Die Namenlosen. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.
es dir und geh dann zu Bett. Morgen kannst du hinüber nach Combe-Rven gehen und Mr. Vanstone diese Nachricht von mir überbringen: ‚Beste Grüße von meinem Vater, Sir, und ich bin in Ihre Hände zurückgekehrt wie ein falscher Shilling, wie er es immer gesagt hat. Er behält seine Guinee und nimmt Ihre fünf; und er hofft, Sie werden zur Kenntnis nehmen, was er Ihnen bei einer anderen Gelegenheit sagt.‘ Das ist die Nachricht. Mach’ die Tür hinter dir zu. Gute Nacht.“
Unter solchen unvorteilhaften Vorzeichen machte Mr. Francis Clare am nächsten Morgen auf dem Anwesen von Cobe-Raven seine Aufwartung; und da er ein wenig im Zweifel war, was für ein Empfang auf ihn warten mochte, näherte er sich nur langsam der Umgebung des Hauses.
Dass Magdalen ihn nicht gleich erkannte, als er zum ersten Mal im Blickfeld erschien, war nicht verwunderlich. Er war als zurückgebliebener Bursche von siebzehn Jahren weggegangen; jetzt kehrte er als zwanzigjähriger junger Mann zurück. Seine schlanke Gestalt hatte an Kraft und Anmut gewonnen, und er war zu einer Statur von mittlerer Größe herangewachsen. Die kleinen, ebenmäßigen Gesichtszüge, die er angeblich von seiner Mutter geerbt hatte, waren runder und voller geworden, ohne dass sie ihre Form von bemerkenswerter Zartheit verloren hätte. Sein Bart steckte noch in den Anfängen; sprießende Linien von Haaren suchten sich ihren bescheidenen Weg die Wangen hinab. Seine sanften, beweglichen braunen Augen hätten dem Gesicht einer Frau zu vorteilhafterem Aussehen verholfen – bei einem Mann hätten sie den passenden Geist und mehr Festigkeit erfordert. Seine Hände hatten die gleiche Gewohnheit zu wandern wie seine Blicke; sie wechselten unaufhörlich von einer Haltung zur anderen, drehten und wendeten jedes verlorene kleine Ding, das sie aufgreifen konnten. Er war unbestreitbar gutaussehend, elegant und wohlerzogen – aber niemand konnte ihn näher beobachten, ohne den Verdacht zu hegen, dass der robuste alte Familienstamm sich in den letzten Generationen abgenutzt hatte und dass Mr. Francis Clare vom Schatten seiner Vorfahren mehr in sich trug als von ihrer Substanz.
Als das von seinem Erscheinen verursachte Erstaunen sich teilweise gelegt hatte, wurde eine Suche nach dem fehlenden Bericht eingeleitet. Man fand ihn schließlich in den hintersten Winkeln von Mr. Vanstones Rocktasche, und er wurde von dem Gentleman auf der Stelle vorgelesen.
Die nackten Tatsachen, wie der Ingenieur sie darlegte, waren, kurz gesagt, folgende: Frank sei nicht im Besitz der notwendigen Fähigkeiten, deren er für seine neue Tätigkeit bedurfte; es sei nutzlos, Zeit zu vergeuden und ihn länger in einer Beschäftigung festzuhalten, für die er keine Berufung hatte. Da dies nach der dreijährigen Probezeit die Überzeugung beider Seiten sei, habe der Dienstherr es für die einfachste Vorgehensweise gehalten, wenn der Schüler nach Hause fuhr und die Ergebnisse seinem Vater und seinen Freunden aufrichtig darlegte. Bei einer anderen Tätigkeit, für die er besser geeignet sei und größeres Interesse aufbringe, werde er zweifellos den Fleiß und die Ausdauer an den Tag legen, die zu praktizieren er in dem nunmehr aufgegebenen Beruf nicht den Mut gehabt habe. Persönlich hätten ihn alle gemocht, die ihn kannten; und sein zukünftiges Wohlergehen sei von Herzen der Wunsch der vielen Freunde, die er im Norden gefunden hätte. Das war der wesentliche Inhalt des Berichts, und damit war er zu Ende.
Viele Menschen wären der Ansicht gewesen, dass die Aussagen des Ingenieurs allzu sorgfältig formuliert waren; und da sie den Verdacht gehabt hätten, dass er sich bemühte, aus einem schlimmen Fall das Beste zu machen, hätten sie, was Franks Zukunft anging, ernsthafte Zweifel gehegt. Mr. Vanstone war zu gutmütig und lebhaft – und auch zu sehr darauf bedacht, seinem alten Gegenspieler keinen Zoll mehr an Terrain abzugeben, als es unumgänglich war –, als dass er den Brief unter derart unvorteilhaften Gesichtspunkten betrachtet hätte. War es Franks Schuld, wenn er nicht den Stoff in sich trug, aus dem Ingenieure gemacht sind? Begannen nicht auch andere junge Männer ihr Leben mit einem Fehlstart? Viele fingen doch so an, kamen darüber hinweg und wirkten später Wunder. Mit solchen Kommentaren über den Brief klopfte der gutherzige Gentleman Frank auf die Schulter. „Kopf hoch, mein Lieber!“, sagte Mr. Vanstone. „Wir werden in den nächsten Tagen sogar mit deinem Vater ins Reine kommen, auch wenn er dieses Mal tatsächlich die Wette gewonnen hat!“
Dem Beispiel, das der Hausherr auf diese Weise gegeben hatte, folgte sofort die ganze Familie – mit einer einzigen Ausnahme: Norah brachte ihre unheilbare Förmlichkeit und Zurückhaltung gegenüber dem Besucher mit einem nicht allzu eleganten, distanzierten Betragen zum Ausdruck. Die anderen, allen voran Magdalen (die in früheren Zeiten Franks liebste Spielkameradin gewesen war) verfielen wieder mühelos in den gewohnten, unbefangenen Umgang mit ihm. Für alle war er „Frank“, außer für Norah, die darauf beharrte, ihn mit „Mr. Clare“ anzureden. Nicht einmal der Bericht über den Empfang durch seinen Vater am Abend zuvor, den zum Besten zu geben er jetzt aufgefordert wurde, konnte Norahs Ernst erschüttern. Sie saß da, das dunkle, hübsche Gesicht unverrückbar abgewendet, den Blick gesenkt, die üppige Farbe ihrer Wangen wärmer und tiefer als gewöhnlich. Alle anderen, eigeschlossen auch Miss Garth, fanden die Willkommensansprache des alten Mr. Clare an seinen Sohn unwiderstehlich komisch. Der Lärm und die Fröhlichkeit waren auf ihrem Höhepunkt, als ein Diener hereinkam und die ganze Gesellschaft mit der Ankündigung verblüffte, im Salon seien Besucher. „Mr. Marrable, Mrs. Marrable und Miss Marrable; Evergreen Lodge, Clifton.“
Norah erhob sich so bereitwillig, als seien die Neuankömmlinge eine Erleichterung für ihre Seele. Als Nächste stand Mrs. Vanstone von ihrem Stuhl auf. Die beiden gingen als Erste hinaus, um die Besucher zu empfangen. Magdalen, die lieber mit ihrem Vater und Frank zusammengewesen wäre, bettelte darum hierbleiben zu dürfen; aber nachdem Miss Garth ihr eine Gnadenfrist von fünf Minuten gewährt hatte, nahm sie die junge Frau in ihre Obhut und marschierte mit ihr aus dem Zimmer. Frank erhob sich und wollte gehen.
„Nein, nein“, sagte Mr. Vanstone und hielt ihn zurück. „Geh’ nicht. Diese Leute werden nicht lange bleiben. Mr. Marrable ist Kaufmann in Bristol. Ich habe ihn ein- oder zweimal getroffen, als die Mädchen mich gezwungen haben, mit ihnen nach Clifton auf Empfänge zu gehen. Entfernte Bekannte, mehr nicht. Komm’ und rauche mit mir im Gewächshaus eine Zigarre. Man sollte alle Besucher aufhängen – sie machen einem nur das Leben schwer. Ich werde mit einer Ausrede im letzten Augenblick erscheinen; du folgst mir in sicherer Entfernung und bist der lebende Beweis, dass ich wirklich beschäftigt war.“
Während Mr. Vanstone in verschwörerischem Flüsterton diese geniale Strategie vorschlug, griff er nach Franks Arm und führte ihn durch den Hinterausgang auf die Rückseite des Hauses. In der Abgeschiedenheit im Gewächshaus vergingen die ersten zehn Minuten, ohne dass sich irgendetwas ereignete. Am Ende des Zeitraumes sahen die beiden Gentlemen durch das Glas eine Gestalt in heller Kleidung auf sich zueilen – die Tür flog auf – Blumentöpfe fielen in Huldigung der vorüberkommenden Röcke um – und Mr. Vanstones jüngste Tochter lief mit überstürzter Geschwindigkeit auf ihn zu; ihr ganzes äußeres Erscheinungsbild deutete darauf hin, dass ihre Sinne sie plötzlich verlassen hatten.
„Papa, der Traum meines ganzen Lebens ist wahr geworden“, sagte sie, sobald sie wieder sprechen konnte. „Wenn mich nicht jemand festhält, fliege ich gleich durch das Dach des Gewächshauses. Die Marrables sind mit einer Einladung gekommen. Rate mal, mein Lieber – rate mal, was sie in Evergreen Lodge veranstalten wollen!“
„Einen Ball!“, sagte Mr. Vanstone, ohne auch nur einen Moment zu zögern.
„Private Theateraufführungen!!“, schrie Magdalen, wobei ihre klare junge Stimme durch das Gewächshaus tönte wie eine Glocke; ihre lockeren Ärmel fielen zurück und entblößten die runden weißen Arme bis zu den Grübchen der Ellenbogen, als sie die Hände in der Luft begeistert zusammenklatschte. „‚Die Rivalen‘, so heißt das Stück, Papa – ‚Die Rivalen‘ von dem berühmten Wie-heißt-er-doch-gleich, und sie wollen, dass ICH mitspiele! Das, wonach ich mich unter allen Dingen im Universum am meisten sehne. Es hängt alles von dir ab. Mama schüttelt den Kopf; Miss Garth durchbohrt mich mit ihren Blicken; und Norah ist so sauer wie immer – aber wenn du ja sagst, müssen sie alle drei nachgeben und mich machen lassen. Sag’ ja!“, bettelte sie, wobei sie sich sanft an ihren Vater schmiegte und ihre Lippen mit liebevoller Zartheit auf sein Ohr drückte, während sie die nächsten Worte flüsterte: „Sag’ ja, und ich will von jetzt an immer ein braves Mädchen sein.“
„Ein braves Mädchen?“, wiederholte Mr.