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Die Namenlosen. Уилки КоллинзЧитать онлайн книгу.

Die Namenlosen - Уилки Коллинз


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von sanftester guter Erziehung: Sie beherrschte jede platte Konventionalität der englischen Sprache – aber Katastrophen und dramatische Eindrücke gemeinsam brachten selbst diese harmlose Hausmutter aus dem Gleichgewicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben ließ sich Mrs. Marrable zu ungestümen Gesten hinreißen und bediente sich einer energischen Sprache. Ernst und auf Armeslänge reichte sie den Brief ihrer Tochter. „Mein Liebling“, sagte sie mit einem Hauch von entsetzlicher Gefasstheit, „wir stehen unter einem Fluch.“ Noch bevor die verblüffte Theatertruppe um eine Erklärung bitten konnte, drehte sie sich um und verließ den Raum. Die professionellen Blicke des Schauspieldirektors folgten ihr voller Respekt – es sah aus, als heiße er den Abgang aus theatralischer Sicht gut.

      Welches neue Missgeschick war über die Theateraufführung hereingebrochen? Das letzte und schlimmste aller Missgeschicke hatte sie ereilt. Die stämmige Dame hatte ihre Rolle zurückgegeben.

      Es war nicht aus Boshaftigkeit geschehen. Ihr Herz, das die ganze Zeit am rechten Fleck gewesen war, blieb auch jetzt unbeugsam an seinem Platz. Das bewiesen zumindest ihre Erklärungen der Umstände. Der Brief begann mit einer Feststellung: Sie hatte bei der letzten Probe (ganz unabsichtlich) persönliche Bemerkungen mitgehört, deren Gegenstand sie war. Sie könnten sich auf ihre – Haare – und ihre – Figur – bezogen haben oder auch nicht. Sie wolle Mrs. Marrable nicht dadurch bekümmern, dass sie die Worte wiederholte. Ebenso werde sie keine Namen nennen, denn Schlimmes noch schlimmer zu machen, sei ihrem Wesen fremd. Die einzige Handlungsweise, die sich mit ihrer Selbstachtung vereinbaren lasse, sei der Rücktritt von der Rolle. Entsprechend füge sie diese für Mrs. Marrable bei mit vielmaliger Entschuldigung, dass sie sich angemaßt habe, in ihrem – wie ein Gentleman es mit Vergnügen bezeichnen würde: Alter – eine jugendliche Rolle zu übernehmen, und das mit den Nachteilen, wie zwei Damen es unhöflicherweise genannt hätten, von – Haaren und Figur. Man werde zweifellos eine jüngere, attraktivere Darstellerin der Julia finden. Gleichzeitig verzeihe sie vollständig allen betroffenen Personen, wozu sie nur noch ihre besten und freundlichsten Wünsche für den Erfolg des Stückes hinzuzufügen habe.

      Das Stück sollte in vier Tagen aufgeführt werden. Wenn jemals eine Unternehmung von Menschen der guten Wünsche bedurft hatte, dann war es zweifellos die Theaterunterhaltung in Evergreen Lodge!

      Ein Sessel wurde auf die Bühne gebracht. In diesen Sessel sank Miss Marrable in Vorbereitung eines Anfalls von Hysterie. Bei den ersten Zuckungen trat Magdalen vor, riss Miss Marrable den Brief aus der Hand und hielt die drohende Katastrophe auf.

      „Sie ist eine hässliche, kahlköpfige, boshafte alte Hexe!“, sagte Magdalen, riss den Brief in Stücke und warf sie über die Köpfe der Truppe. „Aber eines kann ich ihr sagen – sie wird die Aufführung nicht verderben. Ich werde die Julia spielen.“

      „Bravo!“, rief der Chor der Gentlemen – und am lautesten (neben Mr. Francis Clare) rief der anonyme Gentleman, der zu dem Unheil beigetragen hatte.

      „Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, ich schrecke nicht davor zurück, sie einzugestehen“, fuhr Magdalen fort. „Ich bin eine von den Damen, die sie meint. Ich habe gesagt, sie hätte einen Kopf wie einen Wischmopp und eine Taille wie eine Nackenrolle. Und das stimmt auch.“

      „Ich bin die andere Dame“, sagte die blaustrümpfige Verwandte. „Aber ich habe nur gesagt, sie sei zu stämmig für die Rolle.“

      „Ich bin der Gentleman“, stimmte Frank, angeregt durch das Vorbild, ein. „Ich habe nichts gesagt – ich habe nur den Damen zugestimmt.“

      Jetzt ergriff Miss Garth die Gelegenheit und wandte sich vom Zuschauerraum aus lautstark an die Bühne.

      „Halt! Halt!“, sagte sie. „Auf diese Weise können Sie die Schwierigkeiten nicht beilegen. Wenn Magdalen die Julia spielt, wer spielt denn dann die Lucy?“

      Miss Marrable sank wieder in den Sessel und gab sich dem zweiten Anfall hin.

      „Dummes Geschwätz!“, rief Magdalen. „Das ist doch ganz einfach. Ich werde sowohl die Julia als auch die Lucy spielen.“

      Sofort wurde der Schauspieldirektor befragt. Lucys ersten Auftritt wegzulassen und den kurzen Dialog über die Romane zu einem Monolog der Lydia Languish zu machen, waren anscheinend die einzigen nennenswerten Veränderungen, die notwendig waren, um Magdalens Vorhaben in die Tat umzusetzen. Lucys beide Szenen am Ende des ersten und zweiten Aktes waren von Julias Auftritten so weit entfernt, dass Julia selbstverständlich die Zeit für den notwendigen Wechsel der Kleidung haben würde. Und obwohl Miss Garth sich alle Mühe gab, fand auch sie keine neuen Hindernisse, die sie hätte in den Weg legen können. Die Frage war in fünf Minuten geklärt, und die Probe wurde fortgesetzt; Magdalen lernte Julias Auftritte mit dem Buch in der Hand und gab anschließend auf dem Heimweg bekannt, sie werde die ganze Nacht aufbleiben und die neue Rolle studieren. Daraufhin brachte Frank seine Befürchtung zum Ausdruck, sie werde keine Zeit mehr haben, um ihm über seine theatralischen Schwierigkeiten hinwegzuhelfen. Sie klopfte ihm kokett mit ihrem Rollenbuch auf die Schulter. „Du dummer Junge, wie soll ich denn ohne dich zurechtkommen? Du bist Julias eifersüchtiger Liebhaber; du bringst Julia immer zum Weinen. Komm’ heute Abend und bring’ mich beim Tee zum Weinen. Du musst jetzt nicht mehr mit einer giftigen alten Frau mit Perücke spielen. Du sollst mir das Herz brechen – und natürlich werde ich dir beibringen, wie man das macht.“

      Die vier verbliebenen Tage vergingen voller Geschäftigkeit mit ständigen öffentlichen und privaten Proben. Der Tag der Aufführung kam; die Gäste trafen ein; das große dramatische Experiment stand vor seiner Bewährungsprobe. Magdalen hatte aus den Gelegenheiten das Beste gemacht; sie hatte alles gelernt, was der Schauspieldirektor ihr in der kurzen Zeit hatte beibringen können. Miss Garth verließ sie, als die Ouvertüre begann. Magdalen saß abseits in einer Ecke hinter der Bühne, ernst und schweigend, die Riechflasche in der einen Hand, das Buch in der anderen, und übte entschlossen bis zuletzt für die bevorstehende Bewährungsprobe.

      Das Stück begann mit allen obligatorischen Begleiterscheinungen einer Theateraufführung im privaten Rahmen: mit einem überfüllten Zuschauerraum, afrikanischen Temperaturen, platzenden heißen Lampengläsern und Schwierigkeiten beim Hochziehen des Vorhangs. „Fag“ und „der Kutscher“ wurden in der Eröffnungsszene von ihrer Erinnerung verlassen, sobald sie die Bühne betraten; sie ließen die Hälfte ihres Dialogs unausgesprochen; legten eine lange Pause ein; wurden von dem unsichtbaren Schauspieldirektor hörbar zum „Weitermachen“ aufgefordert, und waren bei ihrem entsprechenden Abgang in jeder Hinsicht traurigere und klügere Männer als zuvor. Die nächste Szene zeigte Miss Marrable als „Lydia Languish“: anmutig sitzend, sehr hübsch und wunderschön gekleidet, beherrschte sie jedes Wort ihrer Rolle und besaß, kurz gesagt, alle persönlichen Fähigkeiten – außer ihrer Stimme. Die Damen bewunderten, die Herren applaudierten. Niemand hörte etwas außer den Worten „Sprechen Sie, Miss“, geflüstert von derselben Stimme, die zuvor schon „Fag“ und den „Kutscher“ zum „Weitermachen“ aufgefordert hatte. Unter den jüngeren Zuschauern erhob sich daraufhin ein Gekicher, das sofort durch großmütigen Applaus eingedämmt wurde. Die Temperatur unter den Zuschauern stieg zum Siedepunkt – aber das nationale Gespür für Fairness war noch nicht aus ihnen herausgekocht.

      Inmitten des ganzen Spektakels hatte Magdalen in aller Stille ihren ersten Auftritt als „Julia“. Sie war sehr schlicht in dunkle Farben gekleidet und trug ihre eigenen Haare; alle Bühnenhilfsmittel und Abwandlungen (mit Ausnahme des geringstmöglichen Hauches von Rouge auf den Wangen) hatte man sich aufgespart, um sie in ihrer zweiten Rolle umso wirkungsvoller verkleiden zu können. Die Anmut und Einfachheit ihres Kostüms, das ruhige Selbstbewusstsein, mit dem sie den Blick über die Reihen gespannter Gesichter vor sich schweifen ließ, gaben den Anlass zu einem leisen Summen der Zustimmung und Erwartung. Sie sprach – nachdem sie ein vorübergehendes Zittern unterdrückt hatte – mit einer ruhigen Deutlichkeit der Aussprache, die alle Ohren erreichte und den vorteilhaften Eindruck, den schon ihr Auftritt geweckt hatte, bestätigte. Die Einzige im Publikum, die ihr kühl zusah und zuhörte, war ihre ältere Schwester. Die Schauspielerin des Abends stand noch keine fünf Minuten auf der Bühne, da bemerkte Norah zu ihrem eigenen unbeschreiblichen Erstaunen, dass Magdalen der Gestalt der „Julia“ und ihrer zarten Liebenswürdigkeit kühn einen


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