Nesthäkchen im Kinderheim. Else UryЧитать онлайн книгу.
wurde ruhiger und trank ihre Milch.
Dann lag sie wieder ganz still in dem Gefühl lähmender Mattigkeit, die nach tagelangem hohen Fieber einzutreten pflegt. Durch die langen Wimpern blinzelnd, sah sie zu, wie die Fremde in dem blauweißgestreiften Kleid die gebrauchten Gegenstände säuberte.
Ach – es wurde plötzlich heller in Annemaries dämmernden Gedanken – das war sicher das neue Hausmädchen, das zu Ostern zuziehen sollte.
»Heißen Sie auch Frieda?« fragte sie. Denn so hatte die frühere geheißen.
»Nein, aber Elfriede«, lautete die freundliche Antwort. Die Schwester sprach mit Willen möglichst wenig mit dem kranken Kinde, um das gesunkene Fieber nicht wieder zu steigern.
»Waren Sie früher auch bei Kindern?« Annemaries Interesse an der Neuen war geweckt.
»Ja, ab und zu, wie es sich gerade machte.«
»Woher sind Sie denn?«
»Aus Berlin.«
Annemarie wunderte sich sehr. Die Mädchen, die sie sonst gehabt, waren aus Pommern, Schlesien oder Ostpreußen gewesen.
»Werden Sie sich auch mit Hanne vertragen? Unsere frühere Frieda hat sich oft mit ihr verkracht. Aber sie meint es nicht böse, die Hanne, wenn sie auch manchmal schimpft.«
Schwester Elfriede sah das Kind aufmerksam an. Fieberte es etwa schon wieder? Unter ihrem prüfenden Blick kam Annemarie wieder das Gefühl des Fremdseins, das sie während der Unterhaltung fast vergessen.
»Hanne soll kommen, wenn Mutti und Fräulein fortgegangen sind – ach bitte, bitte, rufen Sie wenigstens Hanne herein.«
»Hanne ist auch nicht hier, mein Herzchen – schlaf noch ein bißchen, und wenn du aufwachst, ist der Papa da«, redete ihr die Schwester zu.
Aber davon wollte die kleine Patientin nichts hören. Es begann wieder weinerlich um ihre Mundwinkel zu zucken. Denn Doktors Nesthäkchen war bei all seiner Liebenswürdigkeit ein etwas verwöhntes junges Fräulein. Und durch die Krankheit kam dies noch mehr zum Ausdruck.
Wieder begann ein lautes Rufen nach Mutti, Fräulein und Hanne – Schwester Elfriede stand ratlos. All ihre freundlichen Worte wollten nichts nützen.
Zum Glück war es gerade die Zeit für Doktor Brauns Nachmittagsbesuch in der Klinik. Sein erster Weg galt natürlich seinem Kinde.
Auf dem Flur schon vernahm der Arzt das Weinen und Rufen seines kranken Nesthäkchens. War es endlich bei Besinnung? War eine Besserung eingetreten?
Mit hastigem Schritt öffnete er die Tür.
»Vatchen –« das weinende Gesichtchen verklärte sich förmlich – »Vatchen, liebes Vatchen!« Annemarie klammerte sich fest an Vaters Hand.
Aber auch Doktor Brauns Gesicht sah verklärt drein. Ein Blick ließ den erfahrenen Arzt sofort die Wendung zum Guten erkennen.
»Lotte, dumme kleine Lotte, warum weinst du denn?« zärtlich wischte er seinem Liebling die Tränen von den bleich gewordenen Wangen.
»Weil – weil Mutti und Fräulein fortgegangen sind, und weil die neue Elfriede nicht mal Hanne rufen will. Und denn – meine Kinderstube sieht ja so komisch aus – ganz anders – nein, wirklich, Vatchen, der Baum da vorm Fenster muß über Nacht gewachsen sein.«
Doktor Braun und Schwester Elfriede sahen sich lächelnd an. Dann begann der Arzt die Untersuchung.
»Bin ich denn krank?« verwunderte sich Annemarie.
»Ja, mein Liebling, du warst sehr krank und hast uns große Sorgen gemacht. Aber nun wird meine Lotte mit Gottes Hilfe bald gesund werden, wenn sie brav folgt und nicht weint und nach Mutti ruft. Schwester Elfriede sorgt ja so lieb für dich – – –«
»Schwester Elfriede – ist denn das nicht unser neues Hausmädchen?« Annemarie fragte es flüsternd.
Da aber konnte der Vater ein Lachen nicht zurückhalten. Es war ja das erste mal seit Tagen, daß es ihm wieder leichter ums Herz war, daß er überhaupt zu lachen vermochte. Auch Schwester Elfriede stimmte mit ein.
»Nein, Lotte« – der Vater hielt es für das richtigste, der Kleinen die Wahrheit zu sagen. »Das ist Schwester Elfriede, die sehr lieb mit dir ist und dich gesund pflegen wird. Ich habe dich in meine Klinik nehmen müssen, damit die Jungen nicht auch noch Scharlach bekommen, und all meine Patienten dazu.«
Hatte Schwester Elfriede gedacht, daß auf diese Eröffnung hin eine neues Weinen erfolgen würde, so hatte sie sich gründlich geirrt.
»In deiner Klinik bin ich?« Mit glückseligen Augen blickte sich Annemarie in dem fremden Raum um. Ach, das war ja schon von jeher ihr sehnlichster Wunsch gewesen, mal in Vaters Klinik krank zu sein – und nun noch gar an Scharlach, nicht nur an Masern oder Windpocken, die jedes Kind bekam. Das dumme kleine Mädel war unsagbar stolz darauf.
»Das ist fein, Vatchen, daß ich in deiner Klinik sein darf, das habe ich mir schon immer mal gewünscht. Kommt Mutti bald und besucht mich?«
Der Vater zögerte einen Augenblick.
»Vorläufig nicht, mein Herzchen, Mutti darf wegen der Ansteckung nicht zu dir. Aber sie wird dir einen langen Brief schreiben.«
»Das ist ja noch viel feiner« – Annemarie hatte noch nie einen Brief von Mutti bekommen. »Und Fräulein und Hänschen und Kläuschen sollen mir auch schreiben, und – und Hanne auch.« Immer leiser war die Stimme der kleinen Kranken geworden. Sie wollte gern noch Mutti grüßen lassen, doch sie kam nicht mehr dazu. Ihre Augenlider waren wieder zugeklappt, denn die Schwäche war noch recht groß.
Aber das war jetzt kein unruhiger Fieberschlummer mehr, das war Genesungsschlaf. Ein Weilchen verweilte Doktor Braun noch am Bett seines Nesthäkchens, dann ging er glücklichen Herzens, seiner Frau die frohe Botschaft von der eingetretenen Besserung zu melden.
3. Kapitel
Der zehnte Geburtstag
Ja, nun ging es vorwärts. Langsam zwar, so langsam, daß die ungeduldige Annemarie glaubte, sie würde überhaupt nicht mehr aus ihrem »Käfig« herausgelassen. Die Freude, in Vaters Klinik zu sein, legte sich bald. Denn mit den allmählich wiederkehrenden Kräften kam die alte Lebhaftigkeit zurück, und damit die Qual des Stilliegenmüssens für den Wildfang.
So lieb Schwester Elfriede auch zu ihr war, die Sehnsucht nach der Mutter machte sich doch bald bemerkbar. Gerade ein krankes Kind bangt sich nach einem zärtlichen Mutterwort. Zwar schrieb Mutti täglich ein Briefchen voll Sehnsucht und Liebe an ihre kranke Lotte. Aber diese war allmählich dahintergekommen, daß tausend Briefe eine persönliche Liebkosung von Mutti nicht zu ersetzen vermochten. Und daß Mutti sie überhaupt nicht besuchen durfte, war eine arge Enttäuschung. Schwester Elfriede hatte es nicht immer leicht mit ihrer kleinen Patientin. Dabei hatte Annemarie die sanfte, stets freundliche Schwester mit dem sauberen Häubchen auf dem braunen Scheitel, die so geräuschlos im Zimmer waltete, von Herzen lieb gewonnen. Aber ein krankes Kind wird leicht eigenwillig. Und Doktors Nesthäkchen hatte schon vorher davon ein ganzes Teil in seinem hübschen Köpfchen.
Mutti durfte sie nicht besuchen, aber ein anderer weniger erwünschter Gast stellte sich ein – die Langeweile. Mit den Kleinkinderspielen, die sich in der Klinik vorfanden, wußte Annemarie nichts anzufangen, dazu war sie schon zu groß. Lesen sollte sie noch nicht, und immer konnte Schwester Elfriede doch auch nicht Geschichten erzählen. Der Mund tat ihr ja schon weh davon.
Draußen schlug der Aprilregen klatschend gegen die Fensterscheiben. Aber in Annemaries Krankenstübchen war es gemütlich. Bei der grünverhangenen Lampe saß Schwester Elfriede mit ihrer Stickarbeit. Annemarie ruhte in ihren weißen Kissen und – langweilte sich.
»Ha – uh – ah – uh –« sie gähnte aus Leibeskräften.
»Bist du schon müde, Herzchen, es ist noch nicht mal sechs Uhr. Vater war ja noch gar nicht zum Abendbesuch