Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt. Rudolf SteinerЧитать онлайн книгу.
Bewusstsein vom »Ich« ein; und dies hat die Lebendigkeit des Gedankens abgedämpft; es hat ihm seine Wahrnehmungskraft genommen. Man kann nur erkennen, wie das Weltanschauungsleben fortschreitet, wenn man durchschaut, wie der Gedanke, die Idee für Plato und Aristoteles in der Tat etwas ganz anderes waren als für die Persönlichkeiten des Mittelalters und der neuen Zeit. Der Denker des Altertums hatte das Gefühl, der Gedanke werde ihm gegeben; der Denker der späteren Zeit hat das Gefühl, er bilde den Gedanken; und so entsteht für ihn die Frage: Welche Bedeutung für die Wirklichkeit kann dasjenige haben, was in der Seele gebildet wird? Der Grieche empfand sich als Seele abgesondert von der Welt; im Gedanken suchte er sich mit der geistigen Welt zu verbinden; der spätere Denker fühlt sich mit seinem Gedankenleben allein. So entsteht das Nachforschen über die »allgemeinen Ideen«. Man fragt: Was habe ich in ihnen denn eigentlich gebildet? Wurzeln sie nur in mir, oder deuten sie auf eine Wirklichkeit? In den Zeiten, welche zwischen der alten Weltanschauungsströmung und der neueren liegen, versiegt das griechische Gedankenleben; unter der Oberfläche aber kommt an die Menschenseele als Tatsache das Ich-Bewusstsein heran; von der Mitte des Mittelalters an sieht sich der Mensch dieser vollzogenen Tatsache gegenüber, und durch ihre Kraft entwickelt sich die neue Art der Lebensrätsel.
Realismus und Nominalismus sind das Symptom dafür, dass der Mensch die vollzogene Tatsache empfindet. Wie beide über den Gedanken sprechen, das zeigt, dass dieser gegenüber seinem Dasein in der griechischen Seele so abgeblasst, abgedämpft war, wie in der Seele des griechischen Denkers es die alte Bildvorstellung war. Hiermit ist auf das treibende Element hingewiesen, das in den neueren Weltanschauungen lebt.
In diesen wirkt eine Kraft, welche über den Gedanken hinaus nach einem neuen Wirklichkeitsfaktor strebt.
Man kann dieses Streben der neueren Zeit nicht als dasselbe empfinden, was das Hinausstreben über den Gedanken in alter Zeit bei Pythagoras, später bei Plotin war. Diese streben wohl auch über den Gedanken hinaus, aber sie stellen sich vor, dass die Entwicklung der Seele, deren Vervollkommnung, sich die Region erringen müsse, welche über den Gedanken hinausliegt. Die neuere Zeit setzt voraus, dass der über den Gedanken hinausliegende Wirklichkeitsfaktor der Seele von außen gegeben werden müsse, dass er an sie herankommen müsse.
Die Weltanschauungsentwicklung wird in den Jahrhunderten, welche auf die Zeit des Nominalismus und Realismus folgen, zu einem Suchen nach dem neuen Wirklichkeitsfaktor. Ein Weg unter denen, die sich dem Beobachter dieses Suchens zeigen, ist derjenige, welchen die mittelalterlichen Mystiker eingeschlagen haben: Meister Eckhard (gest. 1327), Johannes Tauler (gest. 1361), Heinrich Suso (gest. 1366). Am anschaulichsten wird dieser Weg durch die Betrachtung der sogenannten »Theologia deutsch«, die von einem geschichtlich nicht bekannten Verfasser herrührt. Diese Mystiker wollen in das Ich-Bewusstsein etwas hineinempfangen, es mit etwas erfüllen. Sie streben deshalb ein inneres Leben an, das »ganz gelassen« ist, das sich in Ruhe hingibt, und das so erwartet, wie sich das Innere der Seele erfülle mit dem »göttlichen Ich«. In späterer Zeit taucht eine ähnliche Seelenstimmung mit mehr Schwungkraft des Geistes auf bei Angelus Silesius (1624-1677).
Einen anderen Weg schlägt Nicolaus Cusanus (Nikolaus Chrypffs, geboren zu Kues an der Mosel 1401, gestorben 1464) ein. Er strebt über das gedanklich erreichbare Wissen hinaus zu einem Seelenzustand, in dem dies Wissen aufhört und die Seele ihrem Gotte in der »wissenden Unwissenheit«, der docta ignorantia, begegnet. Äußerlich betrachtet hat das viel Ähnlichkeit mit dem Streben des Plotin.
Doch ist die Seelenverfassung bei den beiden Persönlichkeiten verschieden. Plotin ist überzeugt, dass in der Menschenseele mehr liege als die Gedankenwelt. Wenn die Seele die ihr außerhalb des Gedankens eignende Kraft entwickelt, so gelangt sie wahrnehmend dahin, wo sie immer ist, ohne im gewöhnlichen Leben davon zu wissen; Cusanus fühlt sich mit seinem »Ich« allein; dieses hat in sich keinen Zusammenhang mit seinem Gotte. Der ist außer dem »Ich«. Das »Ich« begegnet ihm, wenn es die »wissende Unwissenheit« erreicht.
Paracelsus (1493-1541) hat bereits die Empfindung gegenüber der Natur, welche sich in der neueren Weltanschauung immer mehr herausbildete, und die eine Wirkung der sich im Ich-Bewusstsein vereinsamt fühlenden Seele ist. Er richtet den Blick auf die Naturerscheinungen. So wie sich diese darstellen, können sie von der Seele nicht hingenommen werden; aber auch der Gedanke, der bei Aristoteles in ruhigem Verkehr mit den Naturerscheinungen sich entfaltete, kann nicht so hingenommen werden, wie er in der Seele auftritt. Er wird nicht wahrgenommen; er wird in der Seele gebildet. Man muss den Gedanken nicht selbst sprechen lassen, so empfand Paracelsus; man muss voraussetzen, dass hinter den Naturerscheinungen etwas ist, was sich enthüllt, wenn man sich in das rechte Verhältnis zu ihnen bringt. Man muss von der Natur etwas empfangen können, was man in ihrem Anblick nicht selbst bildet wie den Gedanken. Man muss mit seinem Ich durch einen anderen Wirklichkeitsfaktor zusammenhängen als durch den Gedanken. Eine »höhere Natur« hinter der Natur sucht Paracelsus. Seine Seelenstimmung ist so, dass er nicht etwas in sich allein erleben will, um zu den Gründen des Daseins zu kommen, sondern dass er sich gleichsam mit seinem Ich in die Naturvorgänge hineinbohren will, um sich unter der Oberfläche der Sinneswelt den Geist dieser Vorgänge offenbaren zu lassen. Hinunterdringen in die Tiefen der Seele wollten die Mystiker des Altertums; dasjenige unternehmen, was in der Außenwelt zur Begegnung mit den Wurzeln der Natur führt, wollte Paracelsus.
Jacob Böhme (1575-1624), der als einsamer, verfolgter Handwerker ein Weltbild wie aus innerer Erleuchtung heraus sich bildete, trägt doch in dieses Weltbild den Grundcharakter der neueren Zeit hinein.
Ja, er entwickelt sogar in der Einsamkeit seines Seelenlebens diesen Grundcharakter besonders eindrucksvoll, weil ihm die innere Zweiheit des Seelenlebens, der Gegensatz des Ich und der anderen Seelenerlebnisse, vor das geistige Auge tritt. Das »Ich« erlebt er, wie es sich in dem eigenen Seelenleben den inneren Gegensatz schafft, wie es sich in der eigenen Seele spiegelt. Dieses innere Erlebnis findet er dann in den Weltvorgängen wieder. Er sieht in diesem Erlebnis einen durch alles hindurchgehenden Zwiespalt. »In solcher Betrachtung findet man zwei Qualitäten, eine gute und eine böse, die in dieser Welt in allen Kräften, in Sternen und Elementen, sowohl in allen Kreaturen ineinander sind.« Auch das Böse in der Welt steht dem Guten als sein Widerschein gegenüber; das Gute wird sich in dem Bösen erst selbst gewahr, wie sich das Ich in seinen Seelenerlebnissen gewahr wird.
Die Weltanschauung des jüngsten Zeitalters der Gedankenentwicklung
Dem Aufblühen der Naturwissenschaft in der neueren Zeit liegt dasselbe Suchen wie J. Böhmes Mystik zugrunde. Es zeigt sich dies an einem Denker, welcher unmittelbar aus der Geistesströmung herausgewachsen ist, die in Kopernikus (1473-1543), Kepler (1571-1630), Galilei (1564-1642) und anderen zu den ersten großen naturwissenschaftlichen Errungenschaften der neueren Zeit führte. Es ist Giordano Bruno (1548-1600). Wenn man betrachtet, wie er die Welt aus unendlich vielen kleinen belebten und sich seelisch erlebenden Urwesen bestehen lässt, den Monaden, die unentstanden und unvergänglich sind, und die in ihrem Zusammenwirken die Naturerscheinungen ergeben, so könnte man versucht sein, Giordano Bruno mit Anaxagoras zusammenzustellen, dem die Welt aus den Homoiomerien besteht. Und doch ist zwischen beiden ein bedeutsamer Unterschied. Dem Anaxagoras entfaltet sich der Gedanke der Homoiomerien, indem er sich der Welt betrachtend hingibt; die Welt gibt ihm diesen Gedanken ein. Giordano Bruno fühlt: Was hinter den Naturerscheinungen liegt, muss als Weltbild so gedacht werden, dass das Wesen des Ich in dem Weltbilde möglich ist. Das Ich muss eine Monade sein, sonst könnte es nicht wirklich sein. So wird die Annahme der Monaden notwendig. Und weil nur die Monade wirklich sein kann, sind die wahrhaft wirklichen Wesen Monaden mit verschiedenen inneren Eigenschaften. Es geht in den Tiefen der Seele einer Persönlichkeit wie Giordano Bruno etwas vor, was nicht voll zum Bewusstsein derselben kommt; die Wirkung dieses inneren Vorganges ist dann die Fassung des Weltbildes. Was in den Tiefen vorgeht, ist ein unbewusster Seelenprozess: Das Ich fühlt, es muss sich selbst so vorstellen, dass ihm die Wirklichkeit verbürgt ist; und es muss die Welt so vorstellen, dass es in dieser Welt wirklich sein kann. Giordano Bruno muss sich die Vorstellung der Monade bilden, damit beides möglich ist. In Giordano Bruno kämpft im Weltanschauungsleben der neueren Zeit das Ich um sein Dasein in der Welt. Und der Ausdruck dieses Kampfes ist die Anschauung: Ich bin eine Monade; eine solche ist unentstanden und unvergänglich.
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