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Nesthäkchen im Kinderheim. Else UryЧитать онлайн книгу.

Nesthäkchen im Kinderheim - Else Ury


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in dem Doktor Braun wohnte.

      Der Hausmeister stand im Vorgärtchen und beschnitt die Sträucher. Als er sah, daß die Dame sich vergeblich mühte, die Kleine von Doktors aus dem Wagen zu heben, sprang er herzu und trug Annemarie auf seinen Armen die Treppe hinauf. Denn selbst der Hausmeister hatte das freundliche Kind in sein Herz geschlossen.

      O weh – was bekam Frau Doktor Braun für einen Schreck, als ihr Nesthäkchen ihr so nach Hause gebracht wurde. Nachdem sich Fräulein Hering mit den besten Wünschen für die kleine Patientin, die Fräulein inzwischen zu Bett gebracht hatte, empfohlen, legte die Mutter als tüchtige Doktorfrau sofort das Thermometer ein. Das schnellte fast bis vierzig Grad empor.

      Um Himmelswillen – was war mit dem Kinde? So hoch hatte Annemarie noch nie gefiebert. Die geängstigte Mutter eilte ans Telefon, ihren Mann aus seiner Klinik herbeizurufen.

      Bald stand Doktor Braun an dem Bett seines Kindes und untersuchte es eingehend. Zuerst erkannte es den Vater gar nicht, sondern hielt ihn für den Hausmeister. Aber als der Vater ihr seine kühle Hand auf die brennende Stirn legte und zärtlich sagte: »Meine dumme, kleine Lotte, das war nicht nötig gewesen!« da schlug Annemarie die Augen auf und sah den Vater mit unklarem Blick an.

      »Mir tut mein Hals so doll weh!« wimmerte sie. Dann verschwommen Vaters blonder Bart mit dem Kornblumenmuster der Tapete – Annemarie tauchte wieder unter in die Welt der Fieberträume.

      Sie hörte nicht die ernsten Worte, die der Vater zu der vor Aufregung blassen Mutter sprach: »Unsere Lotte ist sehr krank – sie hat Scharlach. Der Körper zeigt bereits die kennzeichnenden Flecke. Es ist unmöglich, daß wir das Kind im Hause behalten. Erstens der beiden Jungen wegen, und zweitens wegen der Ansteckungsgefahr für meine in die Sprechstunde kommenden Patienten. Ich muß das Kind, so schwer es mir wird, aus dem Hause geben und nach meiner Klinik bringen lassen.«

      Da aber begann Frau Doktor Braun zu jammern: »Was, mein Nesthäkchen, meine Lotte soll ich fortgeben, wenn sie so krank ist – nein, Edmund, das bringe ich nicht übers Herz. Ich trenne mich nicht von meinem Kinde, dann siedele ich mit ihr in die Klinik über.«

      »Daran habe ich auch gedacht, Elsbeth. Aber du bist dann für viele Wochen von unserm Hause und den Jungen vollständig getrennt. Annemarie bedarf deiner nicht, ich würde ihre Pflege Schwester Elfriede übergeben. Besser als bei der kann sie selbst bei der eigenen Mutter nicht aufgehoben sein. Und denke nur, wie Klaus in deiner Abwesenheit verwildern würde, vor Fräulein hat der Schlingel wenig Respekt. Und ich selbst bin doch nur während der Mahlzeiten und der Sprechstunden zu Hause. Ich komme ja täglich zweimal in die Klinik und sehe nach dem Kinde. Mit Gottes Hilfe bringe ich dir unsere Lotte ganz gesund wieder heim.« So überzeugungsvoll klang es aus dem Munde des Arztes, daß seine Frau sich schweren Herzens in das Unvermeidliche fügte.

      Annemarie ahnte nichts von dem, was über ihre nächste Zukunft bestimmt wurde. Sie hörte nicht, daß Vater telefonisch einen Krankenwagen bestellte. Unruhig wälzte sie sich in ihren Kissen umher, stöhnte und wimmerte von Zeit zu Zeit. Auch als Vater sie, in Decken und Kissen verpackt, aus ihrem Kinderzimmer trug, um sie in den unten bereitstehenden Krankenwagen zu bringen, schlug sie die Augen nicht auf.

      Mit tränenverschleierten Blicken sah Mutti ihr Nesthäkchen, von dem sie sich kaum jemals im Leben getrennt hatte, an sich vorübertragen. Ihre Hände falteten sich in Herzensangst, und ein inbrünstiges Gebet stieg aus gepreßtem Mutterherzen zum Allvater empor: »Lieber Gott, erhalte sie mir, – gib mir meine Lotte gesund wieder!«

      Fräulein, das gute Gesicht selbst von Tränen benetzt, stützte Frau Doktor Braun. Ihr war es nicht viel leichter ums Herz als der Mutter, hatte sie doch Annemarie von klein auf unter ihrer treuen Obhut gehabt. Wie gern wäre sie mit in die Klinik gegangen und hätte die kleine Kranke gepflegt. Aber Doktor Braun meinte, eine Berufspflegerin sei besser am Platz.

      Durch die Türspalte lugten Hans und Klaus mit erregten, ängstlichen Gesichtern. Köchin Hanne aber, die schon seit Annemaries Geburt im Hause war, schluchzte zum Gotterbarmen, daß man ihnen ihr Kind fortnahm. Auch Puck, das kleine Zwerghündchen, Annemaries lustiger Gespiele, empfand die Schwere der Stunde. Er lief bis zum ersten Treppenabsatz hinter seinem Herrn her und kroch dann leise winselnd zurück zu Frau Doktor, der er tröstend die Hand leckte.

      »Selbst das unvernünftige Vieh weint um unser Kind!« schluchzte Hanne und wischte sich das nasse breite Gesicht mit dem blauen Schürzenzipfel.

      Gerade als Annemarie in den Wagen mit dem roten Kreuz gebettet wurde, kam Margot Thielen aus der Schule. Mit entsetzten Augen sah sie den Menschenauflauf, der sich neugierig vor dem Haus zusammengefunden. Brachte man da die Annemie nicht fort? O Gott – so schlimm stand es also mit ihr?

      Tage vergingen, ohne daß die kleine Patientin das Bewußtsein wieder erlangte. Immer sorgenvoller wurden Doktor Brauns Mienen, wenn er aus dem großen Krankensaal in das Privatzimmer seiner Klinik schritt, in das er sein Töchterchen gelegt. Kaum vermochte er seiner armen Frau, die voll Bangen auf seine Berichte wartete, Trost und Zuversicht zu spenden. Sollte er mit all seiner ärztlichen Kunst und Sorgfalt, die schon so vielen geholfen, nicht auch seinen Liebling erhalten können?

      Der Zensurentag, vor dem Annemarie heimlich gebangt, war inzwischen herangekommen. Margot, die sich täglich nach dem Befinden ihrer kranken Freundin erkundigte, hatte Annemaries Zeugnis mit nach Haus gebracht. Den ersten Platz hatte Annemarie allerdings räumen müssen. Marlene Ulrich hatte ihn errungen. Annemarie war die Dritte geworden, aber im Betragen stand »lobenswert«. Nun hätte sie ihre Kindergesellschaft geben können, wenn – ja, wenn nicht eben alles ganz anders gekommen wäre.

      Durch das unverhangene Fenster blinzelte die Aprilsonne in das Krankenzimmer. Seit acht Tagen gab sie sich redlich Mühe, die schönsten goldenen Kringel und Sterne an die weißgetünchte Wand zu malen, um das kranke kleine Mädchen zu erfreuen. Doch das hatte dessen nicht acht. Es machte seine Augen nicht auf.

      Aber heute – die goldenen Strahlenbeinchen der Sonne vollführten einen Luftsprung vor Freude – heute hatte die Annemarie zum erstenmal ihre Blauaugen geöffnet. Verwundert sah sie sich in der fremden Umgebung um.

      Nanu – was war denn mit ihrer Kinderstube vorgegangen? Die hatte doch früher schöne blaue Kornblumentapete gehabt? Und wo war denn ihr weißes Kindertischchen, ihr Pult, die Puppenecke und das Wandbrett mit all ihren Spielsachen hingekommen? Kahle weiße Wände, wohin sie auch blickte. Und der Baum, dessen Zweige der Wind gegen die Scheiben schlug, war doch früher auch nicht vor ihrem Kinderstubenfenster gewesen?

      Annemarie versuchte nachzudenken. Doch der Kopf war ihr so wüst, als ob alle Gedanken darin durcheinandergewirbelt wären. Da tat sie das, was ein Kind immer tut, wenn es sich keinen Rat weiß, sie rief weinerlich »Mutti«.

      Aber keine Mutti kam. Schwester Elfriede, welche hinausgegangen war, um eine Tasse Milch für die kleine Patientin zu holen, eilte auf das laute Schreien: »Mutti – Fräulein – Mutti!« schnell an das Bett ihrer Pflegebefohlenen zurück.

      »Still, Herzchen, weine nicht« – freundlich strich die Schwester über Annemaries Locken, die ebenso wirr waren wie ihre Gedanken.

      Doktors Nesthäkchen hielt jäh im Weinen inne. Die großen blauen Augen, die in dem schmalgewordenen Kindergesicht noch größer erschienen, weiteten sich vor Staunen unnatürlich.

      Wer war denn das? Die kannte sie doch gar nicht. Wo hatte sie bloß schon mal jemand gesehen, der solch blauweiß gestreiftes Kleid und solch ein weißes Häubchen getragen hatte? Die Kleine konnte sich nicht darauf besinnen, denn der Kopf schmerzte sie noch immer. Hatte sie irgendeine böse Fee verzaubert, wie das in ihren Märchenbüchern öfters vorkam?

      Inzwischen führte Schwester Elfriede dem kleinen Mädchen die Tasse Milch zum Munde.

      »Trink, Herzchen.«

      Aber Annemarie stieß die Hand mit der Milch fort: »Nein – nein, Mutti soll kommen oder Fräulein!« sie begann aufs neue zu weinen.

      »Ei, Annemarie, wenn du schön brav bist und deine Milch trinkst, dann kommt bald der Papa, in einer halben Stunde ist er hier,« tröstete die sanfte Schwester.

      Papa


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