Weihnacht von Karl May. Karl MayЧитать онлайн книгу.
was auf unserm Tische stand
und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab,
setzte er sich noch selber zu ihnen hin und forderte uns auf:
»Kommen Sie auch her, meine Herren Studenten! Wir wollen uns mit diesen guten Leuten
über Amerika unterhalten. Vielleicht können wir Neues von drüben erfahren, da der Mann
dieser Frau geschrieben hat.«
»Interessieren Sie sich für Amerika?« fragte Carpio.
Er besaß nämlich eine große Vorliebe für das Land jenseits des atlantischen Oceanes, denn es
wohnte ein Verwandter von ihm drüben, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen.
Welchen Grades die Verwandtschaft war, hatte ich nie von ihm erfahren können. Er liebte es,
den amerikanischen Vetter so tief wie möglich zu verschleiern, und ließ aus diesem Dunkel
nur zuweilen drei einzelne Blitze hervorschießen, die mir nach und nach so bekannt wurden,
daß ich sie endlich selber auch hervorschießen lassen konnte: Erster Blitz – – El Dorado!
Zweiter Blitz – – Millionär! Dritter und hellster Blitz – – Universalerbe! Ob er diese Blitze
auch jetzt erscheinen lassen werde, darauf war ich sehr gespannt.
Franzl gestand aufrichtig, daß ihm die Gegend von Eger bis nach Karlsbad viel bekannter sei
als die vielen Staaten und Territorien der United-States of America, und so setzte sich mein
alter respektive sein neuer Busenfreund in Positur und ließ denjenigen Abschnitt unsers
»Lehrbuches für höhere Schülerklassen« los, welches von den Vereinigten Staaten handelte.
Er hatte ihn nämlich wegen der oben erwähnten drei Blitze auswendig gelernt. Er fand für
seinen Vortrag in Franzl einen sehr aufmerksamen, in mir einen sehr zerstreuten und in den
drei Fremden gar keinen Zuhörer, denn diese waren zu sehr mit sich selbst und der Stillung
ihres Hungers beschäftigt, als daß sie auf die trockenen Einwohnerzahlen der verschiedenen
See-, Fluß- und andern Städte hätten achten können.
Es war rührend, anzusehen, welche liebevolle Sorgfalt die Frau ihrem Vater widmete und wie
auch der Knabe ihm das Beste von dem anbot, was er auf seinem Teller liegen hatte. Der
Greis war so schwach, daß er sich kaum aufrecht halten konnte und wie ein Kind gespeist
werden mußte. Der Wein that ihm gut, doch essen konnte er nur wenig; er schien vor allem
der Ruhe, des Schlafes zu bedürfen, und wenn ich ihm so in das abgehagerte Gesicht blickte,
war es mir so, als ob dieser Schlaf sein letzter sein werde.
Die Frau hatte, ehe sie nach dem ersten Bissen langte, laut gebetet, und man sah es ihr dabei
an, daß sie das nicht unsertwegen, sondern aus Gewohnheit und Überzeugung that; am
Schlusse des Mahles betete sie wieder und bat dann den Wirt, ihren Vater zur Ruhe legen zu
dürfen. Da aber schüttelte der Alte den Kopf und sagte mit seiner müden, hohl klingenden
Stimme:
»Nein, laß mich noch sitzen, meine Tochter! Wir sind durch Sturm und Schnee und Frost
gewandert, als überall in den warmen Stuben die Weihnachtsbäume brannten. Wir mußten
weiter, immer weiter, von Ort zu Ort, ohne uns auch mit freuen zu dürfen. Ich habe euch kein
Licht anzünden und nichts schenken können; ihr mußtet frieren und hungern während der
heiligen Tage, und da ich euch nicht auch noch mit Thränen betrüben wollte, weinte ich sie in
mich hinein. Hier aber ist mir wohl; hier sind wir freundlich aufgenommen worden; hier ist es
warm, und wir sind satt; hier wollen wir unser Weihnachtsfest feiern!«
Seine Worte waren oft durch einen trockenen, quälenden Husten unterbrochen worden. Jetzt,
als er schwieg, faltete er die Hände und bewegte leise betend die Lippen. Die Frau legte ihre
Hände auch zusammen und weinte leise vor sich nieder. Der Knabe biß die Zähne zusammen
und sah uns an, im Zweifel darüber, wie wir uns verhalten würden, wenn er sein gewaltsam
unterdrücktes Schluchzen nicht mehr niederhalten könne. Er war ein wackerer, kleiner Kerl!
Der betende Greis kam mir jetzt nicht mehr wie ein Bettler vor. Wenn die Berge hoch zum
Himmel steigen, bedecken sie ihre Häupter mit Schnee, und wenn der Schnee des Alters den
Menschen krönt, ist er dem Himmel nahe; Himmelsnähe aber erweckt Ehrfurcht in jeder
fühlenden Menschenbrust. Der mit zitternden Lippen um Einlaß in den Himmel bittende Alte,
die still weinende Frau und der mit seinen Thränen kämpfende Knabe, sie waren für mich
ihrer Bettlerschaft entkleidet und zwangen mich, an die Schriftworte zu denken: »Wo zwei
oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Welchen
Eindruck machte die jetzige Situation gegen die kindische Heiterkeit, welche vorher hier
geherrscht hatte! Während draußen in der Abendkälte das Elend sich mühsam durch die
verschneiten Wege geschlichen hatte, waren wir beschäftigt gewesen, die Zeit mit
schülerhaften Witzen totzuschlagen. Ich schämte mich!
Der Wirt schien etwas ähnliches wie ich zu fühlen; er räusperte sich einigemal, wie um aus
einer inneren Verlegenheit herauszukommen, und sagte dann:
»Ja, ihr sollt hier Weihnachten feiern; ich thue es; ich hole ihn herein!«
Er ging in den Flur hinaus, und dann hörten wir ihn jenseits desselben eine Thür öffnen,
welche, wie wir später erfuhren, in das Wohnzimmer führte. Wer der »ihn« war, den er holen
wollte, sahen wir, als er einen buntbehangenen Christbaum getragen brachte, dessen Lichter
noch nicht ganz abgebrannt waren. Er stellte ihn auf den Tisch, bat uns, die Lichter
anzuzünden, und entfernte sich dann wieder. Der fremde Knabe sprang auf und bat uns mit
strahlenden Augen, uns helfen zu dürfen, ein Wunsch, den wir ihm natürlich mit Freuden
erfüllten.
Dann kam Franzl wieder. Er brachte einige Kleidungsstücke von sich und seiner Frau, auch
einen Kuchen und eine Wurst, welche er unter den Baum legte; dazu fügte er fünf blanke
Gulden, indem er sagte:
»Hier, das beschert euch das heilige Christkind, welches eure Thränen gesehen und euer
Gebet gehört hat. Bedankt euch bei ihm und nicht bei mir!«
Welch eine Freude gab es jetzt! Die Augen des Greises öffneten sich weit, um das Licht der
Weihnachtskerzen in sich aufzunehmen; die Frau weinte jetzt nicht mehr Schmerzens-,
sondern Freudenthränen, und der Knabe schlang seine Arme um ihren Hals, um das
Schluchzen, welches ihn jetzt von neuem übermannen wollte, an ihrer Brust zu verbergen. Ich
konnte nicht anders, ich mußte in die Tasche greifen und einen Gulden herausnehmen, den ich
zu den fünf des Wirtes legte. Als Carpio dies sah, sagte er leise zu mir: