Weihnachtserzählungen - 308 Seiten. Charles DickensЧитать онлайн книгу.
vierzehn Tage später sagt er wiederum:
»Hier ist einer für Mrs. Edson. Befindet sie sich einigermaßen
wohl?«
wohl?«
»Sie befindet sich soweit wohl, Briefträger, aber nicht wohl
genug, um so früh wie sonst aufzustehen.« Und das entsprach
schließlich auch vollkommen der Wahrheit.
Ich brachte den Brief zum Major, der bei seinem Frühstück saß,
und ich sagte bebend:
»Major, ich habe nicht den Mut, ihn zu ihr hinaufzutragen.«
»Es ist ein übelaussehender Schurke von einem Brief«, sagt der
Major.
»Ich habe nicht den Mut, Major«, sagte ich wiederum zitternd,
»ihn zu ihr hinaufzutragen.«
Nachdem er einige Augenblicke lang nachgedacht zu haben
schien, sprach er, während er den Kopf aufrichtete, als ob ihm
ein neuer und zweckdienlicher Gedanke gekommen sei:
»Mrs. Lirriper, ich werde es mir niemals verzeihen, daß ich,
Jemmy Jackman, an jenem Morgen nicht mit meinem
Stiefelschwämmchen in der Hand hinaufging, es ihm in den Hals
stopfte und ihn auf der Stelle damit erstickte.«
»Major«, sagte ich ein wenig rasch, »Sie haben es nicht getan,
und das ist ein Glück, denn es wäre nichts Gutes dabei
herausgekommen, und ich glaube, Sie haben besser daran getan,
herausgekommen, und ich glaube, Sie haben besser daran getan,
Ihr Schwämmchen für Ihre Stiefel zu benutzen.«
So kamen wir denn dahin, die Sache vernünftig zu betrachten,
und faßten den Plan, daß ich an ihre Schlafzimmertür anklopfen,
den Brief auf die Matte davor niederlegen und auf dem oberen
Treppenabsatz abwarten sollte, was sich ereignen würde. Das tat
ich nun, und nie hat ein Mensch vor Schießpulver,
Kanonenkugeln, Granaten oder Raketen mehr Angst gehabt als
ich vor diesem entsetzlichen Brief, als ich ihn in das zweite
Stockwerk hinauftrug.
Ein furchtbarer Aufschrei gellte durch das Haus, wenige
Augenblicke nachdem sie den Brief geöffnet hatte, und ich fand
sie wie leblos auf dem Boden liegen. Meine Liebe, ich warf
keinen Blick auf den geöffnet neben ihr liegenden Brief, denn ich
hatte keine Zeit dazu.
Alles, was ich brauchte, um sie wieder zu sich zu bringen, trug
der Major mit eignen Händen herbei. Außerdem lief er nach
dem, was wir nicht im Hause hatten, zum Apotheker, und
schließlich bestand er das wildeste aller seiner vielen Scharmützel
mit einem Leierkasten, auf dem ein Tanzsaal dargestellt war, ich
weiß nicht in welchem Land, und darauf tanzende Paare, die mit
rollenden Augen durch eine Flügeltür aus und ein walzten. Als ich
nach langer Zeit wahrnahm, wie sie sich zu erholen begann, glitt
ich auf den Treppenabsatz hinaus, bis ich sie weinen hörte, und
dann ging ich hinein und sagte mit munterer Stimme: »Mrs.
dann ging ich hinein und sagte mit munterer Stimme: »Mrs.
Edson, Sie sind nicht wohl, meine Liebe, und das ist nicht zu
verwundern«, als wäre ich zuvor gar nicht drin gewesen. Ob sie
es mir glaubte oder nicht, das kann ich nicht sagen, und es
kommt auch nicht darauf an, aber ich blieb stundenlang bei ihr,
und dann flehte sie Gottes Segen auf mich herab und meinte, sie
wolle zu schlafen versuchen, denn der Kopf tue ihr weh.
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»Major«, flüsterte ich, zum ersten Stock hereinblickend, »ich
bitte Sie und flehe Sie an, gehen Sie nicht aus.«
Der Major flüsterte:
»Madam, seien Sie versichert, ich werde hierbleiben. Wie geht
es ihr?«
Ich sage darauf:
»Major, Gott der Herr über uns weiß allein, was in ihrer armen
Seele brennt und tobt. Ich verließ sie, während sie an ihrem
Fenster saß. Ich gehe, um mich an das meinige zu setzen.«
Es wurde Nachmittag, und es wurde Abend. In der Norfolk
Street wohnt es sich sehr schön – mit Ausnahme von weiter
unten –, aber an Sommerabenden, wenn die Straße staubig ist
und weggeworfenes Papier darauf herumliegt, wenn die Kinder
dort spielen und die staubig-heiße Luft still brütend darüberliegt,
während in der Nachbarschaft ein paar Kirchenglocken läuten,
ist sie ein wenig langweilig. Seit jenem Vorfall habe ich niemals zu
einer solchen Zeit auf die Straße blicken können und werde es in
alle Zukunft niemals tun können, ohne daß mir der langweilige
Juniabend in der Erinnerung aufsteigt, als dieses verlassene junge
Geschöpf an ihrem offenen Eckfenster im zweiten Stock und ich
an meinem offnen Eckfenster (an der andern Ecke) im dritten
Stock saß. Eine gnädige Macht, eine Macht, die bei weitem
weiser und besser war als ich selbst, hatte mir eingegeben,
solange es noch hell war, in Hut und Schal dazusitzen. Als die
Schatten fielen und die Flut stieg, konnte ich bisweilen sehen –
wenn ich den Kopf zum Fenster hinausstreckte und nach ihrem
Fenster unter mir blickte –, daß sie sich ein wenig hinauslehnte
und die Straße hinabschaute. Es wurde gerade dunkel, als ich sie
auf der Straße sah.
Von einer solchen Angst erfüllt, ich könnte sie aus den Augen
verlieren, daß sie mir noch jetzt, wo ich es erzähle, fast den Atem
benimmt, rannte ich, schneller als ich je in meinem ganzen Leben
gelaufen bin, die Treppe hinunter. Ich schlug nur einmal im
Vorübergehen mit der Hand an die Tür des Majors und schlüpfte
auf die Straße. Ich sah sie nicht mehr. Ich lief mit derselben
Schnelligkeit die Straße hinunter, und als ich an der Ecke der
Howard Street anlangte, sah ich, daß sie in diese eingebogen
war und vor mir nach Westen zu ging. Oh, mit welch
dankerfülltem Herzen sah ich sie dahinschreiten!
London war ihr gänzlich unbekannt, und sie war selten über die
London war ihr gänzlich unbekannt, und sie war selten über die
Umgebung unseres Hauses hinausgekommen. Sie hatte mit ein
paar kleinen Kindern aus der Nachbarschaft Bekanntschaft