Menschen, Göttern gleich. H. G. WellsЧитать онлайн книгу.
dieser Bau, daß er ein Teil des Berggesteins selber zu sein schien. Der Platz war gegen einen weiten, künstlichen See zu offen, der durch einen mächtigen Damm vor dem Unterlauf im Tale zurückgehalten wurde. Den Damm entlang standen in Zwischenräumen große Steinpfeiler, die vage an sitzende Gestalten erinnerten. Mr. Barnstaple erblickte jenseits eine weite Fläche, die ihn an die Po-Ebene erinnerte; doch dann, als sich das Flugzeug herabsenkte, verbarg die vor ihm aufsteigende gerade Linie des Dammes den weiteren Ausblick.
Auf diesen Terrassen, und besonders auf den tieferliegenden, standen dichte Gruppen von Gebäuden, die wie Blumen aussahen, und Fußwege, Stufen und Teiche erweckten den Eindruck, als ob der ganze Platz ein Garten sei.
Die Flugzeuge landeten glatt auf einer rasigen Fläche. In nächster Nähe war ein reizender Pavillon, der von den Gestaden des Sees ins Wasser hinausragte und einer kleinen buntfarbigen Flotte Gelegenheit zum Festmachen bot …
Es war Pater Amerton, der Mr. Barnstaple auf das Fehlen von Ortschaften aufmerksam gemacht hatte. Er bemerkte jetzt, daß keine Kirche zu sehen sei und daß sie nirgends Kirchtürme oder Glockentürme wahrgenommen hätten. Aber Mr. Barnstaple hielt einige kleinere Gebäude für Tempel oder heilige Stätten. »Die Religion dürfte hier andere Formen angenommen haben«, sagte er.
»Und wie wenig Säuglinge oder kleine Kinder zu sehen sind«, bemerkte Pater Amerton. »Ich habe nirgends eine Mutter mit ihrem Kind entdeckt.«
»Auf der anderen Seite des Gebirges war ein Platz, der aussah wie der Spielplatz einer großen Schule. Dort gab es Kinder und ein oder zwei ältere in Weiß gekleidete Leute.«
»Ich sah ihn, aber ich dachte an Säuglinge. Vergleichen Sie das mit dem, was man in Italien sehen würde.«
»Die schönsten und begehrenswertesten jungen Frauen«, ergänzte der geistliche Herr, »höchst begehrenswerte – und kein Zeichen von Mutterschaft!«
Ihr Flieger, ein sonnengebräunter Blonder mit sehr blauen Augen, half ihnen aus seiner Maschine, und sie beobachteten nun den Abstieg der anderen Mitglieder ihrer Gesellschaft. Mr. Barnstaple war erstaunt, wie ungeheuer schnell er sich an Farben und Harmonie dieser neuen Welt gewöhnt hatte; die merkwürdigsten Erscheinungen in dem ganzen Schauspiel waren für ihn nun die Gestalten und die Kleidung seiner Genossen. Mr. Rupert Catskill mit seinem berühmten grauen Zylinder, Mr. Mush mit seinem abgeschmackten Monokel, die seltsame hagere Länge von Mr. Burleigh und die vierschrötige Gestalt seines in braunes Leder gekleideten Chauffeurs erschienen Barnstaple noch viel unglaubwürdiger als die anmutigen Formen Utopias rings um ihn.
Das Interesse und die belustigte Miene des Fliegers verstärkten in Mr. Barnstaple den Eindruck von dem seltsamen Aussehen seiner Gefährten. Dann aber fühlte er tiefen Zweifel in sich aufsteigen.
»Ich nehme an, das ist wirklich real«, sagte er zu Pater Amerton.
»Wirklich real! Was sollte es denn sonst sein?«
»Ich meine, das alles ist kein Traum.«
»Ist es wahrscheinlich, daß Ihre Träume und die meinigen übereinstimmen?«
»ja, aber es gibt da ganz unmögliche Sachen – absolut unmögliche Sachen!«
»Zum Beispiel?«
»Nun, wie kommt es, daß diese Leute Englisch mit uns sprechen – modernes Englisch?«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Es ist tatsächlich eher unglaublich. Sie sprachen doch nicht Englisch untereinander.«
Mr. Barnstaple starrte Pater Amerton mit großen erstaunten Augen an, betroffen durch eine noch viel unglaublichere Tatsache, die ihm eben jetzt erst zu Bewußtsein kam.
»Sie sprechen in überhaupt keiner Sprache miteinander«, sagte er. »Und wir haben das bis zu diesem Augenblick gar nicht bemerkt.«
11
Mit Ausnahme der einen überraschenden Tatsache, daß alle Utopen die englische Sprache offenbar vollständig beherrschten, fand Mr. Barnstaple, daß sich seine Sicht dieser neuen Welt mit einer Folgerichtigkeit entwickelte, wie sie seiner bisherigen Erfahrung nach kein Traum je besessen hatte. Alles war so zusammenhängend, so geordnet, daß er immer weniger den Eindruck einer gänzlich fremdartigen Welt hatte, sondern vielmehr ein Gefühl wie bei der Ankunft in einem fremden, aber hochzivilisierten Land.
Unter Leitung der braunäugigen Frau in dem scharlachgeränderten Gewand wurden die Erdlinge in der denkbar gastlichsten und bequemsten Weise in Quartieren nahe dem Versammlungsort untergebracht. Fünf oder sechs Jünglinge und Mädchen bemühten sich darum, die Fremdlinge in die kleinen Einzelheiten utopischer Häuslichkeit einzuweihen. Die Gebäude, in die sie einquartiert waren, besaßen jedes ein angenehmes kleines Ankleidezimmer, und das Bett, das Bezüge von feinstem Leinen und eine sehr leichte, mollige Bettdecke hatte, stand in einer offenen Loggia – ›Zu offen‹, dachte Lady Stella, aber, wie sie sagte: »Man fühlt sich hier so sicher.« Das Gepäck erschien; jeder identifizierte seinen Koffer, als ob man auf irgendeinem gastlichen Herrensitz auf Erden wäre.
Aber Lady Stella mußte zwei fast allzu freundliche Jünglinge erst aus ihrem Gemach hinausweisen, bevor sie ihren Kleiderkoffer öffnen und sich zurechtmachen konnte.
Einige Minuten später wurde durch den Ausbruch eines wilden Gelächters und den Lärm eines freundschaftlichen, aber hysterischen Streites, der aus Lady Stellas Zimmer erscholl, einige Aufregung verursacht. Das Mädchen, das bei ihr zurückgeblieben war, hatte echt weibliches Interesse für ihre Ausstattung gezeigt und war auf ein besonders reizendes und durchsichtiges Schlafgewand gestoßen. Aus irgendeiner unerklärlichen Ursache amüsierte sich die junge Utopin herrlich über diese diskrete Köstlichkeit, und es fiel Lady Stella schwer, sie davon abzubringen, das Gewand anzulegen und hinauszutanzen, um sich öffentlich damit zu zeigen. »Dann müssen Sie es anziehen«, drängte das Mädchen.
»Aber Sie verstehen das nicht«, schrie Lady Stella, »das ist etwas fast – Heiliges! Das kann niemand sehen – niemals!«
»Aber warum nicht?« fragte die Utopin, über alle Maßen erstaunt.
Lady Stella fand eine Antwort darauf unmöglich.
Das leichte Mahl, das nun folgte, war für irdische Begriffe vollständig zufriedenstellend. Die Besorgnis Freddy Mushs hatte sich ganz und gar gelegt: Es gab kaltes Huhn, Schinken und eine sehr leckere Fleischpastete. Es gab auch ziemlich grobkörniges, aber sehr schmackhaftes Brot, reine Butter, einen ausgezeichneten Salat, Obst, Käse à la Gruyere und einen leichten Weißwein, dem Mr. Burleigh die Anerkennung zollte: »Ein Mosel könnte nicht besser sein.«
»Findet ihr unsere Nahrung der euren ähnlich?« fragte die Frau mit dem rotgeränderten Gewand.
»Exquisit!« sagte Mr. Mush mit ziemlich vollem Mund.
»Die Ernährungsweise hat sich in den letzten dreitausend Jahren sehr wenig verändert. Welche Nahrungsmittel die besten sind, hatte man schon lange vor dem letzten Zeitalter der Verwirrung herausgefunden.«
›Es ist zu echt, um wahr zu sein‹, wiederholte fortwährend Mr. Barnstaple zu sich selbst, ›es ist zu echt, um wahr zu sein.‹
Er blickte seine Begleiter freudig erregt, interessiert und mit Genuß essend an.
Wenn es nicht so widersinnig gewesen wäre, daß diese Utopen mit einer Deutlichkeit, die sich wie mit einem Hammer in seinem Kopf einprägte, Englisch sprachen, hätte Mr. Barnstaple keinerlei Zweifel an der Wirklichkeit seines Erlebnisses empfunden.
Keine Bedienten servierten am ungedeckten, steinernen Tisch; die Frau in dem weiß-roten Kleid und die beiden Flieger teilten das Mahl mit ihnen, und die Gäste waren einander behilflich. Mr. Burleighs Chauffeur hatte sich aus Bescheidenheit an einen anderen Tisch zurückgezogen, bis ihn der große Staatsmann ermutigte: »Setzen Sie sich hierher, Perk, neben Mr. Mush.«
Andere Utopen, welche die Erdlinge freundlich, aber mit scharf beobachtenden Augen musterten, kamen auf die große Säulenterrasse,