Rudyard Kipling - Gesammelte Werke. Rudyard KiplingЧитать онлайн книгу.
ein schlechtgewichtiger Säbel. Wart, bis sie die Köpfe erheben vom Abweiden der Butterblumen.«
»Warum das?« fragte Holden erstaunt.
»Als Erstgeburtsopfer. Wozu sonst? Das Kind bleibt unbeschirmt gegen das Schicksal, wenn man es unterläßt, und könnte sterben. Du wirst, Beschützer der Armen, die Worte schon finden, die man dazu sagen muß.«
Holden hatte sie einmal auswendig gelernt; er hatte damals natürlich nie daran gedacht, daß er sie jemals gebrauchen würde. - Die Berührung des Säbelknaufs in seiner Hand fühlte sich plötzlich an wie der Griff der winzigen Hand - vorhin, dort oben im Zimmer - des Kindes, das sein Sohn war -, und eine wilde Furcht, es könne ihm entrissen werden, überfiel Holden.
»Schlag zu!« rief Pir Khan. »Noch nie ist Leben in die Welt gekommen, es sei denn Leben dafür gegeben worden. Da: die Ziegen erheben ihre Köpfe! Jetzt! Und beim Schlag die Klinge ziehen!«
Holden begriff kaum, was er tat, als er zweimal zuschlug und dabei das mohammedanische Gebet hermurmelte, das da lautet: »Allmächtiger! An Statt meines Sohnes bring ich dir dar: Leben für Leben, Blut für Blut, Haupt für Haupt, Bein für Bein, Haar für Haar, Haut für Haut.« Das Pferd draußen schnaubte und bäumte sich am Halfter beim Geruch des rauchenden Blutes, das Holdens Reitstiefel von oben bis unten bespritzt hatte.
»Gut getroffen«, lobte Pir Khan und wischte die Klinge ab. »Ein Mann des Schwertes ist an dir verlorengegangen. Ziehe hin mit befreitem Gemüt, Himmelsentsprossener. Ich bin dein Diener und der Diener deines Sohnes. Möget ihr leben tausend Jahr und – gehört das ganze Fleisch der Ziegen mir?« Pir Khan zog sich zurück, um einen Monatslohn reicher. Holden schwang sich in den Sattel und ritt dahin durch den Holzrauch des Abends. Ein schwärmerisches Frohlocken erfüllte ihn, gemischt mit einer vagen Zärtlichkeit, die zwar niemand galt, ihn aber fast jauchzen machte, wie er sich so über den Hals seines aufgeregten Pferdes beugte. »Niemals im Leben habe ich ähnliches gefühlt«, dachte er bei sich, »ich werde in den Klub gehen und ausgelassen sein.«
Man hatte sich soeben zum Billardspiel begeben, und das Zimmer war voll Herren. Holden trat ein, um endlich helles Licht zu sehen und Freunde, und sang aus vollem Halse:
»In Baltimore am Korso - eine Lady traf ich dort!«
»So? Haben Sie das?« sagte der Sekretär des Klubs aus seiner Rauchecke heraus. »Hat sie Ihnen denn nicht gesagt, daß Ihre Stiefel patschnaß sind? Meine Güte, Mensch! Es ist ja Blut!«
»Ach was!« sagte Holden und nahm sein Queue vom Ständer, »darf man mitspielen? Tau ist's. Ich bin durch hohes Gras geritten. Oder meinetwegen: wahrscheinlich haben meine Stiefel Blutwurst zu Mittag gegessen.« Er trällerte:
»Ist's ein Mädel, kriegt's nen Trauring;
Wird's ein Bub, wird er Soldat,
Oder geht auf Deck spazieren
Als Matrose oder Maat –«
»Gelb auf Blau, Grün kommt dran«, sagte der Markeur mit monotoner Stimme.
»Geht auf Deck spazieren. - So? Ich habe Grün? - Als Matrose oder - pfui Teufel, ein Gickser - als Matrose oder Maat.«
»Sie haben, weiß Gott, keinen Grund, zu krächzen«, meinte ein junger Streber von Zivilbeamten giftig, »die Regierung soll nicht besonders erbaut gewesen sein von Ihrer Tätigkeit bei Sanders drüben!«
»Oh! Eine Nase aus dem Hauptquartier?« sagte Holden mit einem geistesabwesenden Lächeln, »nun, ich werde mich zu trösten wissen.«
Das Gespräch wurde allgemein; es drehte sich immer um dasselbe Thema: Beruf und Amt, und hielt Holden fest, bis es Zeit zum Aufbruch wurde. Dann ging er in seinen dunkeln, leeren Junggesellen-Bungalow, wo ihn sein Diener mit dem Gesicht eines Menschen empfing, der alles weiß. Holden blieb fast die ganze Nacht wach und baute Luftschlösser.
II
»Wie alt ist er jetzt?«
»Ya illah! So kann auch nur ein Mann fragen! Rund sechs Wochen ist er alt, und heut nacht noch gehe ich aufs Dach hinauf mit dir, mein Leben, um die Sterne zu zählen, denn das bringt Glück. Er ist an einem Freitag geboren und im Zeichen der Sonne. Man hat mir gesagt, er wird uns beide überleben und zu großem Reichtum gelangen. Können wir uns Besseres wünschen, Geliebter?«
»Nein, etwas Besseres gibt es nicht! Komm, gehen wir auf das Dach hinauf, und du sollst die Sterne zählen. Aber viel werden es nicht sein: der Himmel ist voller Wolken.«
»Die Winterregen sind heuer spät dran, fast schon nach der Saison. Also komm, ehe die Sterne ganz verschwinden! Ich habe meine besten Juwelen angelegt.«
»Das Beste von allem hast du aber vergessen!«
»Ai! Richtig! Unser Juwel! Er kommt mit. Er hat noch nie den Himmel gesehen.«
Ameera klomm die schmale Leiter hinauf, die empor zum flachen Dache führte, und in ihrem Arm lag, still und mit weit offenen Augen, das Kind, eingehüllt in silberdurchwirkten Musselin, auf dem Köpfchen eine kleine Haube. Ameera trug allen Schmuck, den sie besaß: den diamantenen Nasenknopf, der wie das europäische Schönheitspflästerchen den Zweck hat, die feine Schweifung der Nüstern zu betonen, den goldenen Zierat mitten auf der Stirn, besetzt mit Smaragd- und Rubintropfen, die schwere Halskette aus gehämmertem Gold, die sich weich an ihren Nacken schmiegte, und die klirrenden, getriebenen Silberreifen um die zarten, schlanken Fußknöchel. Sie war gekleidet in jadegrünen Musselin, wie es sich geziemt für eine Tochter aus dem Stamme der Gläubigen. Von Schulter zu Ellbogen und vom Ellbogen zum Gelenk liefen Braceletts aus Florettseide, mit Silberfäden durchzogen, und zarte Glasarmbänder fielen auf die Hand herab, um ihre Schmäle zu zeigen. Dazwischen schwere goldene Armreifen, die zwar keine Ornamente nach dem Geschmack der Asiaten zeigten, aber ein Geschenk Holdens waren und - versehen mit schönen europäischen Schlössern - Ameeras besondere Freude bildeten.
Sie setzten sich beide auf das weiße, niedrige Ruhebett auf dem Dache und blickten hinab auf die Stadt mit den vielen Lichtern.
»Sicher sind sie glücklich, die da unten«, sagte Ameera, »aber so glücklich wie wir können sie nicht sein. Ich glaube auch nicht, daß die weißen mem-log glücklich sind. Was, meinst du?«
»Sie sind es gewiß nicht.«
»Woher weißt du das?«
»Sie überlassen ihre Kinder den Ammen.«
»Ich habe das noch nie gesehen«, sagte Ameera mit einem tiefen Seufzer, »ich möchte es auch nie sehen. Ahi!« Sie ließ ihren Kopf auf Holdens Schulter sinken, »ich habe vierzig Sterne gezählt und bin so müde jetzt. Schau: das Kind! Es zählt auch, du Licht meines Lebens!«
Mit runden Augen starrte das Baby in die Dunkelheit des Firmamentes hinein. Ameera legte es Holden in den Arm; es blieb dort ruhig liegen, ohne zu schreien, oder zu weinen.
»Wie werden wir ihn nennen?« fragte sie. »Schau ihn an! Könntest du jemals müde werden, ihn anzusehen?! Er hat ganz deine Augen. Nur der Mund -«
»Ist von dir, Liebling. Wer wüßte das besser als ich?«
»So ein kleines Mündchen! Und doch hält es mein Herz zwischen den Lippen. Gib ihn mir wieder jetzt! So lange schon hab ich ihn nicht gehabt.«
»Nein, laß ihn noch; er hat noch nicht angefangen zu weinen.«
»Freilich, wenn er weint, dann gibst du ihn zurück - eh? Was ihr Männer doch für ein Volk seid! Je mehr er schreit, desto lieber hab ich ihn. Also: mein Leben, wie sollen wir ihn nennen?«
Hilflos und fest angeschmiegt lag der kleine Körper an seines Vaters Herzen; Holden wagte kaum zu atmen, um ihm nicht wehe zu tun. Der grüne Papagei im Käfig - der gute Geist des Hauses nach der Meinung der Eingeborenen - bewegte sich auf der Stange und schüttelte schlaftrunken sein Gefieder.
»Da haben wir die Antwort«, rief Holden. »Mian Mittu hat gesprochen! Mian Mittu, so heißt doch der Papagei in deiner - in der Sprache der Moslim - nicht wahr? - So soll auch der Namen des Kleinen