft. Sie kam sich vor wie das losgelöste Blatt zu ihren Füßen, das der Wind hierhin und dorthin wehte. Und doch hielt sie selbst jetzt ihr Schicksal in der Hand, konnte es hinsteuern, zu welchem Ziele sie wollte.

      »Mit einer solchen Frau wie Fräulein Dr. Engelhart gemeinsam zu wirken, ist allein schon ein Gewinn für das Leben«, unterbrach die größere der Kusinen das minutenlange Schweigen. »Ich freue mich auf die Arbeit. Je schwerer sie ist, um so größer ist der Erfolg.«

      Marietta blickte bewundernd zu ihrer Gefährtin auf. Wie sicher Gerda des Erfolges war, während sie selbst sich bange fragte, ob es nicht eine Anmaßung von ihr sei, sich auf solch ein schwieriges Gebiet zu begeben.

      »Du bist so still, Jetta. Hat dich der erste Tag in der sozialen Frauenschule oder gar deren Leiterin enttäuscht? Es erscheint mir undenkbar.«

      »Nein, Gerda!« Das goldbraune Kraushaar flatterte im Winde, so lebhaft wurde der Kopf geschüttelt. »Nur von mir selbst bin ich enttäuscht. Ich fürchte, den großen Anforderungen, welche die soziale Frauenschule verlangt, nicht gewachsen zu sein.« Marietta sprach ein fehlerloses Deutsch. Nur leichter, fremdländischer Anklang erinnerte daran, daß sie ein Kind ferner Zonen war.

      »Du mit deinem warmen, die ganze Menschheit umfassenden Herzen? Ich wüßte nicht, wer mehr für soziale Tätigkeit geeignet wäre als du, Jetta«, protestierte die andere.

      »Wenn es nur mit dem Herzen zu schaffen wäre. Aber der Verstand scheint mir für unseren Stundenplan notwendiger zu sein. Ich weiß nicht, ob ich den schweren Lehrkursen werde folgen können. Ja, wenn ich so klug wäre wie du.«

      »Du leidest wieder mal an falscher Bescheidenheit, Jetta. Das Theoretische wirst du so gut wie jede andere bewältigen. Und für die Praxis bedarf es vor allem starker Menschenliebe und Selbstaufopferung, die du in vollstem Maße besitzt. Hat meine Mutter es nicht oft genug während deiner zweijährigen Hilfstätigkeit in ihren Kleinkinderkrippen und Jugendhorten geäußert, daß keine andere sich so ganz einsetzt wie du? Na also! Dir fehlt nur Selbstvertrauen. Du darfst nicht auf den mühevollen Weg schauen, sondern auf das Ziel, das es zu erreichen gilt. Denke nur, Jetta, wenn du die Arbeiterfürsorge bei euch drüben in Brasilien nach europäischen Mustern wirst ausbauen können, was für ein reiches, soziales Feld da vor dir liegt.« Gerda Ebert sprach klug und fließend.

      Marietta war stehengeblieben. Sie kämpfte augenscheinlich, ob sie das, was sie bewegte, in Worte fassen wollte. Das Blut kam und ging in ihrem zarten Gesicht.

      »Nun?« fragte Gerda erstaunt. Sie blickte von der Kusine zu dem Schaufenster mit Lichten, Seifen, Waschpulvern und Bürsten, vor dem sie gerade haltgemacht. Was konnte denn die Kusine hier fesseln?

      »Es ist nicht allein Mangel an Selbstvertrauen, Gerda. Es ist vor allem der Entschluss über unsere Zukunft, den Fräulein Engelhart von uns verlangt und der mich beschwert. Du glaubst nicht, wie haltlos und unsicher es mich macht, daß ich jetzt vor eine Entscheidung gestellt bin.« Marietta schien erregt.

      Am Gegensatz dazu stand die ruhige Verwunderung der Gefährtin. »Entscheidung? Wir sind doch beide längst entschieden, welchen sozialen Zielen wir zustreben. Schon als Backfisch hast du davon geschwärmt, euren Plantagenarbeitern in Brasilien bessere Lebensmöglichkeiten zu schaffen, eine soziale Helferin der bedrückten Arbeiterklassen in Sao Paulo zu werden.«

      »Ja, davon habe ich früher stets geträumt, es mir als Zukunftsideal ausgemalt. Aber jetzt, wo ich den Weg dazu einschlagen soll, da sehe ich nur, daß er mich über das große Wasser zurückführt, fort von allem, was mir in den fünf Jahren meines Aufenthaltes in Europa teuer und lieb geworden ist. Es erscheint mir geradezu als Unmöglichkeit, wieder in die Tropen zurückzugehen.«

      »Kindchen, du weißt ja nicht, was du willst«, lachte sie die Kusine aus. »Brasilien ist doch deine Heimat, du hast deine Eltern, deine Geschwister in Sao Paulo. Und du tust, als ob du in die Fremde solltest.«

      »Ich bin dort fremd geworden, Gerda. Ich bin wohl niemals dort richtig daheim gewesen. Das ist mir erst zum Bewusstsein gekommen, als ich deutschen Boden betreten. Das mütterliche deutsche Blut in mir ist stärker als das väterliche. Als meine Eltern mich vor einem Jahr bei ihrem letzten europäischen Besuch wieder mit hinübernehmen wollten, habe ich sie himmelhoch gebeten, mich hier in Deutschland meine sozialen Studien vollenden zu lassen. Nur einen Aufschub wollte ich – und ich habe es ja auch durchgesetzt. Aber nun muß ich mich entscheiden. Was soll ich tun? Niemals war ich unentschlossener.«

      »Ich weiß immer, was ich will«, sagte Gerda kopfschüttelnd. »Ich habe stets der Gesundheitsfürsorge besonderes Interesse entgegengebracht. Meine Arbeit soll der Hebung der Volksgesundheit gehören. Willst du hier in Deutschland Fabrikpflegerin oder Beamtin an einem Arbeiterheim werden, wenn du nicht nach Brasilien zurückgehst?« Alles, was Gerda sagte, war klar und sachlich.

      Marietta schüttelte den Kopf. »Wenn ich hierbleibe, würde ich die Jugendfürsorge für mich als Beruf wählen. Ich habe es während der praktischen Arbeit in Gemeinschaft mit deiner Mutter erkannt, daß es besonders die Kinder sind, zu denen mich mein Herz zieht. Aber es kommt mir wie ein Verrat an unseren armen, brasilianischen Arbeitern vor.«

      »Ja, Kindchen,« – trotzdem Gerda die jüngere war, erschien sie als die überlegenere, – »ja, das mußt du mit dir allein abmachen. In so wichtigen Lebensfragen kann einem kein Mensch raten. Was ich an deiner Stelle täte, wüßte ich. Mich würde es viel mehr reizen, drüben in Brasilien soziale Hilfstätigkeit zu organisieren, Neues zu schaffen, als hier ausgetretenen Pfaden nachzugehen. Aber da kommt meine Elektrische. Überleg' es dir, Jetta – auf Wiedersehen morgen. Und grüße den Großpapa und die Großmama.«

      Das Letzte klang schon von der Plattform der sich in Bewegung setzenden Elektrischen herunter.

      Marietta blickte der zurückwinkenden Kusine nach. Ach, wer doch auch so sicher und unbeirrt seines Weges ginge! Warum wurde es ihr nur besonders schwer, das Rechte zu finden? Anita, ihre Zwillingsschwester, quälte sich niemals mit langen Überlegungen ab. Die tat das, was ihr gerade einfiel, und vor allem, was ihr gefiel. Und auch Kusine Gerda, mit der sie die ganzen Jahre über Freundschaft gehalten, schien nie im Zweifel zu sein über das, was sie wollte. Wer half ihr den richtigen Entschluss fassen?

      Die Großmama – Gerdas letztes Wort klang ihr noch im Ohr nach. Ja, die Großmama wußte immer zu helfen, so oft eins der Enkelkinder sich in Nöten befand. Galt es bei den Eltern etwas zu erbitten oder für ein schlechtes Zeugnis ein gutes Wort einzulegen, immer war es Großmamas liebevolles Herz, an das man sich wandte. Und besonders Marietta, die im Hause der Großeltern ihre Heimat auf deutschem Boden gefunden, verband innige Zuneigung mit der stets gütigen, alten Frau. Sie hatte ihr die fernen Eltern und Geschwister ersetzt, war ihr, trotz der Schulfreundinnen, stets die beste Freundin gewesen. Warum zögerte sie nur, sich, wie sie es sonst stets getan, in ihrer Bedrängnis an die Großmama zu wenden? Sich von ihr beraten zu lassen?

      Die


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